Ökonomische Analyse des Europäischen Privatrechts

Aus HWB-EuP 2009

von Rainer Kulms

1. Ausgangsfragen

Die Ökonomische Analyse des Rechts hat ihren Ursprung im US-amerikanischen Recht. Sie war dort anfangs mit dem Bedürfnis zu erklären, im Bereich des Kartellrechts, der regulierten Industrien, des Steuerrechts und bei der Bemessung von Schadensersatz verlässliche Beurteilungsmaßstäbe zu finden. Mittlerweile hat die Ökonomische Analyse alle Rechtsbereiche erfasst. Mit ihrer Hilfe werden Rechtsnormen, richterliche Entscheidungen und staatliche Eingriffe auf ihre (ökonomischen) Folgen untersucht. Hierbei spielen auch normative Erwägungen eine wichtige Rolle, indem die Folgen von Regelkomplexen aus wohlfahrtstheoretischer Sicht bewertet und gegebenenfalls von Effizienzüberlegungen gesteuerte Verbesserungsvorschläge entwickelt werden. Dabei arbeitet die Ökonomische Analyse des Rechts mit Verhaltensannahmen, die ihrerseits eine Prognoseentscheidung über die Auswirkungen einer Norm (und der durch sie angeordneten Sanktion) ermöglichen sollen: Die Normadressaten reagieren rational und nutzenmaximierend. Rechtliche Sanktionen entfalten die gleichen Eigenschaften wie Preise; sie verteuern bestimmte Verhaltensweisen gegenüber anderen. Die von einer Norm erzeugten Folgen sind effizient, wenn sie den gesellschaftlichen Wohlstand erhöhen. Hierbei sind nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Gerichte aufgerufen, in ihrer Entscheidungspraxis zu Ergebnissen zu gelangen, die jedenfalls nicht wohlfahrtsmindernd wirken.

Die Ökonomische Analyse des Rechts ist innerhalb eines Rechtssystems entstanden, das sich auf das common law und richterliche Präjudizientechnik (Precedent, Rule of) bei der Entscheidungsfindung stützt. Hierbei geht es nicht um die Streitfrage, ob das common law zu effizienteren Lösungen findet als etwa die Kodifikationen der kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass das common law einem evolutiven Regelungsansatz verpflichtet ist, bei dem die Fortentwicklung des Rechts durch private Regelbildung (private ordering durch Vertrag) und die Anpassungsfähigkeit an veränderte ökonomische und tatsächliche Umstände eine zentrale Rolle spielen.

2. Ökonomische Analyse und Privatrechtsbegriff

Die Annäherung an das Europäische Privatrecht mit dem Instrumentarium der Ökonomischen Analyse führt zu klassifikatorischen und methodologischen Problemen, die auf den Besonderheiten der Europäischen Integration und unterschiedlichen Regulierungsphilosophien bei der Gewinnung privatrechtlicher Grundsätze für die Gemeinschaft beruhen. Rechtsvergleichende Untersuchungen fördern Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Privatrechtssysteme zutage. Sie entfalten eine normative Dynamik, wenn sie mit dem Ziel durchgeführt werden, innerhalb der Gemeinschaft einheitliche Rechtsgrundsätze aufzustellen. Am deutlichsten kommt diese Stoßrichtung in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom September 2008 zum Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht zum Ausdruck. Das Parlament fordert die Europäische Kommission auf zu berücksichtigen, dass der Gemeinsame Referenzrahmen weit über ein rein legislatives Instrument hinausgehe und sich zu einem fakultativen Instrument entwickeln könne. In diesem Zusammenhang ist unter wohlfahrtstheoretischen Gesichtspunkten zu prüfen, ob die Rechtsvergleichung unweigerlich auf gemeinschaftsrechtliche Normen hinausläuft. Schließlich ist auch denkbar, dass die Rechtsvergleichung in ein Plädoyer für mehr Rechtswahlfreiheit einmündet, deren Grenzen effiziente Kollisionsklauseln des internationalen Privatrechts bestimmen.

Der rechtshistorische Privatrechtsbegriff leugnet nur scheinbar die wohlfahrtstheoretische Relevanz evolutiver Rechtsentwicklung. Die gedankliche Anknüpfung an die Rechtstraditionen des common law unterstellt, dass sich Rechtsgrundsätze ohne gezielten kodifikatorischen Eingriff fortentwickeln und dabei effiziente Lösungen hervorbringen, die sich im Privatrechtsalltag als tragfähig erweisen. Es ist hierbei nur ein kleiner Schritt bis zu der Diskussion über den Regulierungswettbewerb, wie sie sich etwa im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Niederlassungsfreiheit entwickelt hat. Auch hier ist zunächst zu prüfen, ob die Kollisionsregeln der internationalen Privatrechte zu einem angemessenen Ausgleich von einander abweichender Regelungsvorstellungen gelangen können, ohne dass die Beteiligten ihre Kosten externalisieren. Erst dann stellt sich die Frage, ob darüber hinaus gemeinschaftsrechtliche Regeln erforderlich sind.

Der Entscheidung für zentralisierte, gemeinschaftsrechtliche Normen liegt die Einschätzung zugrunde, dass im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft nationalstaatliche Lösungen ineffizient sind und der Regulierungswettbewerb unbefriedigend verläuft. Die Normen des acquis communautaire, die etwa in den Richtlinien des Arbeitsrechts oder des Verbraucherschutz- oder des Gesellschaftsrechts enthalten sind, stellen Gemeinschaftsprivatrecht im engeren Sinne dar. An dieser Stelle setzt die eigentliche Effizienzanalyse der gemeinschaftsrechtlichen Normen ein, die dabei vor dem Hintergrund der umfangreichen US-amerikanischen Literatur zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts auch mikroökonomische Modelle verwendet.

3. Aspekte der Normensetzung im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft

Das Gemeinschaftsrecht teilt die Gesetzgebungskompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf. Diese Aufteilung ist als gegeben hinzunehmen, ist aber der ökonomischen Analyse föderaler Normsetzungssysteme zugänglich. In den kontinentaleuropäischen Rechten stellen die Kodifikationen ein öffentliches Gut dar, das den Beteiligten von den nationalen Gesetzgebern zu Verfügung gestellt wird. Öffentliche Güter sind dem Risiko der Überbeanspruchung ausgesetzt. Sie kann in föderalen Rechtssystemen auch dadurch eintreten, dass Teilrechtssysteme ihre Standards zu Lasten anderer Einheiten ‚exportieren‘ und dadurch diskriminierende Wirkungen zu Gunsten ihres eigenen Rechtssystems erzeugen. Nach herkömmlichem Verständnis lassen sich Störungen bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern durch korrigierende Regulierungen beseitigen. Das europäische Gemeinschaftsrecht hat einen anderen Ansatz gewählt. Mit Hilfe des Herkunftslandprinzips soll verhindert werden, dass sich einzelne Mitgliedstaaten opportunistisch verhalten und aus ihrem Rechtssystem Monopolrenten zu Lasten anderer Mitgliedstaaten ziehen. Dabei ist das Herkunftslandprinzip nicht unmittelbar Effizienzkriterien verpflichtet, weil mit ihm keine systematische Entscheidung zugunsten der Rechtswahlfreiheit einhergeht. Ebenso wenig ist das Herkunftslandprinzip in seiner heutigen Ausprägung dem Gedanken der Regelbildung durch privates Handeln, dem sog. private ordering, verpflichtet.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs illustriert, wie sich Defizite bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern durch privates Handeln (d.h. private Regelsetzung) auflösen lassen. Seine Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit hat dazu geführt, dass vor allem im Bereich der nicht börsennotierten Privatgesellschaften (Europäische Privatgesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter Haftung) die Beteiligten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft die für sie günstigste Rechtsform aus den Rechten der Mitgliedstaaten auswählen können. Im Kern ist dieser Ansatz zur privaten Produktion eines öffentlichen Gutes mikroökonomisch geprägt, weil er die private Nutzenmaximierung für die Gestaltung des ‚besten‘ Gesellschaftsrechts instrumentalisiert. Gleichwohl sind die makroökonomischen ‚Fernwirkungen‘ dieses Ansatzes nicht zu übersehen. Ein regulierendes Eingreifen des Gaststaates verbietet sich, solange die Beteiligten die Kosten ihrer auswärtigen Gesellschaftsgründung nicht externalisieren. Umgekehrt können die Gaststaaten ihre eigenen Standards nur exportieren, wenn sie im Regulierungswettbewerb Bestand haben. In der Praxis findet der Ausgleich zwischen privater Regelbildung, Regulierungswettbewerb und mitgliedstaatlichen Politikpräferenzen auf der Ebene des internationalen Privatrechts statt. Dort sind die Kosten der Bereitstellung des öffentlichen Guts ‚Recht‘ durch den nationalen Gesetzgeber gegen die negativen Externalitäten, die durch privates Wirtschaften ausgelöst werden, abzuwägen.

In seiner Entscheidungspraxis fühlt sich der Europäische Gerichtshof nicht ausschließlich einer strengen Effizienzanalyse verpflichtet. So prägt das Europäische Wettbewerbsrecht eher ein Model der workable competition, das die Besonderheiten der europäischen Integration berücksichtigt. Ebenso wenig gibt der Gerichtshof der privaten Nutzenmaximierung durch private Produktion eines öffentlichen Gutes pauschal den Vorrang vor (mitglied)staatlicher Normsetzung. Den Mitgliedstaaten verbleibt im Rahmen eines von ihnen geltend zu machenden übergeordneten öffentlichen Interesses die Möglichkeit, auch verteilungspolitische Zielsetzungen mit Hilfe des Privatrechts zu verfolgen. In der Praxis findet der Ausgleich zwischen den mikro- und makroökonomischen Aspekten privater Regelbildung, zwischen mitgliedstaatlicher Normsetzung und Gemeinschaftsrecht im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes statt. Faktisch setzen sich die Normen nationalen Privatrechts gegenüber privater Regelbildung auf der Grundlage des Rechts eines anderen Mitgliedstaats nur dann durch, wenn auf dem relevanten Markt nicht genug Informationen vorhanden sind.

4. Gemeinschaftsprivatrecht – Beseitigung von Informationsungleichgewichten

Aus der Perspektive der Institutionenökonomie sind harmonisierte Rechtsregeln in föderalen Systemen erst akzeptabel, wenn sich die bei dem Handel zwischen mehreren Rechtskreisen entstehenden Transaktionskosten nicht beseitigen lassen. Eine derartige Schlussfolgerung beruht auf zwei Annahmen: Die privatautonome Regelsetzung (durch Vertrag bzw. private ordering) ist gescheitert. Die Kollisionsregeln des internationalen Privatrechts können die konstitutionelle Unsicherheit, die durch die Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten ausgelöst worden ist, nicht aufheben. Die Harmonisierung des materiellen Rechts wird erforderlich.

In der politischen Diskussion werden Normen des Gemeinschaftsprivatrechts häufig mit dem Hinweis gerechtfertigt, durch Rechtsvereinheitlichung sollten Hindernisse bei der Verwirklichung des Binnenmarkts beseitigt werden. Allerdings sollte auch ein integrationspolitisch motivierter Erklärungsansatz nicht von vornherein eine kritische Bestandsaufnahme ausschließen, in welchem Ausmaß public choice-Erwägungen die Entscheidungsabläufe innerhalb der Gemeinschaft prägen oder Interessengruppen das Normsetzungsverfahren zu beeinflussen versuchen (regulatory capture). Bringt der Regulierungswettbewerb keine akzeptable Lösung hervor, wird auf ein Marktversagen geschlossen, auf das die Gemeinschaft mit einheitlicher Normierung reagieren müsse. Dabei ist nicht auszuschließen, dass unter dem Vorwand der Erleichterung des innergemeinschaftlichen Wirtschaftens auch in einen erfolgreichen Regulierungswettbewerb eingegriffen wird, um eine Kartellierung bei der Normsetzung herbeizuführen. Die Analyse der gemeinschaftsrechtlichen Normen zeigt dann auf, in welchem Umfang die Gemeinschaft aus regulierungspolitischen Erwägungen von der strengen Effizienzanalyse abgewichen ist.

Die Europäische Gemeinschaft verfolgt vor allem beim Verbraucherschutzrecht ein Informationsmodell (Informationspflichten (Verbrauchervertrag)), das auf zwingende Regelungen verzichtet, indem es den Einzelnen über die Konsequenzen seines Handelns aufklärt. Vergleichbare Erwägungen liegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht zugrunde. Dabei läuft die Kommission jedoch gelegentlich Gefahr, sich in Vorschlägen zu verlieren, die auf eine Überregulierung hinauslaufen. Information kann sich ins Gegenteil verkehren, wenn zuviel Information am Markt vorhanden ist. Umgekehrt können gesetzliche Pflichten zur Gewährleistung einen partiellen Verlust an Informationswert nach sich ziehen, wenn dadurch Garantien ihren bisherigen Signalwert verlieren und die Gefahr eines Marktversagens droht. Es ist also auf dieser Ebene eine mikroökonomische Analyse durchzuführen, um zu ermitteln, ob der von dem Gemeinschaftsgesetzgeber behauptete Effizienzgewinn durch harmonisierte Rechtsregeln tatsächlich eintritt. Dieser Ansatz ist auf andere vom Gemeinschaftsgesetzgeber identifizierte Schutzgüter des Privatrechts zu übertragen. Prüfungsmaßstab ist, ob eine Norm des Gemeinschaftsprivatrechts die Transformationskosten im Vergleich zu einem Zustand des Regulierungswettbewerbs bei Freiheit der Rechtswahl nachhaltig senkt.

Literatur

Stefan Grundmann (Hg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000; Stefan Grundmann, Jules Stuyck (Hg.), An Academic Green Paper on European Contract Law, 2002; Rudolf Richter, Eirik Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. 2003; Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005; Andreas Furrer (Hg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs, 2006; Richard Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007; Thomas Eger, Hans-Bernd Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007; Fabrizio Carfaggi, Horatia Muir-Watt (Hg.), Making European Law Private Law: Governance Design, 2008; Horst Eidenmüller, Florian Faust, Hans Christoph Grigoleit, Nils Jansen, Gerhard Wagner, Reinhard Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht – Wertungsfragen und Kodifikationsprobleme, Juristenzeitung 2008, 529 ff.; Association Henri Capitant des Amis de la Culture Juridique Française, Société de Législation Comparée, Projet de Cadre Commun de Référence – Principes Contractuels Communs, 2008.

Abgerufen von Ökonomische Analyse des Europäischen Privatrechts – HWB-EuP 2009 am 12. Dezember 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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