Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia
von Nils Jansen
1. Gegenstand und Zweck des Deliktsrechts
Mit dem Deliktsrecht regeln die europäischen Rechtsordnungen die nichtvertragliche private Haftpflicht für Schadensfälle. Dabei bezeichnet der Begriff des Deliktsrechts in einem spezifischen, engen Sinn das Recht der „unerlaubten Handlungen“, also die klassischen Tatbestände der Verschuldens- bzw. Unrechtshaftung, die in den kontinentalen Rechtsordnungen auf das römische Deliktsrecht zurückgehen. Verbreitet wird der Begriff aber auch in einem weiteren Sinne als allgemeiner Oberbegriff für sämtliche außervertraglichen Haftungen verstanden; er umfasst dann auch die diversen strikten Tatbestände einer Gefährdungs- oder Sachhalterhaftung, die in den einzelnen Rechtsordnungen das Deliktsrecht i.e.S. in unterschiedlicher Weise ergänzen.
Der Begriff des Deliktsrechts bildet einen spezifischen Terminus der gemeinrechtlichen Tradition; im common law ist stattdessen vom „law of torts“ bzw. „tort law“ (vom lateinischen bzw. später gerichtsfranzösischen tortus, gebrochen) die Rede. Während die kontinentalen Rechtsordnungen überall von – mehr oder weniger allgemein formulierten – Generalklauseln der Verschuldenshaftung (Art. 1382 Code civil; §§ 823 Abs. 1, 2, 826 BGB) ausgehen, beruhte das law of torts ursprünglich auf einer Vielzahl von gedanklich unverbundenen Einzeltatbeständen der Haftung (torts), wie trespass, negligence, battery, assault, false imprisonment, nuisance oder defamation. Ein struktureller Gegensatz zwischen verschuldensabhängigen und strikten torts bestand dabei gerade nicht. Allerdings hat der Gegensatz zwischen dem common law und den gemeinrechtlich geprägten Rechtsordnungen an Bedeutung verloren, weil auch im common law im Laufe des 20. Jahrhunderts eine allgemeine Haftung für negligence anerkannt worden ist (Donoghue v. Stevenson [1932] AC 562 (HL)), und weil die Lehre das law of torts zunehmend als ein gedanklich integriertes Rechtsgebiet (tort law) darstellt.
Das Deliktsrecht i.w.S. (im Folgenden: Haftungsrecht) bildet den zentralen privatrechtlichen Ausdruck der Verantwortlichkeit von Menschen und Unternehmen für die Schadensfolgen ihres Handelns: Mit der Haftpflicht wird von Rechts wegen statuiert, dass ein Schädiger für einen bestimmten Schaden verantwortlich ist. Vor allem aus der Perspektive der ökonomischen Analyse des Privatrechts dient das Haftungsrecht dabei zugleich der Prävention: Die potentielle Verpflichtung zum Schadensersatz setzt finanzielle Anreize, Gefahren effizient zu steuern, also wirtschaftlich sinnvolle Präventionsmaßnahmen zu ergreifen bzw. unwirtschaftliche Risiken zu vermeiden. Zugleich wird dem Haftungsrecht aber auch eine „Ausgleichsfunktion“ zugeschrieben, wonach es dazu diene, Geschädigten einen Ausgleich für erlittene Schäden zu verschaffen. In dieser Funktion bildet das Haftungsrecht freilich nicht mehr als ein Teilstück in einem komplexen System von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Ausgleichsinstrumenten; es wird zunehmend von Instituten wie der Sozial-, Sach- und Haftpflichtversicherung ergänzt und überlagert. Die praktische Wirkung des Haftungsrechts beschränkt sich insoweit auf eine Steuerung des Regresses zwischen kollektiven Schadensträgern, wobei der Regress dabei allerdings häufig durch pauschale Rahmenabkommen geregelt ist.
2. Tendenzen der Rechtsentwicklung
Das 20. Jahrhundert war überall in Europa ein Jahrhundert der – funktionalen wie dogmatischen – Wandlungen des Deliktsrechts, dessen Regeln sich zuvor im 19. Jahrhundert als zunehmend dysfunktional und wertungsinadäquat erwiesen hatten. Zentrale Entwicklungslinien waren dabei eine signifikante Ausweitung der Verantwortlichkeit auch für nur mittelbare Handlungsfolgen und die Folgen eines Unterlassens, ferner eine Ablösung des naturrechtlichen „Verschuldensaxioms“, wonach eine private Haftung stets eine schuldhafte, rechtswidrige Schädigung voraussetzen sollte, und schließlich die Einbettung des Haftungsrechts in kollektive versicherungs- und sozialrechtliche Schadensausgleichssysteme bzw. seine Überlagerung oder Ablösung durch derartige Instrumente.
Alle kontinentalen Generalklauseln einer deliktischen Verschuldenshaftung finden ihre Wurzel in der lex Aquilia (287/286 v. Chr.), einem römischen Plebiszit zur Haftung für Sachbeschädigungen. Die bis heute haftungssteuernden Begriffe „Schaden“ (damnum), „Rechtswidrigkeit“ (iniuria) und „Verschulden/Fahrlässigkeit“ (culpa) sind im Rahmen dieser Diskussionen geprägt worden. Freilich war das römische Deliktsrecht ursprünglich weder funktional noch konzeptionell am fairen Schadensausgleich ausgerichtet, sondern diente der angemessenen Sanktion erlittenen Unrechts; Gleiches gilt für das alte common law of torts. Bereits im römischen Recht hatte sich deshalb das deliktische Begriffsinstrumentarium für den Schadensausgleich als wenig adäquat erwiesen. Gleichwohl hatte man aber nach der Rezeption des römischen Rechts an den römischen Klagen festgehalten und diese für den Schadensausgleich heranziehen können, weil das römische Konzept einer culpa levissima (allerleichteste Fahrlässigkeit) eine weite Zurechnung auch unabhängig von einem Fehlverhalten ermöglichte. Nachdem sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch – auch im common law – ein wesentlich engeres, naturrechtliches Verständnis (Naturrecht) des Verschuldens durchgesetzt hatte, so dass schuldhaftes Handeln jetzt stets eine persönlich vorwerfbare „unerlaubte Handlung“ (Christian Wolff) bedeutete, vermochte das Deliktsrecht keinen angemessenen Schadensausgleich mehr zu leisten. Die neuartigen Industrierisiken verschärften diesen Eindruck. Zwar war die Welt dadurch nicht gefährlicher geworden, doch konnten einzelne Unfallschäden ein bis dahin ungekanntes Ausmaß erreichen, wenn sie nicht nur die Nachbarschaft, sondern eine ganze Gegend verwüsteten. Zudem trafen die Risiken der Arbeit in Zeiten der Industrialisierung typischerweise die Fabrik- oder Bahnarbeiterschaft und wurden damit zugleich zu einem gravierenden sozialen Problem.
Die meisten Rechtsordnungen haben auf diese Probleme mit einer Betonung der Ausgleichsfunktion des Deliktsrechts einerseits und mit einer versicherungsmäßigen Abfederung der Haftpflicht (Haftpflichtversicherung) andererseits reagiert. Freilich bestehen erhebliche Unterschiede im Einzelnen: Neben die traditionelle Verschuldenshaftung traten strikte Haftungen (Gefährdungshaftung, Sachhalterhaftung) – gesetzlich 1838 in Preußen, richterrechtlich als gardien-Haftung für faits des choses 1896/1930 in Frankreich. Parallel wurden Haftpflichtversicherungen für diese Haftungen eingeführt; und zugleich wurden Personen- und Arbeitsausfallschäden in der Arbeitsunfallversicherung (zuerst 1884 in Deutschland) und später durch die Sozial- und Krankenversicherungen sowie auch durch arbeitsrechtliche Instrumente direkt abgesichert. Seit den 1960er Jahren haben diese Entwicklungen dann zu einer Grundlagendiskussion über die Funktionen und die Funktionalität des Haftungsrechts geführt, das als ineffizient, teuer und unfair galt: In der Tat verursacht das Haftungsrecht verhältnismäßig hohe Prozesskosten; und es kann keine vollständige Absicherung gegen Schadensrisiken leisten, weil nur solche Schäden ausgeglichen werden, für die ein Schädiger verantwortlich ist. Dabei gelten die meisten Regresslösungen als unbefriedigend und überaus kostspielig; und an der Präventionswirkung des Haftungsrechts bestehen ohnehin erhebliche Zweifel: Sie tritt jedenfalls dort in den Hintergrund, wo die Haftpflicht versichert ist bzw. Unfallschäden zunächst von einem kollektiven Versicherungsträger getragen werden. Bei Personenschäden ist das fast durchgängig der Fall.
Gleichwohl haben aber alle europäischen Rechtsordnungen an einem privaten Haftungsrecht festgehalten und dies allenfalls partiell durch kollektive Lösungen ergänzt; nur in Neuseeland ist es zu einer weitgehenden Ablösung des Deliktsrechts durch eine sozialrechtliche Lösung gekommen. Damit hat das Haftungsrecht zwar erheblich an praktischer Bedeutung verloren; es bleibt aber ein tragendes Element der europäischen Privatrechtsordnungen. Der Grund dafür findet sich nicht in funktionalen Überlegungen, sondern in der Tatsache, dass die private Haftpflicht ein unverzichtbares Element der westlichen öffentlichen Moral bildet. Sie ist Ausdruck dessen, was es bedeutet, eine Person zu sein, nämlich die Verantwortung für die Folgen eigenen Handels übernehmen zu müssen.
3. Regelungsstrukturen
Jeder außervertragliche Haftungstatbestand setzt seitens des Geschädigten einen von Rechts wegen ersatzfähigen Verlust, seitens des Schädigers einen besonderen haftungsbegründenden Zurechnungstatbestand und schließlich die Kausalität des vom Schädiger zu verantwortenden Risikos oder Verhaltens für den fraglichen Schaden voraus. Soweit der Kausalitätsnachweis dabei strukturell unmöglich oder schwierig ist, weil sich Zusammenhänge nur abstrakt bzw. statistisch nachweisen lassen – etwa wenn mehrere Produzenten schädlicher Stoffe alternativ oder kumulativ als Schädiger in Betracht kommen – zeigt sich in jüngerer Zeit eine Tendenz, die Beweisanforderungen insoweit abzuschwächen oder den Schädiger nur noch anteilig haftbar zu machen. Dies wird insbesondere auch in den neueren Vorschlägen zur Vereinheitlichung des Haftungsrechts deutlich, die unabhängig voneinander von der European Group on Tort Law (Art. 3:102-3:106 PETL, Principles of European Tort Law) und der Study Group on a European Civil Code vorgelegt worden sind (Art. 3:206(1), 4:103 PEL Liab. Dam.). Ein besonders weitreichendes Modell besteht dabei in einer Marktanteilshaftung, bei der mögliche Schädiger nach ihrem Marktanteil an der schädigenden Substanz für einen Schaden einstehen müssen. Dann geht es freilich mehr um die kollektive Verantwortlichkeit einer Gruppe von Produzenten als um die individuelle Verantwortlichkeit eines Unternehmens. Gleichwohl haben amerikanische und einige europäische Gerichte in diese Richtung entschieden; auch die European Group on Tort Law sieht eine solche Regelung vor (Art. 3:103, 3:105 PETL).
Neben der Kausalität betreffen die wesentlichen Strukturentscheidungen eines jeden Deliktsrechts die Beschreibung der geschützten Interessen bzw. Rechtsgüter einerseits und das Verhältnis der traditionellen deliktsrechtlichen Verschuldenshaftung zu den strikten Haftungen (Gefährdungshaftung) andererseits. Die erste Entscheidung betrifft die geschützten Interessen von Geschädigten, die zweite die Reichweite der Verantwortlichkeit von Schädigern. Beide Problemkreise sind im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert worden. Die Entscheidungen bilden jeweils einen Ausdruck fundamentaler gesellschaftlicher Wertüberzeugungen. So betont das französische Recht mit einer ausgesprochen geschädigtenfreundlichen Haltung offenbar das Ideal der fraternité auch im Privatrecht. Nirgends sonst gilt eine derart weite strikte Haftung, und nirgends sonst sind Richter bei primären Vermögensschäden gleichermaßen großzügig. Umgekehrt ist das englische Recht von jeher wesentlich liberaler, weil es davon ausgeht, dass freie Bürger für ihr Glück grundsätzlich selbst verantwortlich sind.
Trotz derartiger Wertungsdifferenzen zeigen sich auch grundlegende strukturelle Parallelen zwischen den einzelnen Rechtsordnungen. Zum einen behandeln alle Rechtsordnungen unterschiedliche Schadenstypen differenziert. Grundsätzlich setzt ein Haftungsanspruch einen besonderen Schadenserfolg voraus: eine Verletzung des Eigentums im weitesten Sinn, einschließlich der Immaterialgüterrechte, eine Verletzung der Person oder der Persönlichkeit oder die Beeinträchtigung eines vergleichbaren Interesses. Andere Schadenstypen, insbesondere die sog. primären Vermögensschäden, sind demgegenüber grundsätzlich nicht ersatzfähig. Im Einzelnen zeigen sich freilich gerade hier erhebliche Differenzen sowohl im dogmatischen Ansatz als auch in den Ergebnissen. Nicht alle Rechtsordnungen differenzieren unterschiedliche Schadenstypen auf diese Weise ausdrücklich; insbesondere scheint das französische Recht einem solchen Ansatz mit der offenen Formulierung des Art. 1382 Code civil eine Absage zu erteilen. Allerdings gelangen Richter auch dort zu einer vergleichbaren Rechtsgutsdifferenzierung, indem sie auf Überlegungen zum Schaden, zum Verschulden oder zur Kausalität rekurrieren. Umgekehrt sind auch in Rechtsordnungen, deren Deliktsrecht im Ansatz eng formuliert ist, primäre Vermögensschäden unter bestimmten Umständen ersatzfähig; insbesondere gilt das bei einer sittenwidrig vorsätzlichen Schädigung und bei einem rechtsgeschäftlich begründeten Vertrauenstatbestand (culpa in contrahendo).
Angesichts dessen haben die European Group on Tort Law und die Study Group on a European Civil Code Kompromisslösungen vorgeschlagen. Einerseits verzichten sie auf eine abschließende Auflistung der deliktisch geschützten Interessen; andererseits betonen sie aber das Erfordernis eines qualifizierten Schadens bzw. der Verletzung eines von Rechts wegen geschützten Interesses und listen in diesem Zusammenhang eine Reihe einschlägiger Wertungsaspekte auf, die im Wege einer Abwägung zu berücksichtigen seien (Art. 2:101 PEL Liab.Dam.; Art. 2:101(f) PETL). Die Vorschläge lassen damit wesentliche Fragen, insbesondere auch die Abgrenzung des Haftungsrechts vom Vertragsrecht, ungeregelt und suggerieren in einer irreführenden Weise, dass haftungsrechtliche Entscheidungen stets eine umfassende Abwägung aller betroffenen Interessen erfordern. Gerade bei der Frage nach den geschützten Interessen ist das jedoch nicht der Fall.
Die zweite Grundfrage des Haftungsrechts betrifft das Verhältnis des traditionellen Deliktsrechts zu den neueren strikten Haftungstatbeständen (Gefährdungshaftung). Hier gehen die Rechtsordnungen Europas von einer „Zweispurigkeit des Haftungsrechts“ aus, wonach die besonderen strikten Haftungstatbestände gedanklich unverbunden neben der Verschuldenshaftung stehen, verbreitet als Ausnahmen gelten und eine besondere Begründung verlangen. Allerdings gilt dieser Rechtszustand zunehmend als unbefriedigend. Denn der Gedanke der Zweispurigkeit führt dogmatisch und wertungsmäßig in die Irre. Eine klare Trennlinie zwischen der strikten Haftung und der Verschuldenshaftung lässt sich nämlich nicht ziehen; vielmehr besteht überall ein gleitender Übergang zwischen mehr oder weniger strikten Haftungstatbeständen. Funktional und im Ergebnis sind strikte Haftungen und das traditionelle Deliktsrecht weitgehend äquivalent. Dabei beruhen die strikten Haftungen und die Haftung für ein Fehlverhalten auf gleichen Wertungen. Sie bilden jeweils einen Ausdruck individueller Verantwortlichkeit, wobei es auch bei der Fahrlässigkeitshaftung häufig weniger um ein genuines Fehlverhalten als um ausgleichsbezogene Wertungen geht, etwa um die bessere Versicherbarkeit von Risiken oder um die Internalisierung von Produktionsrisiken in Unternehmen. Offenbar findet sich der tragende, übergreifende Grund für die unterschiedlichen Haftungstatbestände nicht in dem römischen Gedanken der Rechtswidrigkeitshaftung, sondern in der Maxime eines umfassenden privatrechtlichen Rechtsgüter- und Grundrechtsschutzes. Seit der frühen Neuzeit hat dieser ursprünglich naturrechtliche Gedanke (Naturrecht) die europäischen Haftungsrechtsordnungen jedenfalls ganz wesentlich geprägt.
Anders als die Study Group on a European Civil Code, die trotz dieser Befunde am traditionellen Strukturmodell festhält, hat die European Group on Tort Law sich um eine Überwindung der Zweispurigkeit bemüht: Sie will einen gleitenden Übergang zwischen der strikten Haftung und dem Deliktsrecht einführen; und sie hat sich auch die Annahme zu eigen gemacht, dass die Verantwortlichkeit für die Beeinträchtigung eines rechtlich geschützten Interesses einen selbständigen Grund für die Haftung bildet. Gleichwohl bleibt das Regelwerk aber den tradierten Kategorien des Haftungsrechts verhaftet; insbesondere beruht es – unausgesprochen – auf dem Gedanken der Rechtswidrigkeit als grundlegendem und übergreifendem Grund jeder Haftung. Nur terminologisch ist die Rechtswidrigkeit als Grundkonzept des Haftungsrechts verabschiedet worden. Rechtstechnisch bringen die PETL den gleitenden Übergang zwischen der Verschuldens- und der Gefährdungshaftung deshalb nur mittels einer Umkehr der Beweislast für das Verschulden bei besonderer Gefahr und bei der Unternehmenshaftung zum Ausdruck (Art. 4:201 (f) PETL). Sie machen damit in einer misslichen Weise die substantielle Frage der Intensität der Haftung von den letztlich zufälligen Umständen der Beweislage abhängig. Konzeptionell bleibt die strikte Haftung damit streng von der Fahrlässigkeitshaftung getrennt und ist deshalb mittels enger, spezieller Tatbestände geregelt; umgekehrt ist die Fahrlässigkeitshaftung von Elementen einer strikten Haftung gänzlich freigehalten worden. Insoweit bilden die PETL ein durchaus zutreffendes Bild des europäischen Haftungsrechts: Zwar steht fest, dass es die traditionelle Zweispurigkeit zu überwinden gilt, doch ist unklar, wie das konzeptionell adäquat geschehen kann.
4. Rechtsvereinheitlichung
In der Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung hat das Haftungsrecht lange im Schatten des Vertragsrechts gestanden; erst mit den Arbeiten Christian von Bars hat es eine breitere Aufmerksamkeit gefunden. Zugleich ist die Rechtsvereinheitlichung hier mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, weil sich nur für das Deliktsrecht i.e.S. gleiche Regelungsstrukturen finden lassen, die sich jedoch als konzeptionell und teleologisch inadäquat erwiesen haben. Sowohl die Study Group on a European Civil Code als auch die European Group on Tort Law sind deshalb in einem erheblichen Maße innovativ vorgegangen. Insbesondere haben sie ihre Regelwerke weitgehend als „bewegliche Systeme“ im Sinne Walter Wilburgs formuliert, ohne freilich im Einzelnen zu prüfen, wie weit das Haftungsrecht tatsächlich beweglich ist, also auf wechselseitig abwägungsfähigen und abwägungsbedürftigen Prinzipien beruht. Das macht beispielhaft deutlich, wie wenig geklärt die normativen und dogmatischen Grundlagen des Haftungsrechts heute sind. Entsprechend kontrovers werden derartige Vorschläge diskutiert. Für sinnvolle Schritte zur Rechtsvereinheitlichung ist es daher viel zu früh; freilich besteht dafür auch allenfalls in Einzelfragen ein wirtschaftliches Bedürfnis. Auch die Europäische Union hat hier nur sehr punktuell eingegriffen: Vereinheitlicht sind hier – neben der Produkthaftung (RL 85/374) und der Umwelthaftung (RL 2004/35) – im Wesentlichen nur das Staatshaftungsrecht für die Verletzung europarechtlicher Vorgaben durch die Nationalstaaten (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357) sowie die außervertragliche Haftung der Europäischen Union selbst.
Literatur
Guido Calabresi, The Costs of Accidents, 1970; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996, 902 ff.; Christian v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, 1996 und Bd. 2, 1999; David J. Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, 1999, 39 ff., 95 ff., 155 ff.; Tony Honoré, Responsibility and Fault, 1999; Nils Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, 2003; Reinhard Zimmermann (Hg.), Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, 2003; Wolfgang Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003; Reinhard Zimmermann, Principles of European Contract Law and Principles of European Tort Law, in: Helmut Koziol, Barbara Steininger (Hg.), European Tort Law 2003, 2004, 2 ff.; Nils Jansen, Duties and Rights in Negligence: A Comparative and Historical Perspective on the European Law of Extracontractual Liability, Oxford Journal of Legal Studies 24 (2004) 443 ff.; idem, Principles of European Tort Law? Grundwertungen und Systembildung im europäischen Haftungsrecht, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 70 (2006) 732 ff.; Cees van Dam, European Tort Law, 2006.