Europäischer Binnenmarkt

Aus HWB-EuP 2009

von Norbert Reich

1. Grundlagen

Der durch die sog. „Einheitliche Europäische Akte“ (EEA) von 1987 eingeführte Begriff des Binnenmarktes setzt eine Tendenz in der frühen Rechtsprechung des EuGH (Rs. 15/81 – Gaston Schul, Slg. 1982, 1409, Rn. 33) fort, den „Gemeinsamen Markt“ als System zur Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel zu begreifen „mit dem Ziele der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes [Hervorhebung durch den Verfasser] möglichst nahekommen“. Exemplarisch war die Cassis-Entscheidung (EuGH Rs. 120/78 – Rewe Zentral/ Bundesmonopolverwaltung, Slg. 1979, 649), wonach gemäß Art. 28 EG/34 AEUV (früher Art. 30 EWGV) grundsätzlich den in einem Mitgliedstaat rechtmäßig auf den Markt gebrachten Waren der gesamte Gemeinsame Markt offen stehen sollte, sofern dem nicht „zwingende“ mitgliedstaatliche Erfordernisse des Verbraucher-, Lauterkeits- und Gesundheitsschutzes sowie der fiskalischen Kontrolle entgegenstünden. Daraus hatte die Europäische Kommission das Prinzip der „gegenseitigen Anerkennung“ von Produktstandards hergeleitet und in ihrem Weißbuch vom 14.6.1985 diesen Grundsatz aufgegriffen, um den Binnenmarkt zu „vollenden“ (KOM(1985) 310 endg.). Die Kommission führt darin aus:

„In den Fällen, in denen eine Harmonisierung der Vorschriften und Normen nicht aus gesundheits-, sicherheits- und industriepolitischen Gründen als wesentlich angesehen wird, muss die sofortige uneingeschränkte Anerkennung unterschiedlicher Qualitätsnormen ... die Regel sein“.

Das Prinzip der Anerkennung der Produktstandards des Ursprungslandes für den Warenverkehr in der gesamten Europäischen Gemeinschaft ist primär für Qualitäts-, Kennzeichnungs- und Verpackungsregelungen im Bereich des freien Warenverkehrs entwickelt worden. Dieses Prinzip wurde später als – wenn auch nicht unbeschränktes – sog. Herkunftslandprinzip auf alle Verkehrsfreiheiten (Grundfreiheiten), insb. im Bereich des Dienstleistungsverkehrs (Dienstleistungsfreiheit) und der freien Niederlassung (Niederlassungsfreiheit) erweitert. In der Literatur wurde auf seinen kollisionsrechtlichen Gehalt verwiesen, was zu einen „Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt“ führen könne. Dieses kollisionsrechtliche Verständnis der Verkehrsfreiheiten gilt allerdings nur für sog. „Binnenmarktsachverhalte“ und widerspricht damit in gewisser Weise dem Universalismus von Konfliktregelungen des Kollisionsrechts.

Die EEA kodifizierte das Binnenmarktkonzept in Art. 14(2) EG/26(2) AEUV, wo sie das Ziel der Vollendung des Binnenmarktes (damals zum 31.12.1992) im Sinne eines umfassenden freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital festschrieb. Dieses Konzept hat zwar keine Direktwirkung, findet sich aber als Auslegungsprinzip in der neuen Rechtsprechung des EuGH wieder. Die EEA schuf hierfür besondere Kompetenznormen für die Gemeinschaft, die eine Mehrheitsentscheidung im Ministerrat, verbunden mit einem qualifizierten Vetorecht des Parlaments, durch das sog. Zusammenarbeitsverfahren nach Art. 149 EWGV ermöglichte. Ein neuer Art. 100a EWGV (jetzt Art. 95 EG/114 AEUV) übertrug dem Ministerrat in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament umfassende Kompetenzen zum Erlass von „Maßnahmen“ zur Errichtung und zum Funktionieren des Binnenmarktes.

Der Vertrag von Amsterdam führte hierfür das Verfahren der Mitentscheidung von Parlament und Rat nach Art. 251 EG ein. Der Vertrag von Lissabon hält an diesem Verfahren zur Verwirklichung des Binnenmarktes fest, Art. 294 AEUV.

2. „Negativ-“ vs. „Positivintegration“

Der Binnenmarktgrundsatz hat nach Erlass der EEA sowohl im Primärrecht zu den Grundfreiheiten als auch im Sekundärrecht auf der Grundlage von Art. 95 EG/114 AEUV eine ungeahnte Dynamik entfaltet. Er zeigt sich in zwei Richtungen, die in der Literatur als „Negativ“- bzw. „Positivintegration“ bezeichnet werden. Damit ist das spezifische Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu mitgliedstaatlichen Regelungen gemeint, sofern sie sich auf die Verkehrsfreiheiten auswirken. Sie hat auch Auswirkungen auf Privatrechtsverhältnisse durch den Grundsatz der (beschränkten) „horizontalen Direktwirkung“.

a) „Negativintegration“

Unter Negativintegration werden zunächst alle gemeinschaftlichen Maßnahmen begriffen, die eine Beseitigung oder Reduzierung staatlicher Hemmnisse für den Binnenmarkt zum Ziel haben oder bereits bewirken. Im Vordergrund der Betrachtung steht dabei die Rechtsprechung des EuGH, die den Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Warenverkehrs-, Personen- (sowohl Arbeitnehmer als auch Selbständige [Niederlassungsfreiheit], später Unionsbürger [Unionsbürgerschaft]), Dienstleistungs- und Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) Direktwirkung zuerkennt und hieran Beschränkungs- und Diskriminierungswirkungen (Diskriminierungsverbot) staatlicher Maßnahmen misst. Diese außerordentlich umfangreiche EuGH-Rechtsprechung ist hier nicht im Einzelnen darzustellen. Sie bewirkt zunächst, dass eine staatliche Regelung, deren Nichtkonformität mit dem Binnenmarkt feststeht oder festgestellt ist, nicht weiter von staatlichen Gerichten und sonstigen Institutionen angewendet werden kann (Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts). Von nachteiligen staatlichen Maßnahmen betroffene Personen (EU-Unternehmen wie Unionsbürger) können sich auf die Direktwirkung der Verkehrsfreiheiten als „subjektive Rechte“ vor staatlichen Gerichten berufen und so erreichen, dass ihren wirtschaftlichen oder (soweit geschützt) persönlichen Belangen Vorrang vor entgegenstehenden staatlichen Regelungen eingeräumt wird; gegebenenfalls können sie sogar Schadenersatzansprüche gegen den Mitgliedstaat vorbringen, der in „hinreichend qualifizierter“ Weise gegen drittschützendes Gemeinschaftsrecht verstoßen hat (Grundsatz des effektiven individuellen Rechtsschutzes).

Die Wirkung des Gemeinschaftsrechts ist „negativ“ insoweit, als es nicht selbst die Standards des mitgliedstaatlichen Rechts festsetzt, die an Stelle der früheren treten sollen, die mit dem Gemeinschaftsrecht kollidieren. Das Prinzip der „gegenseitigen Anerkennung“ modifiziert diese Negativwirkung insoweit, als es voraussetzt, dass ein Produkt – später auch eine Dienstleistung – wenigstens den Standards des Herkunfts- bzw. Ursprungstaates entsprechen muss, um im Binnenmarkt frei zirkulieren zu können. Insoweit hat der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung als Grundlage des Binnenmarktrechts nach der oben erwähnten Cassis-Entscheidung auch eine mittelbare „Positivwirkung“, er überlässt den Mitgliedstaaten darüber hinaus noch einen gewissen, nach Maßgabe des vom EuGH überprüften Verhältnismäßigkeitsprinzips auszuübenden Spielraum, um entscheiden zu können, ob diese Standards vorrangigen Allgemeininteressen entsprechen, ohne protektionistisch zu wirken. Der Katalog der vom Gemeinschaftsrecht anerkannten „zwingenden“ Allgemeininteressen ist über die Cassis-Entscheidung hinausgehend etwa auch auf Belange des Umweltschutzes und des Sozialschutzes von Arbeitnehmern erweitert worden, schließt aber rein ökonomische Gründe der Rechfertigung aus.

Die auf Art. 95 EG/114 AEUV gestützte Binnenmarktgesetzgebung führt diese Prinzipien weiter und konkretisiert sie anhand des jeweiligen, hier nicht im Einzelnen darzustellenden Politikfeldes. Ihr geht es immer auch um Abbau von Handelshemmnissen, was vor allem durch eine sog. Binnenmarktklausel in den maßgebenden Richtlinien erreicht werden soll: entspricht ein Produkt, eine Dienstleistung, eine personenspezifische Maßnahme den Standards der Richtlinie, so sollen sie vom Empfangs- bzw. Tätigkeitsstaat nicht mit zusätzlichen Auflagen und Beschränkungen versehen werden, sofern nicht entsprechende Schutzklauselverfahren vorgesehen und eingehalten sind (EuGH Rs. C-470/03 – AGM COS.MET, Slg. 2007, I-2749). Diese „Negativwirkung“ einer Richtlinie wirkt ebenfalls „direkt“ zugunsten von Unternehmen und Unionsbürgern gegenüber dem Staat, der etwa eine Gemeinschaftsmaßnahme nicht korrekt oder nicht rechtzeitig umgesetzt hat. Insoweit verlängern sich subjektive Rechte auch in den Bereich des Sekundärrechts hinein, sofern die Position von (natürlichen und juristischen) Personen betroffen ist, die den Schutz des Unionsrechts genießen (sog. vertikale Direktwirkung von Richtlinien).

b) „Positivintegration“

Positivintegration bezeichnet den Prozess des Unionsrechts, anstelle einzelstaatlicher Schutznormen in den Bereichen Produktsicherheit, Verbraucher- und Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte u.ä., solche auf Gemeinschaftsebene zu setzen. Hierfür kommen typischerweise Maßnahmen nach Art. 95 EG/114 AEUV zur Binnenmarktverwirklichung in Betracht, der insoweit eine Doppelfunktion im Sinne der beschriebenen „Negativ-„ und Positivintegration“ hat. Die Rspr. des EuGH (Rs. C-359/92 – Bundesrepublik/Rat, Slg. 1994, 3684) hat diese „Doppelwirkung“ des Binnenmarktkonzepts für den Bereich Produktsicherheit schon frühzeitig anerkannt und damit der Gemeinschaft die Kompetenz zuerkannt, Regelungen und Verfahren für die Produktsicherheit im Binnenmarkt zu setzen, auch wenn sie zu Freiverkehrshindernissen führen:

„Der freie Warenverkehr kann nämlich nur garantiert werden, wenn die Sicherheitsanforderungen für die Produkte in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht erheblich voneinander abweichen.” (Rn. 34, 37).

Diese Rechtsprechung findet in anderen Bereichen ihre Entsprechung, etwa für den Insolvenzschutz von Pauschalreisenden (EuGH Rs. C-178/94 – Dillenkofer, Slg. 1996, I-4845, Rn. 36-39), für den Gesundheitsschutz (EuGH Rs. C-380/03 – Bundesrepublik/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 93), allerdings ohne Verpflichtung, das jeweils höchste in einem Mitgliedstaat bestehenden Schutzniveau festzuschreiben (EuGH Rs. C-233/94 – Bundesrepublik/ Rat, Slg. 1997, I-2405 betreffend die Einlagensicherungs-RL [RL 94/19]). Sie kann gelegentlich zur Anhebung des Schutzniveaus einer bestimmten Richtlinie dienen, etwa hinsichtlich des Ersatzes des Nichtvermögensschadens von Pau-schalreisenden (EuGH Rs. C-168/00 – Leitner, Slg. 2002, I-2631), der in der Pauschalreise-RL (RL 90/314) nicht ausdrücklich vorgesehen war.

3. Binnenmarkt und Privatrecht (Sachrecht)

Die Bedeutung des Binnenmarktes für das Privatrecht ist noch weitgehend unausgelotet. Um hier ein besseres Verständnis zu gewinnen, empfiehlt sich eine Anknüpfung an die oben eingeführte Differenzierung von „Negativ-“ und „Positivintegration“; auf die „horizontale Direktwirkung“ der Grundfreiheiten des Binnenmarktes wird unter 5. eingegangen:

a) Die „kassatorische“ Wirkung des Binnenmarktes i.S. einer Negativintegration

Da es dem Binnenmarktkonzept generell und den Grundfreiheiten speziell um die Beseitigung von Verkehrshindernissen und Wettbewerbsverzerrungen geht, kommt es mit Privatrecht nur dann in Konflikt, wenn es auf zwingenden oder halbzwingenden, die schwächere Partei begünstigenden Regeln beruht. Soweit die Parteien privatautonom das Recht wählen können, vermögen auch zwingende, aber abwählbare Regeln kein Freizügigkeitshemmnis zu errichten (EuGH Rs. C-339/89 – Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107; ähnlich EuGH Rs. C-93/92 – CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009). Diese Haltung des EuGH ist gelegentlich kritisiert worden, weil auch abwählbare Rechtsnormen ein Freizügigkeitshemmnis darstellen können, da sie einer oder beiden Partei(en) zusätzliche Transaktionskosten bei der Wahl des für sie akzeptablen oder günstigen Rechts aufbürden, die ihre Mobilität hindern. Dieses Argument scheint aber angesichts des auch hier bestehenden Vorrangs der Privatautonomie nicht überzeugend, zumal die Beschränkungswirkung von zusätzlichen Transaktionskosten kaum nachvollziehbar und messbar ist.

Im Bereich des Sekundärrechts ergeben sich dort „Negativwirkungen“, wo das (noch bestehende oder künftig erlassene) mitgliedstaatliche Privatrecht aufgrund des Harmonisierungsumfangs des Gemeinschaftsrechts verdrängt wird. Dies hat der EuGH (etwa Rs. C-402/02 – Skov, Slg. 2006, I-199) in einer höchst kontroversen Rechtsprechung im Zusammenhang mit Regelungen des mitgliedstaatlichen Produkthaftungsrechts angenommen, das über die Vorgaben der Produkthaftungs-RL (RL 85/374) hinausgeht, etwa durch Einbeziehung einer verschuldensunabhängigen Haftung des Verkäufers, die in der Richtlinie nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen stattgreift. Die neue Ten-denz der EG-Gesetzgebung, grundsätzlich das Prinzip der Vollharmonisierung an die Stelle einer Mindestharmonisierung zu setzen, etwa im Bereich des Verbraucherkreditrechts, verstärkt diese Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts, zumindest im angeglichenen Bereich (EuGH verb. Rs. C-34/95, C-35/95 und C-36/95 – De Agostini, Slg. 1997, I-3843).

In der neuen Rs. C-205/07 – Gysbrechts, EuZW 2009, 115 geht es um die weit komplexere Frage, inwieweit auch im Bereich der Mindestharmonisierung des Verbrauchervertragsrechts der Vorrang der Verkehrsfreiheiten – hier des Verbots der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen nach Art. 29 EG/35 AEUV –, weitergehenden mitgliedstaatlichen Schutzregelungen Grenzen setzt. Die Rspr. des EuGH hatte bislang das Prinzip der Mindestharmonisierung nicht beanstandet (zuletzt Rs. C-71/02 – Karner, Slg. 2004, I-3025). In Gysbrechts deutet sich jedoch eine Änderung an, die vor allem in den Schlussanträgen der GA Trstenjak vom 10.7.2008 entwickelt wurde: zwar können die Mitgliedstaaten ein Anzahlungsverbot vor Ablauf der Widerrufsfrist aufrechterhalten; sie dürfen es aber dem Lieferanten nicht verbieten, vom Verbraucher die Nummer seiner Kreditkarte zu verlangen. Nicht klar und vom EuGH offen gelassen ist allerdings, wie der Verbraucher gegen Missbrauch mit der Verwendung seiner Kreditkartennummer geschützt sein soll.

b) Binnenmarkt und „hohes Schutzniveau“

Im Verfolg der grundlegenden Binnenmarktkompetenz geht die Europäische Kommission in ihren Vorschlägen in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem „hohen Schutzniveau“ aus, Art. 95(3) EG/114(3) AEUV. Dem entsprechen die verschiedenen sog. Querschnittsklauseln, etwa im Bereich Verbraucherschutz nach Art. 153(2) EG/12 AEUV, auch wenn der Hinweis auf ein „hohes Schutzniveau“ fehlt. Allerdings kommt dieser Regelung keine Bindungswirkung zu; sie hat lediglich Bedeutung für die Auslegung des Sekundärrechts (EuGH Rs. C-350/03 – Schulte, Slg. 2005, I-9215).

Auf die Binnenmarktkompetenz können bestimmte, selektiv-instrumentelle Maßnahmen auch durch Mittel des Privatrechts gestützt werden (Europäische Rechtspolitik), etwa im Bereich des Verbrauchervertragsrechts. Eine umfassende Gesetzgebungskompetenz ergibt sich daraus jedoch nicht, wie der EuGH in dem Rechtsstreit um die Gültigkeit der Tabakwerbe-RL (RL 98/43) (Werbung für Tabakprodukte) festgestellt hat (Rs. C-376/98 – Deutschland/ Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419):

„Aus der Zusammenschau dieser Bestimmungen ergibt sich, dass Maßnahmen gemäß Artikel 100a Absatz 1 EG-Vertrag [jetzt Art. 95 EG/114 AEUV] die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern sollen. Diesen Artikel dahin auszulegen, dass er dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewährte, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit dem in Artikel 3b EG-Vertrag (jetzt Art. 5 EG/5 EU (2007)) niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der Gemeinschaft auf Einzelermächtigungen beruhen.“ (Rn. 83).

4. Binnenmarkt und Privatrecht (Kollisionsrecht)

a) Negativwirkung

Soweit das Kollisionsrecht den Parteien Rechtswahlfreiheit (Rechtswahl) zugesteht, etwa in Art. 3 des Römer Schuldrechtsübereinkommens und jetzt in Art. 3 der Rom I-VO (VO 593/2008), kommt ein Konflikt mit dem Herkunftslandprinzip nicht in Frage; dieses entfaltet vor allem Bedeutung für das öffentliche Recht. Auch der Bereich der sog. objektiven Anknüpfung führt zu keinen Problemen mit dem binnenmarktspezifischen Herkunftslandprinzip, da er im Allgemeinen auf das Recht des Anbieters verweist. Ausnahmen bestehen möglicherweise im Kollisionsrecht für Mobiliarsicherheiten, das in den meisten Mitgliedstaaten auf die lex rei sitae abstellt und damit den Parteien die Möglichkeit nimmt, bei grenzüberschreitenden Transaktionen die am Ursprungsort bestellten Sicherheiten, insbesondere einen Eigentumsvorbehalt, auch dann durchsetzen zu können, wenn die übertragene Sache in ein anderes Land verbracht worden ist, das den Eigentumsvorbehalt überhaupt nicht oder nicht in der vereinbarten Form und Gestaltung anerkennt (zum deutschen IPR Art. 43 EGBGB mit einer eingeschränkten Anerkennung des Herkunftslandprinzips in Abs. 3). In dem Verfahren zur Auslegung der Zahlungsverzugs-RL (RL 2000/35) (EuGH Rs. C-302/05 – Kommission/Italien, Slg. 2006, I-10597, Rn. 28), die Fragen des Kollisionsrechts von Mobiliarsicherheiten nicht ausdrücklich regelt und insoweit auf das mitgliedstaatliche IPR verweist, hat der EuGH offensichtlich diese eingeschränkte bloß schuldrechtliche Wirkung des Eigentumsvorbehalts nicht beanstandet.

Allerdings müssen international zwingende Normen (sog. Eingriffsnormen) nach Art. 7 des Römischen Übereinkommens, jetzt Art. 9 VO 593/2008, dem Gemeinschaftsrecht entsprechen. Dieser Grundsatz und die neue Definition der Eingriffsnorm folgt der Arblade-Entscheidung des EuGH (verb. Rs. C-369 und 376/97, Slg. 1999, I-8454, Rn. 30 f.).

Die Umsetzung des Herkunftslandprinzips im Richtlinienrecht ist einigermaßen unklar. Die sog. E-Commerce-RL (RL 2000/31) hat in der Binnenmarktklausel des Art. 3(1), (2) zwar das Herkunftslandprinzip verankert, gleichzeitig jedoch in Art. 1(4) betont, keine Regelung des Kollisionsrechts zu bezwecken. Außerdem sind Fragen der Anforderungen an Qualität und Haftung von über das Internet bezogenen Waren und Dienstleistungen nicht Gegenstand der Harmonisierung (EuGH Rs. C-244/06 – Dynamic Medien, Slg. 2008, I-505).

b) Positivwirkung

Eine gewisse Positivwirkung ist dem Gemeinschaftsrecht dort eigen, wo es bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten den ordre public-Vorbehalt etwa der Anerkennung von Urteilen und Schiedssprüchen gemeinschaftsspezifisch auslegt. Dies gilt etwa für die Wettbewerbsregeln der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV (EuGH Rs. C-126/97 – ECO-Swiss, Slg. 1999, I-3055) und für Verbraucherschutzvorschriften der Klausel-RL (RL 93/13) (EuGH Rs. C-168/05 – Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421). Der EuGH hat in einer umstrittenen Entscheidung weiter angenommen, dass die auf die (frühere) Rechtsangleichungskompetenz des Art. 94, die jetzt auf Art. 95 EG/114 AEUV übergegangen ist, gestützte Handelsvertreter-RL (RL 86/653) international zwingende Normen der Entschädigung des Handelsvertreters nach Vertragsbeendigung enthält, die von den Parteien nicht abbedungen werden können; die „Einhaltung dieser Bestimmungen im Gemeinschaftsgebiet erscheint daher für die Verwirklichung dieser (Binnenmarkt- [Ergänzung des Verfassers]) Ziele des EG-Vertrages unerlässlich (EuGH Rs. C-381/98 – Ingmar, Slg. 2000, I-9305, Rn. 24).

Das neue Verordnungsrecht für das auf vertragliche und für das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, das auch der Binnenmarktverwirklichung dient, enthält detaillierte, hier nicht im Einzelnen darzustellende Vorschriften über einen kollisionsrechtlichen Schutz von Verbrauchern und Arbeitnehmern. Dies führt zu einem „Günstigkeitsgrundsatz“ bei im Heimatland des Verbrauchers angebahnten Verträgen in Art. 6 der Rom I-VO. Bei der Produkthaftung gilt für im Inland vermarktete Produkte und von diesen verursachte Schäden gemäß Art. 5(1)(a) der Rom II-VO (VO 864/2007) grundsätzlich das Heimatrecht des Opfers. Der Arbeitnehmerschutz findet sich in Art. 8 der Rom I-VO. Arbeitskampfmaßnahmen werden grundsätzlich nach dem Recht des Ortes der Kampfmaßnahme, nicht der Auswirkung beurteilt, Art. 9 der Rom II-VO.

Das Richtlinienkollisionsrecht enthält weiterhin zahlreiche Bestimmungen, wonach seine verbraucherschützenden Regelungen nicht zum Nachteil des Verbrauchers durch vereinbarte Anwendung des Rechts eines Drittlandes abbedungen werden können, wenn der Vertragsschluss einen „engen“ Zusammenhang mit der Gemeinschaft aufweist. Die Frage bleibt aber, ob eine solche Schutzklausel nach Kodifikation des kollisionsrechtlichen Verbraucherschutzes in Art. 6 Rom I-VO noch erforderlich ist.

5. „Horizontale Direktwirkung“ der Grundfreiheiten im Binnenmarkt?

Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sind primär gegen den Staat gerichtet. Wie aber bereits die Formulierung des Art. 3(c) EG (weniger deutlich Art. 3(3) EU (2007)) erkennen lässt, soll ein Binnenmarkt errichtet werden, „der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr gekennzeichnet ist“ – woher sie auch immer kommen und wodurch sie verursacht werden, wäre zu ergänzen. Der EuGH (Rs. 34/74 – Walrave, Slg. 1974, 1405) hat deshalb bereits relativ früh die Grundfreiheiten der Art. 39, 43 und 49 EG (Art. 45, 49, 56 AEUV) auf „Regelwerke anderer Art erstreckt, die die abhängige Erwerbstätigkeit, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen“ (EuGH Rs. C-438/05 – IWTF & FSU, Slg. 2007, I-1079, Rn. 33) angewendet. Die Rechtfertigung für diese nicht unbestrittene Rechtsprechung liegt einerseits in dem effet utile der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, anderseits in der unterschiedlichen Regelungsstruktur der Mitgliedstaaten, die Binnenmarkthemmnisse sowohl durch öffentliches Recht als auch durch kollektiv-privatrechtliche Regelungen bewirken können. Deshalb rechtfertigt sich in bestimmten, näher auszulotenden Grenzen die Gleichbehandlung von staatlich und privat verursachten Binnenmarktbeschränkungen. Für den Bereich des Warenverkehrs hat der EuGH diese Gleichstellung nicht ausdrücklich anerkannt; hier sind im Allgemeinen die Wettbewerbsregeln der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV einschlägig, die ebenfalls Binnenmarktspaltungen durch Kartelle oder marktmächtige Unternehmen verbieten (EuGH verb. Rs. 56 und 58/64 – Grundig und Consten, Slg. 1966, 321).

Allerdings kollidiert diese Wirkung der Grundfreiheiten dann mit dem Prinzip der Vertragsautonomie, wenn sie unbesehen auf alle privat verursachten Freizügigkeitsbeschränkungen angewendet wird. Es muss also immer eine „kollektive Regelung“ oder auf eine solche abzielende Maßnahme vorliegen, die dem nachteilig davon betroffenen Unionsbürger keine Wahl im Sinne eines „take it or leave it“ lassen, etwa Verbandsatzungen, Arbeitskampfmaßnahmen, Allgemeine Geschäftsbedingungen und ähnliches.

Literatur

Norbert Reich, Binnenmarkt als Rechtsbegriff, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1991, 203 ff.; Wulf-Henning Roth, Der Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das IPR, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 55 (1991) 623 ff.; Norbert Reich, Competition between legal orders — a new paradigm of EC law?, Common Market Law Review 29 (1992) 861 ff.; Jürgen Basedow, Der kollisionsrechtliche Gehalt der Produktfreiheiten im europäischen Binnenmarkt, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 59 (1995) 1 ff.; Eva-Maria Kieninger, Mobiliarsicherheiten im Europäischen Binnenmarkt, 1996; Ernst Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996; Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Rechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002; Stefan Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge zwischen Römer EVÜ und EG Richtlinien, 2002; Norbert Reich, Hans-W. Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht, 4. Aufl. 2003; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; Christian Calliess, Matthias Ruffert, EUV-EGV Kommentar, 3. Aufl. 2007; Norbert Reich, „Horizontal liability“ in EC Law: „Hybridisation“ of remedies for compensation in case of breaches of EC rights, Common Market Law Review 44 (2007) 705 ff.

Abgerufen von Europäischer Binnenmarkt – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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