Eingriffsnormen

Aus HWB-EuP 2009

von Reinhard Ellger

1. Begriff, Funktion, Abgrenzung

a) Begriff und Funktion

Das internationale Privatrecht aller Mitgliedstaaten der EU gewährt Vertragsparteien im Rahmen ihrer Parteiautonomie die Befugnis, die Rechtsordnung frei zu wählen, der sie den zwischen ihnen abzuschließenden Vertrag unterstellen wollen. Treffen die Parteien keine Rechtswahl, so wird das anwendbare Recht anhand objektiver Anknüpfungskriterien bestimmt. Diese Kriterien zielen darauf ab, dasjenige Recht zur Anwendung zu bringen, zu dem der Vertrag die engste Verbindung aufweist. Es handelt sich bei dieser Vorgehensweise um eine allseitige Anknüpfung, bei der ein Sachverhalt (in dem es etwa um die Gültigkeit eines Vertrages, eine Ehescheidung, eine Erbberechtigung geht) unter die Systembegriffe (Vertrag, Scheidung, Erbrecht) einer Kollisionsnorm subsumiert und so das anwendbare Recht bestimmt wird. Diese allseitige Verweisungstechnik abstrahiert von den Zwecken und konkreten Inhalten der materiellen Rechtsregeln der in Betracht kommenden Rechtsordnungen; sie sieht diese als grundsätzlich äquivalent und fungibel an. Die Abstraktion von den Zwecken und Zielen, die der nationale Gesetzgeber mit seinen Gesetzen verfolgt, rechtfertigt sich aus dem Verständnis der bürgerlichen Rechtsordnung als einem „Recht der Gesellschaft“, einem vorstaatlichen Recht. Diese Sichtweise lässt sich auf die Trennung von Staat und Gesellschaft im Liberalismus des 19. Jahrhunderts zurückführen. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges jedoch wurde die Basis des neutralen internationalen Privatrechts, das Sachverhalte unabhängig von den materialen Zwecken und Zielsetzungen der in Betracht kommenden Rechtsnormen allein nach den Kriterien der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit (internationaler Entscheidungseinklang, Verkehrsinteresse, Parteiinteresse) Rechtsordnungen zuweist, zunehmend brüchiger, weil die politische Neutralität des Privatrechts durch zwei Entwicklungen in Frage gestellt wurde. Zum einen gingen die Gesetzgeber dazu über, in bestimmten Bereichen des Zivilrechts sozialpolitische Zielsetzungen zu verfolgen und damit die bloße Gewährleistung eines Rechtsrahmens für die privatautonome Regelung der Angelegenheiten zwischen Rechtssubjekten aufzugeben. Als Beispiele für diese Art der Aufladung des Privatrechts mit sozialpolitischen Zwecksetzungen lassen sich etwa das soziale Mietrecht und Regelungen des Arbeitsrechts zur Sicherung von Arbeitsplätzen und zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen nennen. Zum anderen begannen die europäischen Staaten damit, in stärkerem Maße als zuvor staats-, sozial- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen durch öffentlich-rechtliche Rechtsakte zu verfolgen, die sich auf private Verträge auswirkten. Exemplarisch dafür sind etwa Ge- und Verbote, bzw. Nichtigkeitsfolgen für private Rechtsgeschäfte im Rahmen von Devisenbestimmungen zum Schutz der eigenen Währung oder Ein- und Ausfuhrverbote als politisches Druckmittel oder zum Schutz der eigenen kulturellen Identität (Exportverbote für bestimmte Kulturgüter). Dazu gehören aber auch Gesetze zum Schutz der grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen der betreffenden Staaten, wie etwa die Gesetze gegen Wettbewerbsbeschränkungen sowie gewisse kapitalmarktrechtliche Vorschriften wie das Verbot des Insiderhandels mit bestimmten Wertpapieren nach §§ 12, 14 WpHG, das die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes schützen soll. Gemeinsam ist diesen Regeln, dass sie in erster Linie überindividuelle Interessen, nämlich staats-, wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzungen des rechtssetzenden Staates verfolgen und nicht vorrangig dem Interessenausgleich privater Vertragsparteien dienen sollen. Das politische Interesse der Staaten, die in den so umrissenen Eingriffsnormen definierten Zwecke durchzusetzen erklärt es, dass die Staaten es privaten Parteien nicht erlauben, sich durch eine Rechtswahl im Rahmen der international-privatrechtlichen Parteiautonomie der Anwendung dieser Normen zu entziehen, indem sie ein anderes Recht als das Eingriffsrecht zum Vertragsstatut wählen. Heute sind die Regelungen über Eingriffsnormen durch Art. 7 EVÜ sowie durch Art. 9 Rom I-VO (VO 593/2008) in gewissem Umfang internationalisiert (genauer: europäisiert) worden.

b) Abgrenzung der Eingriffs­normen von anderen Nor­men zwingender Natur

Eingriffsnormen bilden eine Untergruppe der so genannten zwingenden Normen, wie sie in jeder europäischen Rechtsordnung vorkommen. Dabei sind drei Gruppen von zwingenden Normen zu unterscheiden, nämlich die intern zwingenden Normen, die international zwingenden Normen (Eingriffsnormen) und das Sonderprivatrecht. Die Unterscheidung dieser verschiedenen Gruppen zwingender Normen ist deshalb sinnvoll, weil sie sich im Verhältnis zum Vertragsstatut unterschiedlich auswirken. Nur intern zwingend sind solche Normen, die nach den Regeln des Privatrechts der Mitgliedstaaten nicht durch vertragliche Vereinbarung zwischen den Parteien abbedungen werden können. Gleichwohl führt die Wahl einer ausländischen Rechtsordnung für den Vertrag dazu, dass die nur intern zwingenden Normen des nach objektiver Anknüpfung anwendbaren Rechts nicht mehr anzuwenden sind, sondern die intern zwingenden Vorschriften des gewählten Rechts. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Vertrag abgesehen von der Wahl eines ausländischen Rechts nur Beziehungen zu einer Rechtsordnung aufweist. Dann berührt die Rechtswahl „nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann“ (Art. 3(3) Rom I-VO; ähnlich Art. 3(3) EVÜ). Solche intern zwingenden Normen sind im deutschen Recht etwa die bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB, die nicht der Durchsetzung von Gemeinschafts- oder Staatsinteressen, sondern der Verwirklichung der Vertragsgerechtigkeit zwischen privaten Parteien dienen. Diesen nur intern zwingenden Normen stehen die Eingriffsnormen gegenüber. Letztere setzen sich gegen das – gewählte oder durch objektive Anknüpfung ermittelte – Vertragsstatut durch. Deshalb werden diese Vorschriften auch als international zwingende Normen bezeichnet. Sie sind dadurch charakterisiert, dass mit ihnen Gemeininteressen (für wirtschafts-, sozial- oder staatspolitische Zielsetzungen) verfolgt werden und dass bei ihnen nicht die Förderung der Vertragsgerechtigkeit zwischen den privaten Vertragsparteien im Vordergrund steht. Zwischen diesen beiden Formen der zwingenden Normen steht eine dritte Kategorie nicht-dispositiver Vorschriften, die nicht rein intern zwingende Normen sind, sondern sich bei Rechtswahl unter bestimmten Voraussetzungen gegen das gewählte Recht durchsetzen, nämlich dann, wenn das objektiv auf den Vertrag anwendbare Recht für eine Vertragspartei, die besonderen Schutz genießt, günstiger gewesen wäre als das gewählte Recht. Es handelt sich dabei um sozialpolitisch motivierte Schutzvorschriften zugunsten bestimmter Gruppen von Vertragsparteien, die typische Ungleichgewichtslagen zwischen den Vertragsparteien ausgleichen sollen und die daher individualschützend sind. Der Schutzstandard des objektiv anwendbaren Vertragsrechts soll durch die Rechtswahl nicht unterschritten werden dürfen. Solche beschränkt international zwingenden Normen finden sich etwa im Verbraucherschutzrecht und im individuellen Arbeitsrecht. Für Verbraucherverträge bestimmen Art. 5(2) EVÜ und Art. 6(2) Rom I-VO, dass durch die Rechtswahl dem Verbraucher nicht der Schutz entzogen werden darf, den er nach den nicht-abdingbaren Bestimmungen seines Aufenthaltsstaates genießt. Ähnliches sehen Art. 6(1) EVÜ bzw. Art. 8(1) Rom I-VO für Individualarbeitsverträge vor. Im Unterschied zu den Eingriffsnormen setzt sich das Sonderprivatrecht der Verbraucher und der Arbeitnehmer nur dann gegen das durch Rechtswahl bestimmte Recht durch, wenn dieses für den Verbraucher oder Arbeitnehmer ungünstiger ist als das Recht, das aufgrund objektiver Anknüpfung anwendbar gewesen wäre. Die Anwendung der Schutzbestimmungen zugunsten der Verbraucher und Arbeitnehmer nach dem durch Rechtswahl und objektive Anknüpfung bestimmten Recht hängt also vom Ergebnis einer Günstigkeitsprüfung ab. Das Verhältnis zwischen den Art. 5 und 6 EVÜ und den Art. 6 und 8 Rom I-VO zu den der kollisionsrechtlichen Regelung für Eingriffsnormen in Art. 7 EVÜ bzw. Art. 9 Rom I-VO ist in den Einzelheiten nicht vollständig geklärt. Klar ist jedoch, dass es verbraucherrechtliche bzw. arbeitsrechtliche zwingende Vorschriften geben kann, die nach Art. 7 EVÜ bzw. Art. 9 Rom I-VO zur Anwendung berufen werden.

c) Kategorisierung der Eingriffsnormen nach ihrer Herkunft

Für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Eingriffsnormen anzuwenden oder zu beachten sind, kommt es nicht zuletzt darauf an, welcher Rechtsordnung sie entstammen. Hier sind im Wesentlichen drei Herkunftsquellen von Eingriffsnormen zu unterscheiden. Zunächst kann es sich bei einer Eingriffsnorm, die in einem bestimmten Fall nach ihrem Inhalt angewandt sein möchte, um eine solche der lex fori handeln. Die Eingriffsnorm kann aber auch dem Vertragsstatut entstammen; fraglich ist hier, ob das Vertragsstatut auch seine eigenen Eingriffsnormen zur Anwendung beruft oder ob diese einer besonderen kollisionsrechtlichen Behandlung unterliegen. Schließlich kann es sich bei den Eingriffsnormen um drittstaatliches Recht handeln, nämlich um das Recht eines Staates, der weder als lex fori noch als Vertragsstatut mit dem Sachverhalt verbunden ist.

d) Kriterien für die Abgrenzung der Eingriffsnormen

Zu den schwierigsten Problemen bei der rechtlichen Behandlung der Eingriffsnormen gehört die Qualifikation zwingender Vorschriften als Eingriffsnormen und ihre Abgrenzung von anderen Normen zwingender Natur. Wenn auch heute international weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass Eingriffsnormen sich durch ihre staats-, wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzung von intern zwingenden Normen unterscheiden, die lediglich der Ordnung und dem gerechten Interessenausgleich zwischen den Parteien eines Vertrages dienen, ist die Abgrenzung der Normengruppen im Einzelfall schwierig und führt in den einzelnen europäischen Rechtsordnungen durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen. Als Indizien für die Qualifikation einer Vorschrift als Eingriffsnorm sind insbesondere im deutschen IPR folgende Merkmale herausgearbeitet worden: die ausdrückliche Anordnung der Norm, unabhängig vom Vertragsstatut angewendet werden zu wollen (Bsp.: § 1 AEntG), die Durchsetzung eines Gesetzes durch Verwaltungszwang und Ordnungsgeld sowie die Sanktionierung von Gesetzesverstößen durch Strafandrohung. Auch Verbote und Genehmigungsvorbehalte, die private Rechtsgeschäfte betreffen, sprechen dafür, dass eine Vorschrift als Eingriffsnorm einzuordnen ist. Das Fehlen solcher Indizien schließt aber nicht aus, dass es sich dennoch um international zwingendes Recht handelt. Derartige Normen können sich auch im Kernbereich des bürgerlichen Rechts finden; so haben sowohl der BGH wie auch der österreichische Oberste Gerichtshof übereinstimmend die Vorschriften des deutschen (§ 661a BGB) und des österreichischen (§ 5j KSchG) Zivilrechts über die Verbindlichkeit von Gewinnzusagen, die weder einem Genehmigungsvorbehalt noch einer Strafe unterliegen, als Eingriffsnormen qualifiziert. (BGH 1.12.2005, BGHZ 153, 82; österreich. ObGH 29.3.2006, RdW 2006, 431). Ungeeignet ist die Abgrenzung danach, ob die fragliche Norm als öffentlichrechtlich oder privatrechtlich einzuordnen ist. Für die Qualifikation als Eingriffsnormen sind auch „Natur und Gegenstand“ der Vorschriften zu beachten (Art. 7(2) EVÜ). Besonders schwer abzugrenzen sind die Vorschriften des zwingenden Sonderprivatrechts im Bereich der verbraucher- und arbeitnehmerschützenden Bestimmungen, die einerseits durch Art. 5 und 6 EVÜ, Art. 6 und 8 Rom I-VO erfasst werden, andererseits aber auch als Eingriffsnormen i.S.v. Art. 7 EVÜ, 9 Rom I-VO zu qualifizieren sein können.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Das Recht der Eingriffsnormen ist heute in Europa durch Art. 7 EVÜ und Art. 9 Rom I-VO weitgehend einheitlich geregelt. Als übergreifende Regelungstendenzen des europäischen Einheitsrechts lassen sich folgende Entwicklungslinien kennzeichnen: Eingriffsnormen bilden eine Ausnahme von der allseitigen Anknüpfung bzw. von dem Grundsatz der Parteiautonomie bei der Bestimmung des anwendbaren Vertragsrechts, indem sie sich im Wege der Sonderanknüpfung oder durch Berücksichtigung auf materiellrechtlicher Ebene gegenüber dem Vertragsstatut durchsetzen. Diese Ausnahmestellung erklärt das Bestreben des europäischen Einheitsrechts, insbesondere der Berücksichtigung drittstaatlicher Eingriffsnormen enge Grenzen zu setzen. Art. 7(1) EVÜ verlangt eine enge Verbindung des Sachverhalts zum Recht des Drittstaates, um dessen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen. Diese Schwelle hat Art. 9(3) Rom I-VO noch erhöht, indem danach drittstaatliche Eingriffsnormen nur berücksichtigt werden können, wenn der Vertrag in diesem Staat erfüllt werden muss und die Erfüllung nach dem Recht dieses Staates unrechtmäßig ist. Ebenso lässt sich das Bemühen der Mitgliedstaten des EVÜ verzeichnen, als exorbitant empfundene Anwendungsansprüche drittstaatlicher Eingriffsnormen (insbesondere Embargovorschriften der USA, die gegenüber europäischen Unternehmen durchgesetzt werden sollten) abzuwehren (siehe dazu Rechtbank den Haag 17.9.1982, Cie. Européenne des Pétroles S.A. v. Sensor Nederland B.V., Rechtspraak van de Week/Kort Geding 1982, No. 167, dt. Übers. und Anm. v. Basedow in RabelsZ 47 (1983) 141 ff. sowie Libyan Arab Foreign Bank v. Bankers Trust Co. [1989] QB 728 (Comm)). Darüber hinaus wird im Einheitsrecht deutlich, dass sich die Eingriffsnormen der lex fori gegenüber dem Vertragsstatut durchsetzen, wenn sie nach ihrem (ausdrücklichen oder durch Auslegung ermittelten) Anwendungsbereich auf den Vertrag angewandt werden wollen. Das Einheitsrecht scheint stillschweigend davon auszugehen, dass die Eingriffsnormen des Vertragsstatuts durch dieses zur Anwendung berufen werden.

3. Regelungsstrukturen des Einheitsrechts.

Seit dem Abschluss des EVÜ am 19.6.1980, das ab dem 17.12.2009 durch die Rom I-VO abgelöst werden wird, sind die grundlegenden Aspekte des Rechts der Eingriffsnormen auf europäischer Ebene vereinheitlicht.

a) Die Regelung für zwingende Vorschriften in Art. 7 EVÜ

Bei der Aushandlung des EVÜ hat sich die Regelung über die zwingenden Normen, insbesondere die Berücksichtigung fremder zwingender Vorschriften, als schwierig herausgestellt. Im Ergebnis konnte man sich auf eine Lösung einigen, die – ausweislich des Erläuternden Berichts für die EG Staaten von Mario Giuliano, Paul Lagarde – auf den Grundsätzen beruhte, die bereits in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu diesem Problem entwickelt worden waren. Art. 7(1) beschäftigt sich mit ausländischen zwingenden Vorschriften. Ausländischen zwingenden Vorschriften einer Rechtsordnung, die nicht Vertragsstatut ist, kann demnach „Wirkung verliehen“ werden, sofern diese Rechtsordnung eine enge Beziehung zum Sachverhalt aufweist. Bei der Entscheidung darüber sind die Natur und der Gegenstand der zwingenden Vorschriften sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder Nicht-Anwendung ergeben würden. Die Vorschrift spricht nicht von der „Anwendung“ fremder Eingriffsnormen, sondern davon, ihnen Wirkung zu verleihen. Mit dieser sehr offenen Formulierung gibt das EVÜ Raum für Mitgliedstaaten des Übereinkommens, solche Normen zu berücksichtigen, auch wenn sie die Anwendung ausländischen öffentlichen Rechts ablehnen, aber ausländischen Eingriffsnormen dogmatisch in anderer Weise Wirkung verschaffen. In Deutschland hat es der BGH bereits frühzeitig abgelehnt, die Anwendung ausländischen öffentlichen Rechts in vertragsrechtlichen Streitigkeiten vor deutschen Gerichten zuzulassen (BGH 17.12.1959, BGHZ 36, 371). Dementsprechend werden ausländische Eingriffsnormen vor deutschen Gerichten nicht im Wege einer Sonderanknüpfung zur Anwendung berufen, sondern im Rahmen des materiellen Rechts des Vertragsstatuts (in den entschiedenen Fällen war immer deutsches Recht Vertragsstatut) berücksichtigt. Eine solche materiellrechtliche Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen kann z.B. die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB (BGH 22.6.1972, BGHZ 59, 82; BGH 21.12.1960, BGHZ 34, 169) oder die Befreiung von der Leistungspflicht wegen einer vom Schuldner nicht zu vertretenden Leistungsstörung zur Folge haben. In Betracht kommt auch die Anpassung der Leistungsverpflichtungen aus einem Vertrag wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage (BGH 8.2.1984, NJW 1984, 1746). Das französische (Cass.civ. 25.1. 1966, Revue critique de droit international privé 1966, 238; Cass. soc. 31.5.1972, Revue critique de droit international privé 1973, 683) und das englische Recht (Ralli Bros. v. Compania Naviera Sota y Aznar [1920] 1 KB 614 (Comm); [1920] 2 KB 287 (CA); Kleinwort, Sons & Co. v. Ungarische Baumwolle Industrie AG [1939] 2 KB 678 (CA); Regazzoni v. K.C. Sethia Ltd. [1956] 2 QB 490 (CA)) hingegen zeigen sich weniger zurückhaltend und wenden ausländische Eingriffsnormen an, indem sie sie im Wege der Sonderanknüpfung berufen. Art. 22 EVÜ lässt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, gegen Art. 7(1) einen Vorbehalt einzulegen. Davon haben die Mitgliedstaaten Bundesrepublik Deutschland, Irland, Luxemburg, Portugal und Vereinigtes Königreich Gebrauch gemacht. Die Einlegung des Vorbehalts hat weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in den anderen Staaten dazu geführt, dass ausländische Eingriffsnormen nicht berücksichtigt werden. Ihre Berücksichtigung erfolgt dort nicht nach Art. 7(1) EVÜ, sondern nach den Regeln des IPR der jeweiligen Staaten.

Art. 7(1) EVÜ knüpft die Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts an einige Voraussetzungen. So müssen „Natur und Gegenstand“ der ausländischen Vorschrift eine Berücksichtigung gegen das Vertragsstatut rechtfertigen. Allerdings bestimmt Art. 7 EVÜ nicht näher, wie „Natur und Gegenstand“ der ausländischen Norm beschaffen sein müssen, um ihr Wirkung zu verleihen. In der Praxis fällt den Gerichten die Berücksichtigung von Eingriffsnormen, die in einer Mehrzahl von Staaten in ähnlicher Weise erlassen wurden und insoweit einen internationalen Regelungsstandard repräsentieren, leichter als die Anerkennung von zwingenden Bestimmungen, die nur in einem Staat vorhanden und damit international unüblich sind. So hat das Handelsgericht Mons (Belgien) die Berücksichtigung einer Norm des tunesischen Wettbewerbsgesetzes bei einem belgischen Recht unterliegenden Vertragshändlervertrag abgelehnt, weil das tunesische Recht exklusive Vertriebsvereinbarungen völlig verbot und damit weit über das international Übliche hinausging (Tribunal de Commerce Mons 2.11.2000, Revue de Droit Commercial Belge 2001, 617 ff.). Auch sind die Folgen zu bedenken, die sich aus der Anwendung bzw. Nicht-Anwendung der Norm ergeben. Die Folgen umfassen nicht nur eine Bewertung des Normzwecks, den der ausländische Gesetzgeber verfolgt, sondern auch die Konsequenzen, die sich für die Parteien des Vertrages ergeben. So kann es dem Schuldner unzumutbar sein, einen Vertrag in einem Staat zu erfüllen, wenn die Erfüllungshandlung dort mit Strafe bedroht oder sonst verboten ist. Schließlich verlangt Art. 7(2) EVÜ eine enge Verbindung zwischen dem Staat der Eingriffsnorm und dem Sachverhalt, um die Berücksichtigung der ausländischen Eingriffsnorm zu rechtfertigen.

Nach Art. 7(2) berührt das Übereinkommen nicht die Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori. Diese setzen sich – sofern sie auf einen Sachverhalt angewandt werden wollen – gegen das Vertragsstatut durch. Das Übereinkommen trifft keine Regelung zu den Eingriffsnormen des Vertragsstatuts. Offenbar geht es davon aus, dass diese über das Vertragsstatut berufen werden.

b) Art. 9 Rom I-VO.

Die Rom I-VO regelt in Art. 9 Eingriffsnormen; die Vorschrift ersetzt Art. 7 EVÜ. Art. 9 Rom I-VO enthält in seinem Abs. 1 eine Legaldefinition des Begriffs der Eingriffsnormen. Danach sind solche zwingenden Vorschriften als Eingriffsnormen zu qualifizieren, deren Befolgung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisation, betrachtet wird, dass sie ohne Rücksicht auf das nach der Rom I-VO auf den Vertrag anzuwendende Recht auf alle Sachverhalte anzuwenden sind, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Diese Legaldefinition geht auf eine Entscheidung des EuGH zurück (EuGH verb. Rs. C-369/96 und C-376/96 – Arblade und Leloup, Slg. 1999, I-8489, Rn. 30). Eine solche Definition ist grundsätzlich zu begrüßen, da sie möglicherweise die Rechtssicherheit in Bezug auf die Qualifikation von Eingriffsnormen und ihre Abgrenzung von anderen Arten zwingender Normen verbessern kann. Allerdings sollte diese potentielle Wirkung der Legaldefinition in Art. 9(1) Rom I-VO nicht überschätzt werden. Kurz nach dem Arblade-Urteil entschied der EuGH, dass dem Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters bei Beendigung des Vertragsverhältnisses nach Art. 17 der Handelsvertreter-RL (RL 86/653) international zwingender Charakter zukommt (EuGH Rs. C-381/98 – Ingmar GB Ltd., Slg. 2000, I-9325, Rn. 24.). Unabhängig davon, dass diese Qualifikation fragwürdig ist, weil es sich bei der Vorschrift eher um eine Norm zum Schutz einer bestimmten Personengruppe beim Interessenausgleich in privaten Vertragsverhältnissen und wohl nicht um eine Bestimmung mit wirtschafts- oder sozialpolitischer Zielsetzung handelt (so haben es der BGH 30.1.1961, NJW 1961,1062, die Cour de Cassation in Cass. civ. 28.11.2000, Bull. civ. IV, no. 183, 160 und die Rechtbank Arnhem 11.7.1991, Nederlands International Privaatrecht 1992, 151 in Bezug auf analoge Vorschriften des jeweiligen nationalen Rechts entschieden), irritiert es, dass der EuGH mit keinem Wort auf die Kriterien für die Abgrenzung von Eingriffsnormen eingeht, die er selbst kaum ein Jahr zuvor im Arblade-Urteil aufgestellt hatte.

Art. 9(2) der Rom I-VO behandelt die Eingriffsnormen der lex fori. Deren Anwendung wird durch die VO nicht berührt. Insoweit ergibt sich für diese Art von Eingriffsnormen kein Unterschied zu Art. 7(2) EVÜ.

Art. 9(3) Rom I-VO ist den ausländischen Eingriffsnormen gewidmet. Derartigen Normen kann dann Wirkung verliehen werden, wenn es sich um solche des Staates handelt, in dem der Vertrag zu erfüllen ist und soweit die Eingriffsnormen die Vertragserfüllung unrechtmäßig werden lassen. Dieses Kriterium entspricht exakt der durch die englische Rechtsprechung entwickelten Linie für die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen (siehe etwa Ralli Bros. v. Compania Naviera Sota y Aznar, [1920] 1 KB 614 (Comm); [1920] 2 KB 287 (CA); Kleinwort Sons & Co. v. Ungarische Baumwolle Industrie A.G. [1939] 2 KB 678 (CA); Kahler v. Midland Bank [1950] AC 24 (HL); Regazzoni v. K.C. Sethia, Ltd. [1956] 2 QB 490 (CA); Lemenda Trading Co. Ltd. v. African Middle East Petroleum Co. Ltd. [1988] QB 448 (Comm); Libyan Arab Foreign Bank v. Bankers Trust Co. [1989] QB 728 (Comm). Das Abstellen auf den Erfüllungsort ist ein wesentlich engeres Kriterium als das der engen Verbindung, wie es in Art. 7(1) EVÜ vorgesehen ist. Es ist zweifelhaft, ob diese Beschränkung der Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts sachlich angemessen ist oder ob damit nicht Fallkonstellationen ausgeblendet werden, in denen ein Drittland ein berechtigtes Interesse an der Durchsetzung seiner Eingriffsnormen haben kann. Hinzu kommt, dass die Vereinbarung des Erfüllungsortes Sache der Vertragsparteien ist, so dass letztlich diese darüber entscheiden, ob eine drittstaatliche Eingriffsnorm berücksichtigt wird oder nicht. Schließlich sind bei der Entscheidung, ob solchen Normen Wirkung zu verleihen ist, ihr Art und Zweck sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben. Diese Voraussetzungen entsprechen weitgehend den in Art. 7(1) EVÜ genannten. Ebenso wie Art. 7 EVÜ regelt Art. 9 Rom I-VO nicht ausdrücklich die Behandlung schuldstatutszugehöriger Eingriffsnormen. Daher ist – ebenso wie bei Art. 7 EVÜ – auch hier anzunehmen, dass diese mit dem Vertragsstatut zur Anwendung berufen werden sollen.

Literatur

Ulrich Drobnig, Die Beachtung von ausländischen Eingriffsgesetzen, in: Festschrift für Karl H. Neumayer, 1985, 159 ff.; Rolf C. Radtke, Schuldstatut und Eingriffsrecht. Systematische Grundlagen der Berücksichtigung von zwingendem Recht nach deutschem IPR und dem EG-Schuldrechtsübereinkommen, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 84 (1985) 325 ff.; Jürgen Basedow, Wirtschaftskollisionsrecht, Theoretischer Versuch über die ordnungspolitischen Normen des Forumstaates, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 52 (1988) 8 ff.; Lawrence Collins (Hg.), Dicey, Morris and Collins on The Conflict of Laws, 14. Aufl. 2006, Bd. II, 1242 ff.; Yvon Loussouarn, Pierre Bourel, Droit International Privé, 7. Aufl. 2001, 123 ff.; Patrick Courbe, Droit international privé, 2. Aufl. 2003, 121 ff.; Gerhard Kegel, Klaus Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, 150 ff.; Christoph Reithmann, Dieter Martiny (Hg.), Internationales Vertragsrecht, 6. Aufl. 2004, 363 ff.; Jan Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, 18 ff. und 503 ff.

Abgerufen von Eingriffsnormen – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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