Sachhalterhaftung

Aus HWB-EuP 2009

von Gerhard Wagner

1. Terminologie

Die Sachhalterhaftung – mitunter auch „Sachhaftung“ oder „Gardienhaftung“ genannt – ist ein Haftungsprinzip des französischen Rechts: responsabilité du fait des choses. Von dort aus hat sie die Tochterrechtsordnungen des Code civil beeinflusst, nämlich das belgische, luxemburgische, italienische und das portugiesische Recht, aber auch das Recht der Niederlande. Sachhalterhaftung bedeutet die verschuldensunabhängige Einstandspflicht des Halters einer Sache als derjenigen Person, die die Herrschaftsmacht über eine Sache innehat.

Dem deutschen Recht ist das Institut der Sachhalterhaftung unbekannt; insbesondere ist die Sachhalterhaftung nicht zu verwechseln mit der in § 311 Abs. 3 BGB geregelten Sachwalterhaftung. Das deutsche außervertragliche Haftungsrecht operiert vielmehr mit dem zweispurigen System von Verschuldens- und an die Gefährlichkeit einer Sache oder Aktivität knüpfender Gefährdungshaftung. Gleiches gilt für das englische common law und für die übrigen europäischen Rechtssysteme außerhalb des französischen Rechtskreises (Rechtskreislehre).

2. Das französische Recht

Die französische Sachhalterhaftung hat ihre gesetzliche Grundlage in Art. 1384 Abs. 1 Code civil, der in seiner zweiten Alternative formuliert: „On est responsable … du dommage … causé par le fait des choses que l’on a sous sa garde“. Ursprünglich war diese Aussage lediglich als Hinweis auf die folgenden Art. 1385, 1386 Code civil gemeint, die Tierhalter und Gebäudeeigentümer verschuldensunabhängigen Haftungen unterwerfen. Erst die Rechtsprechung hat diese deklaratorisch gemeinte Aussage in mehreren, spektakulären Schritten umfunktioniert zu einer objektiven, verschuldensunabhängigen Haftung für Sachen jeglicher Art.

Der erste Schritt in diese Richtung war der arrêt du remorqueur aus dem Jahre 1896 (Cour de Cassation, Cass. civ. 16.6.1896, DP 1897 I, 433). Der Dampfkessel eines Schleppers war explodiert und hatte den auf dem Schlepper beschäftigten Arbeiter tödlich verletzt, ohne dass dem Arbeitgeber eine Pflichtverletzung (faute) nachgewiesen werden konnte. Um die Haftung dennoch begründen zu können, interpretierte die Cour de Cassation Art. 1384 Abs. 1 Code civil um in eine eigenständige Anspruchsgrundlage für eine Haftung aus vermutetem Verschulden. Den zweiten Schritt hin zu der heute praktizierten objektiven verschuldensunabhängigen Haftung vollzog das Gericht im Jahre 1930 mit dem sog. arrêt Jand’heur, in dem es um die Kollision einer Passantin mit einem Lkw ging (Cour de Cassation, Cass. ch. réunies 13.2.1930, D 1930 I, 57). In dieser Entscheidung rückte die Cour de Cassation von dem Verständnis des Art. 1384 Abs. 1 Code civil als Verschuldensvermutung (présomption de faute) ab zugunsten einer – selbstverständlich unwiderleglichen – Haftungsvermutung (présomption de responsabilité). Die heutige Doktrin versteht Art. 1384 Abs. 1 Code civil ganz offen als Anspruchsgrundlage für eine gesetzliche Haftung, die an das bloße Innehaben einer Sache geknüpft ist und eine Pflichtverletzung weder voraussetzt noch vermutet (responsabilité de plein droit).

Die Sachhalterhaftung gilt für Sachen jeglicher Art, seien sie beweglich oder unbeweglich, belebt oder unbelebt. Im Unterschied zur Gefährdungshaftung kommt es auch nicht darauf an, ob Sachen der jeweiligen Gattung als solche gefährlich sind, und genauso irrelevant ist es, ob die Sache in sicherheitsrelevanter Hinsicht fehlerhaft ist oder aus sonstigen Gründen ein individuelles Schadensrisiko darstellt. Ersatzpflichtig ist der gardien der Sache, d.h. der Halter als Inhaber der Herrschaftsmacht, also derjenige, der usage, direction et contrôle über die Sache hat. Auch Minderjährige und selbst Kleinkinder können gardiens sein. Eine Entlastung des Sachhalters kommt nicht schon dann in Betracht, wenn er nachweist, die gebotenen Sorgfaltsmaßnahmen ergriffen zu haben, wohl aber bei höherer Gewalt (force majeure). Dafür muss der Schaden durch eine unvorhersehbare und unabwendbare äußere Ursache verursacht worden sein (une cause étrangère imprévisible et irrésistible). Mitverschulden des Opfers (faute de la victime) führt regelmäßig nur zur Minderung des Ersatzanspruchs, die schuldhafte Mitverursachung des Schadens durch einen Dritten (fait d’un tiers) regelmäßig nur zu einem Ausgleich im Innenverhältnis der nach außen gesamtschuldnerisch haftenden Schädiger.

Die mehrfache Uminterpretation des Art. 1384 Abs. 1 Code civil durch die Cour de Cassation zum Zwecke der Haftungsbegründung konnte nicht verhindern, dass die Sachhalterhaftung in Frankreich in verschiedene Sondertatbestände zersplittert ist. Die Spezialgesetze betreffen durchweg Fälle, die in anderen Ländern der Gefährdungshaftung unterliegen. Praktisch von überragender Bedeutung ist die Loi Badinter von 1985, die eine im Interesse des Opferschutzes noch stärker objektivierte Haftungsregelung für Straßenverkehrsunfälle eingeführt hat. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann Art. 1384 Abs. 1 Code civil heute nur noch eingeschränkt als Generalklausel angesprochen werden. Richtig ist dies nur in dem Sinne, dass für Sachen, die keinem Spezialregime der Gefährdungshaftung unterliegen, die allgemeine Sachhalterhaftung des Code civil eingreift.

Die Sachhalterhaftung ist einer der Gegenstände des aktuellen französischen Projektentwurfs zur Reform des Obligationenrechts (Avant-projet de réforme du droit des obligations). Die vorbereitende Arbeitsgruppe hat erwogen, die Sachhalterhaftung durch eine Gefährdungshaftung zu ersetzen, die an die besondere Gefährlichkeit einer Sache oder Aktivität zu knüpfen gewesen wäre. Dieser Vorschlag hat sich nicht durchsetzen können; der Projektentwurf behält die Sachhalterhaftung vielmehr bei, führt jedoch zusätzlich eine dem französischen Recht bislang unbekannte Generalklausel der Gefährdungshaftung für activités anormalement dangereuses ein (Art. 1362 Avant-projet). Die Sachhalterhaftung ihrerseits soll sogar deutlich ausführlicher geregelt werden als bisher, und zwar durch Kodifikation des von der Cour de Cassation entwickelten Rechtszustands. Art. 1354 Avant-projet formuliert: „On est responsable de plein droit des dommages causés par le fait des choses que l’on a sous sa garde“; darauf folgen Präzisierungen der Begriffe fait de la chose und gardien sowie eine Klarstellung, dass weder ein Fehler der Sache noch eine physische Beeinträchtigung des Halters zur Entlastung führen (Art. 1354(1)-(4) Avant-projet).

3. Andere europäische Rechtsordnungen

Die Sachhalterhaftung nach französischem Vorbild hat großen Einfluss auf andere europäische Rechtsordnungen ausgeübt, die den Code Napoléon übernommen oder sich an ihm orientiert haben. Zu nennen sind Luxemburg, Belgien, Italien, Portugal und die Niederlande. Das spanische Recht stellt die einzige europäische Tochterrechtsordnung des französischen Code civil dar, der die Sachhalterhaftung fremd ist.

Art. 1384 Abs. 1 Code civil findet sich wortgenau im luxemburgischen und belgischen Recht. Der französischen Rechtsprechung folgend wird Art. 1384 Abs. 1 dort ebenfalls als eigenständige Anspruchsgrundlage interpretiert, die zu einer objektiven gesetzlichen Haftung führt. Während die luxemburgische Rechtsprechung der französischen bis ins Detail folgt, hat der belgische Kassationshof einen eigenständigen Weg beschritten und die Haftung auf Fälle begrenzt, in denen die Sache einen sicherheitsrelevanten Fehler aufweist. Damit ist die Sachhalterhaftung in eine Gefährdungshaftung verwandelt worden.

Während in Luxemburg und in Belgien die französische Entwicklung von den lokalen Gerichten mehr oder weniger nachvollzogen wurde, hat in Italien, Portugal und den Niederlanden der Gesetzgeber zugunsten der Sachhalterhaftung interveniert. Der italienische Codice civile von 1942 stellt die erste europäische Kodifikation dar, die bewusst eine allgemeine Sachhalterhaftung etabliert (Art. 2051 Codice civile). Sie wurde von der Rechtsprechung als Haftung aus unwiderleglich vermutetem Verschulden qualifiziert, von der sich der Schädiger nur durch den Nachweis eines Zufalls befreien kann. Die dogmatische Einordnung im Sinne einer Verschuldensvermutung hat zur Folge, dass sie auf das Außenverhältnis zum Geschädigten begrenzt werden konnte und der Innenausgleich unter Gesamtschuldnern weiterhin dem Verschuldensprinzip unterstellt bleibt. Eine weitere Variante hat das portugiesische Recht entwickelt, indem es die Sachhalterhaftung als Haftung aus widerleglich vermutetem Verschulden ausgestaltet (Art. 493 Abs. 1 Código civil). Sowohl im italienischen als auch im portugiesischen Recht tritt neben diese allgemeine Sachhalterhaftung eine Generalklausel für gefährliche Tätigkeiten (Art. 2050 Codice civile, Art. 493 Abs. 2 Código civil). Ausgestaltet ist diese Haftung für gefährliche Tätigkeiten allerdings nicht im Sinne einer strikten Haftung, sondern als Haftung aus widerleglich vermutetem Verschulden.

Auch das niederländische Recht kennt in Art. 6:173 Abs. 1 BW eine Form der Sachhalterhaftung. Anders als in Frankreich ist sie jedoch in doppelter Hinsicht begrenzt, nämlich auf bewegliche Sachen, die zudem eine besondere Gefahr für ihre Umwelt darstellen müssen. Das Erfordernis einer besonderen Gefahr wird nach den Grundsätzen der Produkthaftungs-RL (RL 85/‌473) präzisiert im Sinne einer Enttäuschung berechtigter Sicherheitserwartungen.

Dem in Österreich im Jahre 2005 vorgelegten, hoch kontrovers diskutierten und sodann im Jahre 2007 überarbeiteten Entwurf zur Reform des Schadensersatzrechts ist eine allgemeine Sachhalterhaftung fremd. Halter von Quellen hoher Gefahr werden vielmehr einer Gefährdungshaftung unterstellt. Normative Grundlagen dieser Haftung ist nicht die Innehabung einer Sache, sondern die besondere Gefährlichkeit einer Aktivität. Derjenige, der lediglich Quellen besonderer Gefahr schafft oder aufrechterhält, haftet nach dem Entwurf aus vermutetem Verschulden.

4. Vereinheitlichungsprojekte

Den beiden großen Vereinheitlichungsprojekten des europäischen außervertraglichen Haftungsrechts, den Principles of European Tort Law (PETL) der European Group on Tort Law und dem die außervertragliche Haftung betreffenden VI. Buch des Draft DCFR, ist eine allgemeine Sachhalterhaftung unbekannt. Beide Entwürfe entscheiden sich vielmehr für ein dualistisches System aus Verschuldens- und Gefährdungshaftung. Wer eine außergewöhnlich gefährliche Aktivität ausführt, haftet nach Art. 5:101 PETL ohne Verschulden für solche Schäden, die durch die Aktivität verursacht wurden und sich als Realisierung des aktivitätsspezifischen Risikos darstellen. Zwar soll der Begriff „Aktivität“ die Haftung nicht auf gefährliches Verhalten beschränken, sondern auch die Innehabung gefährlicher Sachen umfassen. Anknüpfungspunkt für die Haftung gemäß Art. 5:101 PETL bleibt jedoch die Schaffung einer besonderen Gefahr, nicht hingegen die Innehabung einer Sache. Art. 5:101 PETL ist somit eine Generalklausel der Gefährdungshaftung, keine Generalklausel der Sachhalterhaftung. Der DCFR kennt gleichfalls keine Sachhalterhaftung. Im Abschnitt 2 von Buch VI über Accountability without intention or negligence ist eine Reihe von Tatbeständen der Gefährdungshaftung aufgelistet, etwa für Tiere, Kraftfahrzeuge sowie für gefährliche Stoffe und Emissionen. Darunter ist kein einziger Fall, in dem die strikte Haftung an die bloße Innehabung einer – möglicherweise ungefährlichen – Sache geknüpft ist. Das Institut der Sachhalterhaftung scheint sich daher international nicht durchzusetzen und eine Besonderheit des französischen Rechtskreises zu bleiben.

Literatur

Louis Josserand, De la responsabilité du fait des choses inanimées, 1897; Emile Bonnet, De la responsabilité du fait des choses (théorie générale), 1908; Ulrich M. Hübner, Die Haftung des Gardien im französischen Zivilrecht, 1972; Bernhard A. Koch, Die Sachhaftung, 1992; Fabrice Leduc, Jean-Pierre Bourgois, Patrice Jourdain, La responsabilité du fait des choses, 1997; Christian von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, 1996, 117 ff.; Geneviève Schamps, La mise en danger: Un concept fondateur d’un principe général de responsabilité, 1998; Bernhard A. Koch, Helmut Koziol (Hg.), Unification of Tort Law: Strict Liability, 2002; Cees van Dam, European Tort Law, 2006.

Abgerufen von Sachhalterhaftung – HWB-EuP 2009 am 30. Oktober 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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