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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:30 Uhr

von Reinhard Zimmermann

1. Hintergrund

Nach allgemeiner Meinung ist das europäische Vertragsrecht in einem unbefriedigenden Zustand. Es besteht im Kern aus einem Flickenteppich untereinander schlecht koordinierter Richtlinien, mit einem deutlichen Schwerpunkt im Verbrauchervertragsrecht (Verbraucher und Verbraucherschutz). Eine isolierte Revision des Verbraucher-acquis böte allenfalls eine halbe Lösung, bliebe doch so das zentrale Problem des Verhältnisses von Verbrauchervertragsrecht und allgemeinem Vertragsrecht ungelöst. Denn dass der Verbraucher-acquis der Europäischen Union allein ein System des europäischen Privatrechts nicht zu tragen vermag, lässt sich nicht zuletzt an dem Versuch eines regelförmigen Restatements des Verbraucher-acquis durch die Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) erkennen (Acquis Principles). Deshalb halten manche eine Kodifikation des gesamten europäischen Vertragsrechts für wünschenswert (Europäisches Zivilgesetzbuch). Protagonist dieser Ansicht ist seit einer ersten Resolution aus dem Jahre 1989 das Europäische Parlament. Doch ist ein derartiges Vorhaben gegenwärtig weder praktisch durchsetzbar, noch besteht dafür nach weit überwiegender Ansicht eine Kompetenzgrundlage. Deshalb wurde der Gedanke eines „optionalen Instruments“ ins Spiel gebracht, also einer weiteren Vertragsrechtsordnung (neben den etwa 30 in Europa bereits bestehenden), auf die die Parteien eines Vertrages sich einigen können. Seit 2003, als er in einer Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und den Rat (Rat und Europäischer Rat) zum ersten Mal gebraucht wurde (Ein Kohärentes Europäisches Vertragsrecht: Ein Aktionsplan, KOM(2003) 68 endg.), trat demgegenüber der schillernde Begriff eines Gemeinsamen Referenzrahmens (Common Frame of Reference, CFR) immer stärker in den Vordergrund, der heute die Diskussion beherrscht. Zur Vorbereitung dieses CFR wurden im Jahre 2005 eine Reihe bereits bestehender internationaler Wissenschaftlergruppen in einem Joint Network on European Private Law (CoPECL network) zusammengeführt und im Rahmen des sechsten Rahmenprogramms für Forschung der EU finanziert. Unter diesen Wissenschaftlergruppen spielen die Study Group on a European Civil Code und die Acquis Group die führende Rolle. Sie bilden nach eigener Angabe (gemeinsam mit der nur für einen Teilbereich zuständigen Insurance Contract Group) „the so-called ‚drafting teams’ of the CoPECL network“. Resultat dieser Vorarbeiten ist der Draft Common Frame of Reference (DCFR), der in einer Interim Outline Edition im Februar 2008 und in einer Outline Edition im Februar 2009 publiziert worden ist.

2. Inhalt

Der DCFR besteht formal aus drei Teilen. Ganz im Zentrum steht, unter dem Titel „Model Rules“, der Entwurf eines Europäischen Zivilgesetzbuches, das weit über das Vertragsrecht hinausgreift und wesentliche Teile des Vermögensrechts umfasst. Er wird ergänzt durch einen Katalog von mehr als 150 Definitionen und einen diskursiven Abschnitt, der den tragenden Grundsätzen des DCFR, der Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz, gewidmet ist. Im Folgenden wird als DCFR der im Zentrum stehende Kodifikationsentwurf bezeichnet. Dieser besteht aus zehn Büchern.

Das etwas heterogene Buch I (General provisions) enthält nur zehn Regeln. Sie betreffen den Anwendungsbereich und die Auslegung des DCFR sowie die Fristberechnung und Mitteilungen (notices). Außerdem finden sich hier eine Reihe von Begriffsbestimmungen (darunter good faith and fair dealing, reasonableness, consumer, business) und ein Verweis auf den Anhang mit Definitionen (die gelten sollen „unless the context otherwise requires“).

Die Bücher II und III enthalten, was in Deutschland als Rechtgeschäftslehre (Rechtsgeschäft) und allgemeines Schuldrecht bezeichnet werden würde. So finden sich in Buch II die Regeln über Vertragsschluss, Stellvertretung, Gültigkeit (insbesondere: Konsensmängel, Sitten- und Gesetzwidrigkeit), Auslegung sowie Inhalt und Wirkungen von Verträgen. Buch III befasst sich demgegenüber mit Erfüllung (Erfüllung und ihre Surrogate), Rechtsbehelfen bei Nichterfüllung, Gläubiger- und Schuldnermehrheiten (Gesamtschuld), Übertragung von Rechten und Verbindlichkeiten (Abtretung, Schuldübernahme, Vertragsübernahme), Aufrechnung und Verjährung. Systematisch hängt diese Aufgliederung des Stoffes an den Begriffen „Vertrag und andere Rechtsgeschäfte“ (Contracts and other juridical acts) und „Verbindlichkeiten und korrespondierende Rechte“ (Obligations and corresponding rights). Eine Verbindlichkeit wird als Leistungspflicht einer Partei eines Rechtsverhältnisses gegenüber einer anderen definiert; der Begriff bezieht sich damit auf rechtsgeschäftliche und gesetzliche Schuldverhältnisse. Sowohl Buch II als auch Buch III beginnen mit einem Allgemeinen Teil, der Definitionen und tragende Grundsätze enthält (Vertragsfreiheit, Formfreiheit [Formerfordernisse], Treu und Glauben), aber auch ein Potpourri von Regelungen zu konkreten Rechtsfragen, die sonst offenbar nicht recht unterzubringen waren.

Buch IV ist besonderen Vertragstypen gewidmet und erfasst in seinem acht Unterabschnitten Kauf, Miete beweglicher Sachen (Miete und Pacht), Verträge über Dienstleistungen (Dienstleistungsvertrag) unter Ausschluss des Arbeitsrechts, Auftrag, Handelsvertreter-, Franchise- und Vertriebsverträge (Franchising; Vertrieb), Darlehen, persönliche Kreditsicherheiten (Bürgschaft; Garantie) und Schenkung. Bei der Vorbereitung des Kaufrechts haben natürlich das UN-Kaufrecht (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) und die Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) (Verbrauchsgüterkauf) eine besondere Rolle gespielt; die Verfasser des DCFR konnten insoweit an erprobte Vorbilder und an eine bis auf Ernst Rabels große Monographie zum internationalen Warenkauf zurückreichende rechtsvergleichende Diskussion anknüpfen. Das gilt nicht, oder doch nur in sehr eingeschränktem Maße, für die anderen erwähnten Vertragstypen. Wie sehr der DCFR hier im Bereich von Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung Neuland betritt, wird bereits aus einem ersten Überblick über die Struktur des Abschnitts über die Erbringung von Dienstleistungen (services) deutlich: Er enthält nach einem Allgemeinen Teil (dem wiederum einige Regeln noch allgemeineren Zuschnitts vorangestellt sind) besondere Unterabschnitte über eine Reihe von „Basisaktivitäten“: Herstellung, Bearbeitung, Verwahrung, Entwürfe (design), Rat und Information sowie (medizinische) Behandlung. Für viele dieser besonderen (in der Terminologie des deutschen Rechts:) Dienst- und Werkverträge enthalten die bestehenden europäischen Kodifikationen keine eigenständigen Regelungen.

Eingefügt in dieses traditionell-privatrechtliche Regelsystem ist das (bisweilen freilich ins Allgemeine hinein erweiterte) ius novum des acquis communautaire: Nichtdiskriminierung (Diskriminierungsverbot (allgemein)), Informationspflichten, unbestellte Zusendung von Waren (unbestellte Waren) oder Dienstleistungen, Widerrufsrechte (dies alles in Buch II), die Regeln über Verbrauchsgütergarantien (Verbrauchsgüterkauf) und eine Vielzahl weiterer verbraucherschützenden Maßnahmen im Kaufrecht (Buch IV A.) sowie ein Unterabschnitt mit Sonderregeln über persönliche Sicherheiten durch Verbraucher (Buch IV G.). Besondere Verbraucherschutzregeln, die freilich nicht in einem eigenständigen Unterabschnitt zusammengefasst sind, enthält auch Buch IV B. über die Miete beweglicher Sachen.

Die Bücher V, VI und VII des DCFR befassen sich mit den gesetzlichen Schuldverhältnissen: Geschäftsführung ohne Auftrag, außervertragliche Haftung (Deliktsrecht) und ungerechtfertigte Bereicherung (Bereicherungsrecht). Buch VIII enthält Regeln über Erwerb und Verlust von Eigentum an beweglichen Sachen (Eigentumsübertragung), Buch IX über dingliche Sicherheiten an beweglichen Sachen (Mobiliarsicherheiten) und Buch X über trusts (Trust und Treuhand). Insgesamt lässt sich die Reichweite des DCFR vielleicht am besten ermessen, wenn man sich vor Augen führt, welche Bereiche ausdrücklich ausgeschlossen sind (Art. I.-1:01(2)): Geschäftsfähigkeit natürlicher Personen, Erbrecht, Familienrecht, Wertpapierrecht, Arbeitsrecht, Grundstücksrecht, Gesellschaftsrecht sowie Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht.

3. Entstehung

a) DCFR und PECL

Der DCFR enthält Textmassen ganz unterschiedlichen Charakters. Den Büchern II und III liegen die Principles of European Contract Law (PECL) der sog. Lando-Kommission zugrunde, die seit ihrer Publikation begonnen haben, eine wichtige Rolle als Referenzpunkt der rechtsvergleichenden Diskussion im Bereich des Vertragsrechts zu spielen. Freilich sind die PECL von der Study Group im Rahmen der Vorarbeiten zum DCFR überarbeitet worden. Dabei sind manche Abschnitte nur von terminologischen Anpassungen oder marginalen Änderungen betroffen, während andere Bereiche erheblich revidiert worden sind. Hier haben gelegentlich auch von den PECL abweichende Regeln oder Regelungsstrukturen der UNIDROIT PICC eine Rolle gespielt. Berücksichtigt man, dass in der rechtsvergleichenden Diskussion der vergangenen Jahrzehnte allgemein und in den internationalen Diskursen über eine Rechvereinheitlichung im Besonderen das allgemeine Vertragsrecht (zusammen mit dem Kaufrecht) eine beherrschende Rolle gespielt hat, dann ist deutlich, dass die in den Büchern II und III des DCFR enthaltenen Texte insgesamt einen vergleichsweise hohen Reifegrad aufweisen: Sie sind Konkretisierungen intensiver wissenschaftlicher Vorarbeiten, die zuvor nicht nur in den PECL und den UNIDROIT PICC ihren Niederschlag gefunden hatten, sondern auch im UN-Kaufrecht, einem Dokument, das seinerseits die PECL und die UNIDROIT PICC stark beeinflusst hat (Ole Lando spricht insoweit von einer „Troika“ des internationalen Vertragsrechts). Andererseits gibt es aber natürlich auch hier Bereiche, die rechtsvergleichend noch stark unterbelichtet sind (etwa: Schuldner- und Gläubigermehrheiten). Hinzu kommt eine stark dogmatisierende Tendenz der Verfasser des DCFR, die sich beispielsweise in der Verwendung des Systembegriffs „juridical act“ zeigt (der in der rechtsvergleichenden Diskussion bislang als viel zu abstrakt beurteilt wurde). Hinzu kommt aber auch, dass das gesamte Buch III sich nicht auf das Vertragsrecht konzentriert, sondern ein allgemeines Schuldrecht zu konzipieren versucht und auch damit über den allgemein akzeptierten Besitzstand rechtsvergleichender Erkenntnis hinausgeht.

b) DCFR und Study Group

Vorgenommen wurde die Überarbeitung der PECL von der Study Group, die sich bei allen Unterschieden in Struktur, Zielsetzung und Arbeitsweise als Nachfolgerin der Lando-Kommission betrachtet. Ihre Hauptaufgabe sah die Study Group jedoch darin, auf den PECL aufbauend und an diese anknüpfend, auch für andere Bereiche des Vermögensrechts ähnliche Regelwerke zu erarbeiten. Diese haben für eine Reihe von Bereichen (Kauf, Miete beweglicher Sachen, Verträge über Dienstleistungen, Handelsvertreter-, Franchise- und Vertriebsverträge, Personalsicherheiten und Geschäftsführung ohne Auftrag) zunächst zu isolierten Bänden im Rahmen einer Buchserie Principles of European Law geführt; deren Struktur entspricht weitgehend derjenigen der PECL. Diese Textmassen sind dann in überarbeiteter Form in die Bücher IV-X des DCFR eingegangen. Für die übrigen von den Büchern IV-X erfassten Bereiche werden die Publikationen im Rahmen der Reihe Principles of European Law vermutlich noch nachfolgen. Bei aller formalen Nähe zu den PECL darf freilich nicht übersehen werden, dass die von den verschiedenen Untergruppen der Study Group erarbeiteten und – auch untereinander heterogenen – Texte sich in ihrem Gesamtcharakter deutlich von diesen unterscheiden. Denn während die PECL in weiten Bereichen mit einiger Plausibilität den Anspruch erheben können, ein latent bereits vorhandenes europäisches Vertragsrecht in der Art eines „Restatements“ bloß abzubilden, hat sich die Study Group auf ein Terrain begeben, auf dem grundlegende Wertungen, Strukturen und Begriffe, die den europäischen Rechtsordnungen gemeinsam und gleichzeitig teleologisch befriedigend sind, entweder gänzlich fehlen oder sich jedenfalls noch nicht herauskristallisiert haben. Der Akzeptanz der Texte der Study Group stehen deshalb von vornherein sehr viel größere Hindernisse im Weg als denen der Lando-Kommission, und sie können somit nur als erste Anstöße auf dem Weg zur Herausbildung genuin europäischer Regelungsstrukturen gelten. Ihr Pioniercharakter wird auch daran deutlich, dass es nur für zwei Teilbereiche (Deliktsrecht und trusts) vergleichbare Regelwerke gibt, die kurz zuvor und ganz unabhängig von der Study Group erarbeitet worden sind: die Principles of European Tort Law und die Principles of European Trust Law (Trust und Treuhand).

c) DCFR und Acquis Group

Der Hauptbeitrag der Acquis Group zur Erstellung des DCFR bestand in der Erarbeitung eines Regelwerkes auf der Grundlage des bereits bestehenden acquis communautaire. Konzeptionell bilden die Acquis Principles damit ein Gegenmodell zu den PECL, in denen der acquis weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Es sind diese Acquis Principles, die teils unverändert, überwiegend aber in überarbeiteter Form, Eingang in den DCFR gefunden haben. Damit hat das aus Study Group und Acquis Group Anfang 2006 gebildete Compilation and Redaction Team zwar einerseits eine Jahrhundertaufgabe im Bereich des Privatrechts angepackt: die Zusammenführung des in einer langen, gemeineuropäischen Tradition gewachsenen acquis commun im Bereich des allgemeinen Vertragsrechts und des (vor allem verbrauchervertragsrechtlichen) acquis communautaire. Andererseits hätte eine derartige, nicht bloß äußerliche Zusammenführung jedoch eine Rekonzeptualisierung des Verbraucherschutzrechts vorausgesetzt, die bislang jedenfalls auf europäischer Ebene nicht geleistet worden ist.

d) DCFR und Frankreich

Dem erwähnten, zwecks Erarbeitung des DCFR zusammengestellten CoPECL network gehörten weiterhin die Association Henri Capitant des Amis de la Culture Juridique Française und die Société de Législation Comparée an. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe beider Organisationen hat in einem 2008 publizierten Band drei Leitprinzipien (principes directeurs) des europäischen Vertragsrechts (liberté contractuelle, sincerité contractuelle und loyauté contractuelle) ermittelt und kommentiert. In Auseinandersetzung mit diesem Dokument ist der oben erwähnte, diskursive Abschnitt über die den DCFR insgesamt tragenden Grundsätze entstanden, der den model rules des DCFR in der Outline Edition vorangestellt worden ist; in der Interim Outline Edition war er noch nicht enthalten gewesen. Die französische Arbeitsgruppe hat darüber hinaus ihrerseits eine revidierte Fassung der PECL vorgelegt; ferner hat sie eine rechtsvergleichende Studie zur Terminologie des europäischen Vertragsrechts publiziert. Diese beiden Dokumente haben offenbar keinen Niederschlag im DCFR gefunden.

4. Kritik

Das Projekt eines CFR und der von den erwähnten Wissenschaftlergruppen vorgelegte DCFR sind seit etwa 2006 Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion geworden. Dabei ist der DCFR zum Teil sehr kritisch beurteilt worden. Bemängelt worden ist insbesondere, dass der DCFR einem Abbau der Privatautonomie Vorschub leistet, die über die bisherigen Tendenzen zur „Materialisierung“ des Vertragsrechts deutlich hinausgeht; dass er mit einer Fülle von Generalklauseln und unbegrenzten Rechtsbegriffen auf eine massive Ausweitung ungesteuerter Richtermacht hinausläuft; dass die verschiedenen, in ihm zusammengefügten Textmassen untereinander unzureichend abgestimmt sind und dass insbesondere die blockweise, gedanklich nicht abgestimmte Integration des Verbraucher-acquis in den Gesamttext nicht geglückt ist; dass eine grundlegende Revision des Verbraucher-acquis bislang nicht stattgefunden hat; und dass der DCFR die Grenzlinien zwischen Lehrbuch und Gesetzestext verwischt. Auch wenn diese Kritik sich naturgemäß auf die Interim Outline Edition bezieht und die Verfasser des DCFR bei der Erstellung der Outline Edition in einzelnen Punkten darauf reagiert haben, bleibt sie in ihren Grundlinien bei der Einschätzung des DCFR doch weiterhin von Bedeutung. Was die in der Interim Outline Edition gegenüber der Outline Edition noch nicht enthaltenen Teile des DCFR betrifft (Bücher IV F. und H. sowie VIII-X), muss eine kritische Würdigung überhaupt erst noch beginnen.

5. Wie geht es weiter?

Wie es weitergehen wird, ist momentan nicht absehbar. Von erheblicher Bedeutung dürfte insoweit die Tatsache sein, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ihr Augenmerk seit etwa 2005 ganz vorrangig auf eine Überarbeitung des acquis communautaire im Bereich des Verbrauchervertragsrechts gerichtet zu haben scheint. Sie hat deshalb im Oktober 2008 den Vorschlag für eine Richtlinie über Verbraucherrechte (KOM(2008) 614/4) vorgelegt, durch die vier der bestehenden Richtlinien in einem einzigen Rechtsinstrument zusammengeführt werden sollen. Bemerkenswert an diesem Dokument ist, dass es offenbar unabhängig von, und unkoordiniert mit, dem DCFR entstanden ist. Richtlinien-Vorschlag und DCFR enthalten unterschiedliche Regelungen und verwenden eine unterschiedliche Terminologie. Im Grunde entsteht damit der Eindruck, dass der DCFR durch die geplante Richtlinie desavouiert wird. Jedenfalls ist fraglich geworden, ob aus dem DCFR kurz- oder mittelfristig ein in irgendeiner Weise politisch legitimierter CFR wird; denn das würde voraussetzen, dass die Europäische Kommission sich den DCFR, oder doch Teile davon, in irgendeiner Form zu eigen macht. Wie dieses „zu eigen machen“ aussehen könnte (d.h., welchen rechtlichen Status der CFR haben könnte), ist bislang unklar. Unklar ist aber auch, welche Ziele die Kommission letztlich mit einem solchen Dokument verfolgen könnte. Die Idee einer Kodifikation zentraler Teile des allgemeinen Zivilrechts auf europäischer Ebene hat sie inzwischen wiederholt zurückgewiesen. Vielmehr sieht sie in einem CFR eine Art „Werkzeugkasten“ (tool box) für künftige Gesetzgebung im Bereich des Vertragsrechts. Damit stellt sich aber die Frage, welche Bereiche des Vertragsrechts die Kommission in Zukunft zu regeln gedenkt. Verbreitet (und insbesondere auch auf dem Europäischen Juristentag in Wien artikuliert worden) ist in diesem Zusammenhang die Befürchtung, dass der CFR ein Einfallstor für eine immer weiterreichende europäische Regulierung des Vertragsrechts sein könnte. Dass der harmlos erscheinende Begriff des CFR im Grunde eine Camouflage ist, wird jedenfalls nicht nur von Kritikern des DCFR befürchtet, sondern auch von einigen seiner Verfasser offen ausgesprochen. Zur Debatte steht im Übrigen nach wie vor die Idee eines „optionalen Instruments“.

Erwähnenswert ist schließlich ein Zielkonflikt zwischen der Kommission und der Acquis Group einerseits sowie der Study Group, die ihre Vorstellungen bei der Vorbereitung des DCFR insoweit offenbar auch gegenüber der Acquis Group durchsetzen konnte, andererseits: Während die Kommission für den CFR von Anfang an das allgemeine Vertragsrecht (einschließlich des Verbrauchervertragsrechts), das Kaufrecht und das Versicherungsrecht im Auge hatte, reicht der vorgelegte DCFR darüber einerseits weit hinaus und bietet – etwa in seinem eben nicht nur auf das Vertragsrecht bezogenen Buch III – keine Grundlage für ein europäisches Vertragsrecht. Andererseits sind nun aber im DCFR die Versicherungsverträge gerade nicht enthalten. Hierzu hat eine Project Group Restatement of European Insurance Contract Law (Principles of European Insurance Contract Law) Modellregelungen erarbeitet, die im Laufe des Jahres 2009 separat veröffentlicht werden sollen. Der Grund für dieses separate Vorgehen liegt darin, dass das Versicherungsvertragsrecht ganz überwiegend auf zwingende Regeln setzt, die aber in einem unverbindlichen Regelwerk „ohnehin nicht mehr [wären] als ein Pfiff in den Wind“ (Jürgen Basedow).

Insgesamt ist die Erstellung des DCFR eine eindrucksvolle Leistung der beteiligten Wissenschaftlergruppen. Als akademisches Dokument wird er im künftigen Diskurs über europäisches Privatrecht eine wichtige Rolle einnehmen, ohne dabei freilich die Texte, auf denen er in der einen oder anderen Form beruht, zu verdrängen. Sehr zu bedauern ist der enorme zeitliche Druck, der aus politischen Gründen die Erstellung des DCFR geprägt hat. Gleichwohl ist gerade sein politisches Schicksal – ob und inwieweit er also zu einem offiziellen CFR wird – heute ungewisser denn je.

Literatur

Die Beiträge zum ZEuP-Symposium in Graz, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 109 ff.; die Beiträge von Thomas Pfeiffer und Wolfgang Ernst zur Potsdamer Zivilrechtslehrertagung, Archiv für die civilistische Praxis 207 (2007) 227 ff.; die Beiträge zum 4. Europäischen Juristentag, Abteilung 1, Europäisches Vertragsrecht, 2008, 1 ff. (Generalbericht 185 ff.); die Beiträge in European Review of Contract Law 3 (2007) 239 ff. und 4 (2008) 223 ff.; die Beiträge zum Schwerpunktheft (Heft 4) Draft Common Frame of Reference der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 673 ff.; Horst Eidenmüller, Florian Faust, Hans Christoph Grigoleit, Nils Jansen, Gerhard Wagner, Reinhard Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht: Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme, Juristenzeitung 2008, 529 ff.; Reiner Schulze, Christian von Bar, Hans Schulte-Nölke (Hg.), Der akademische Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen: Kontroversen und Perspektiven, 2008; Martin Schmidt-Kessel (Hg.), Der gemeinsame Referenzrahmen: Entstehung, Inhalte, Anwendung, 2009; Reinhard Zimmermann, Textstufen in der modernen Entwicklung des europäischen Privatrechts, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2009, 319 ff.

Abgerufen von Common Frame of Reference – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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