Bürgerliches Gesetzbuch: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Hans-Peter Haferkamp

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ist die Deutsche Zivilrechtskodifikation.

1. Politische Ausgangslage

Seit den Freiheitskriegen war die Herbeiführung der Rechtseinheit eine Hauptforderung des liberalen Bürgertums. Vor der deutschen Reichseinheit im Jahr 1871 fehlte diesen Forderungen jedoch der politische Unterbau. Lediglich im Wechsel- (ADWO 1849) und Handelsrecht (ADHGB 1861) gelang die Herstellung weitgehender nationaler Rechtseinheit. Träger des nationalen Rechts war zunächst die Rechtswissenschaft, die über eine am „heutigen“ römischen Recht orientierte einheitliche Juristenausbildung und die Abschottung durch ein streng wissenschaftliches Verfahren Autonomie von den (territorialen) politischen Instanzen einforderte. Rechtsvereinheitlichend wirkten vor Inkrafttreten des BGB am 1.1.1900 auch die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts (seit 1869) und des Reichsgerichts (seit 1879).

Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 sprach in Art. 4 Nr. 13 dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Obligationen- und Handelsrecht zu, nicht jedoch für das gesamte Zivilrecht. Politisch sah man im Bundesrat die Zivilrechtsvereinheitlichung anfangs nicht als vordringlich an und trieb zunächst die Vereinheitlichung des Straf- und Prozessrechts voran. Dies hing einerseits damit zusammen, dass man die Vereinheitlichung insbesondere des Erb- und Familienrechts für außerordentlich problematisch hielt. Andererseits bestand aber auch Uneinigkeit darüber, ob eine Privatrechtskodifikation (Kodifikation) überhaupt anzustreben sei, oder einzelne Spezialgesetze ausreichend seien. Erst 1873 einigte man sich im Bundesrat. Mit der nach den Antragstellern benannten lex Miquel/ Lasker (RGBl. 1873, 379) sprach der Reichstag dem Reich die Gesetzgebungskompetenz im Zivilrecht zu.

2. Rechtseinheit statt ‑reform: Erste Kommission und Erster Entwurf

Am 28.2.1874 setzte der Bundesrat eine Vorkommission ein, die Plan und Methode der Gesetzgebungsarbeiten vorschlagen sollte. Damit wurden die politischen Parteien von der Vorbereitung des Gesetzes zunächst ausgeschlossen. Mitglieder der Vorkommission waren Levin Goldschmidt, Franz Philipp von Kübel, Anton von Weber, Ludwig Ritter von Neumayr und Hermann von Schelling. In ihrem vom Bundesrat gebilligten Kommissionsgutachten vom 15.4.1874 stellten sie der einzusetzenden Kommission die Aufgaben, (1) das gesamte im Reich geltende Privatrecht darzustellen, mit Rücksicht auf seine „Zweckmäßigkeit, innere Wahrheit und folgerichtige Durchführung“, (2) Abweichungen vom Gemeinen Recht kritisch zu hinterfragen, sowie (3) auf „richtige Formgebung und Anordnung“ besonderen Wert zu legen. Es ging also primär um Rechtseinheit auf Basis des gemeinen Rechts (ius commune) und um Rechtstechnik. Dabei bestimmte die Konkurrenz der Einzelstaaten das Verfahren. Folglich orientierte sich die Zusammensetzung der Ersten Kommission zunächst an landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten: Reinhold Johow (Preußen), Gottlieb Planck (Preußen), Karl Kurlbaum (Preußen), Albert Gebhard (Baden), Franz Philipp von Kübel (Württemberg), Gottfried von Schmitt (Bayern), Gustav Derscheid (Rheinprovinz), Anton von Weber (Sachsen). Daneben berief man zwei bekannte Wissenschaftler, den Germanisten Paul von Roth und den Pandektisten Bernhard Windscheid, der 1883 jedoch ausschied. Den Vorsitz übernahm der Präsident des Reichsoberhandelsgerichts Eduard Pape. Beratungsgrundlage waren Teilvorlagen, die Gebhard für den Allgemeinen Teil, Johow für das Sachenrecht, Planck für das Familienrecht und von Schmitt für das Erbrecht erstellten. Die Teilvorlage für das Schuldrecht blieb infolge des Todes von Kübels im Jahr 1884 unvollendet. Beratungsgrundlage im Schuldrecht wurde daher hilfsweise der Dresdner Entwurf eines Obligationenrechts (1866), den von Kübel maßgeblich miterarbeitet hatte. Ab 1881 wurden die Teilentwürfe in der Kommission beraten, wobei neben dem in seiner Wirksamkeit bisweilen überschätzten Windscheid vor allem Pape bestimmenden Einfluss nahm. Im Frühjahr 1888 wurde der Erste Entwurf publiziert. Da Protokolle der Beratungen nicht publiziert werden sollten, veröffentlichte man den Entwurf zusammen mit den Motiven, die die „Hilfsarbeiter“ der Kommission ausgearbeitet hatten. Die Kommission hat diese Motive nicht im Einzelnen überprüft und autorisiert, sodass ihr Quellenwert zweifelhaft ist.

3. Kritik am Ersten Entwurf

Die Erste Kommission hielt sich getreu an den ihr aufgegebenen Arbeitsplan und legte keine Reformkodifikation vor. Neben der starken Orientierung an den Lehren der Pandektistik (Pandektensystem) führte auch die Berücksichtigung der partikularen liberalen Sondergesetzgebung, die etwa in Preußen unter dem Justizminister Adolph Leonhardt seit 1868 vorangetrieben worden war, zu einer starken Betonung der Privatautonomie (Vertragsfreiheit) im Entwurf. Seit dem Ende der 1870er Jahre hatte sich das Umfeldklima jedoch geändert. Infolge der wirtschaftlichen Krisen hatte Bismarcks konservative Wende (1878/1879) die Bedeutung staatlicher Sozialpolitik in den Blick gerückt. Die Betonung der Privatautonomie im Entwurf wurde zu einem der zentralen Kritikpunkte in der nun einsetzenden Flut von über 700 vom Reichsjustizamt zusammengetragenen Kritiken am Ersten Entwurf. Vor allem Otto von Gierke forderte in wuchtiger und wirkungsreicher Rhetorik „einen Tropfen socialistischen Oeles“ in der Kodifikation. Er verfestigte das in den 1850er Jahren insbesondere von Nationalökonomen geprägte Bild vom „unsozialen“ römischen Recht. Vielfache Kritik fand auch die hohe Technizität des Entwurfs, mit ausgeklügelter Verweistechnik und abstrakter Begrifflichkeit. Die alte Forderung nach „Volksthümlichkeit“ spiegelte einen Wandel der Sprachebenen: Hatte man vor 1871 nationales Recht ohne Staat konstruieren müssen und hierzu in einer sich autonom gerierenden Wissenschaft Halt gesucht, dekonstruierte man dogmatische Argumente nun als kaschierte Politik. An die Stelle der im Gemeinen Recht drängenden Suche nach Rechtssicherheit durch Wissenschaftlichkeit trat die Angst vor der „Gefängniszelle“ des BGB.

Mit dem Erscheinen des Ersten Entwurfs geriet das Gesetz auch in den Blick verschiedener Interessenverbände. Besonders über das Preußische Landes-Ökonomie-Kollegium nahmen landwirtschaftliche Interessenverbände Einfluss. Handel und Gewerbe artikulierten sich über die Handelskammern und den Handelstag. Der sozialkonservativ gefasste Familienrechtsentwurf Plancks fand seitens der erstarkenden Frauenbewegung Kritik. Die Uneinigkeit innerhalb dieser Interessengruppen ließ ihren Einfluss insgesamt aber gering ausfallen.

Die Kommission wurde insbesondere von Planck gegen die Vorwürfe verteidigt. Für das Familienrecht betonte er seinen sozialkonservativen Standpunkt. Mit Blick auf das Vermögensrecht machte er deutlich, dass mit der Betonung eines liberal formulierten Zivilgesetzbuches nicht ein Verzicht auf den Schutz des Schwächeren einhergehen solle. Planck verwies auf die Schwierigkeiten, Schwäche und Stärke gesetzestechnisch trennscharf zu formulieren. Mit seinem Hinweis auf die zudem bestehende Möglichkeit der Intervention durch Spezialgesetze machte er die politische Semantik deutlich, die der Kommission vorschwebte: Der Entwurf formulierte Privatautonomie als Ausgangspunkt und verwies Korrekturen auf Spezialgesetze. Demgegenüber löste etwa von Gierke diesen Freiheitsvorrang in einer Abwägungslösung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft auf. Hier wurden verschiedene Gesellschaftsentwürfe deutlich, die in einer Zivilrechtskodifikation als Verfassungsersatz abgesichert werden sollten.

4. Zweiter Entwurf und Zustandekommen des Gesetzes

Bei aller Kritik wurde die Tauglichkeit des Entwurfs als Arbeitsgrundlage für die Zivilrechtskodifikation überwiegend anerkannt. Die Steuerung des Gesetzgebungsverfahrens ging nun maßgeblich vom Reichsjustizamt aus, das auf die Besetzung der Zweiten Kommission, aber auch Form und Inhalt des Gesetzes starken Einfluss nahm. In den 25 Mitgliedern der Zweiten Kommission waren Reichsjustizamt und Bundesregierung, die großen Parteien (mit Ausnahme der Sozialdemokraten), die Großagrarier, der Handel, christliche Konfessionen und Judentum, die Nationalökonomie und die Rechtswissenschaft vertreten. Einflussreich waren neben dem Generalreferenten Planck die drei Reichskommissare Alexander Achilles, Karl Heinrich Börner und Hermann Struckmann sowie der bayerische Regierungsvertreter Karl Jacubezky. Mit dem ehemaligen Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Reichsamtes des Innern Robert Bosse war die stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Forderungen sichergestellt. In vielen Einzelbestimmungen wurde nun der Schutz des Schwächeren berücksichtigt, etwa in zusätzlichen Formvorschriften (Formerfordernisse), in Missbrauchsklauseln (Rechtsmissbrauch) (§§ 226, 826, 1353 Abs. 2, 1354 Abs. 2 BGB) oder der arbeitsschutzrechtlichen (Arbeitsschutz) Pioniervorschrift des späteren § 618 BGB. Wie stark der öffentliche Druck war, machte die Einfügung des Grundsatzes „Kauf bricht nicht Miete“ (§ 571 BGB) deutlich, obwohl angesichts der Praxis extrem kurzer Zeitmietverträge und vieler außerordentlicher Kündigungsrechte kaum praktische Bedeutung zu erwarten war. Daneben setzte die Kommission auf die bewährten Möglichkeiten der richterlichen Einzelfallkontrolle anhand unbestimmter Maßstäbe wie gute Sitten (Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen) (boni mores) oder Treu und Glauben (bona fides) sowie die begleitende Fortbildung des Rechts durch die Rechtswissenschaft. Mit dem Abzahlungsgesetz von 1894 wurde parallel der Weg der Sondergesetzgebung beschritten. Radikalere Reformen wurden vom Reichsjustizamt blockiert, weil man im dann zu erwartenden Parteienstreit das Projekt insgesamt gefährdet sah. Im Herbst 1895 wurde der überarbeitete Entwurf dem Bundesrat vorgelegt, dessen Justizausschuss einige rechtspolitisch heikle Fragen wie Vereinsrecht und Eherecht diskutierte und den Entwurf im Januar 1896 dem Reichstag überwies, der nach zweitägiger Generaldebatte die XII. Kommission mit Einzelfragen befasste. Von den 21 Abgeordneten stellte das Zentrum mit sechs Abgeordneten die größte Gruppe. Im Ergebnis wurden insbesondere Forderungen des Zentrums und der Sozialdemokraten eingearbeitet, so im Vereins-, Dienstvertrags- und Familienrecht. Erst durch einen auf das Vereins- und Eherecht bezogenen Kompromiss zwischen Preußen, den Nationalliberalen, dem Zentrum und der Reichspartei konnte das Gesetz am 1.7.1896 gegen die Stimmen der Sozialdemokraten verabschiedete werden. Das vom Bundesrat gebilligte Gesetz wurde am 24.8.1896 publiziert (RGBl. 1896, 195 ff.). 1897/1898 wurden das HGB, die Reichsjustizgesetze, die Grundbuchordnung, das Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit und das Zwangsversteigerungsgesetz angepasst. Das BGB trat am 1.1.1900 in Kraft.

5. Aufbau und Grundentscheidungen

Im Aufbau folgt das BGB dem auf Gustav Hugo und Georg Arnold Heise zurückgehenden Pandektensystem, das sich im 19. Jahrhundert als Ordnungsschema der Pandektenlehrbücher durchgesetzt hatte. Der vorangestellte Allgemeine Teil wurde in Anlehnung an die alte Institutionenanordnung nach Personen, Sachen, Rechtsgeschäften geordnet. Mit dem Rechtsgeschäft als Schlüsselbegriff wurde die zentrale Stellung der Privatautonomie (Vertragsfreiheit) hervorgehoben. Hinzu kam in § 1 die Herausstellung der Allgemeinen Rechtsfähigkeit. Abweichend vom Pandektensystem stellte die Erste Kommission das Schuldrecht vor das Sachenrecht. Darin sollte, neben gesetzgebungstechnischen Gründen, auch eine seit 1800 gewandelte Bedeutungshierarchie ausgedrückt werden. Sachenrecht hatte zu Beginn des Jahrhunderts mit seinem Eigentumsschutz die individualrechtsschützende Aufgabe des Zivilrechts betont. Nun trat mit der Freisetzung der Warenverkehrsgesellschaft die auf Rechtsveränderung abzielende Aufgabe des Schuldrechts in den Vordergrund. Sachenrecht erschien nun primär als Mittel der Kreditbeschaffung und wurde in eine dem Schuldrecht nachgeordnete Position geschoben.

Im Vereinsrecht setzte sich erst nach langen Diskussionen das Normativsystem (Koalitions- und Vereinigungsfreiheit) durch. Das Schuldrecht stellt in § 242 Treu und Glauben (die bona fides) und damit gleichermaßen Vertragstreuepflichten wie richterliche Einflussmöglichkeiten voran. Im Deliktsrecht entschied man sich gegen das zunächst geplante französische Vorbild für ein System dreier kleiner Generalklauseln (§§ 823 Abs. 1, 2; 826) und lehnte damit eine Haftung für fahrlässig herbeigeführte Vermögensschäden ab. Die Haftung für Gehilfen wurde außerhalb von Rechtsgeschäften eingeschränkt (§ 831 BGB). Im Immobiliarrecht standen der Schutz des Rechtsverkehrs (Publizität) und die Kreditsicherung (Immobiliarsicherheiten) durch Real- und Personalkredit im Blickpunkt. Im Mobiliarsachenrecht übernahm das Gesetz vom |ADHGB den gutgläubigen Erwerb (Erwerb vom Nichtberechtigten) und stellte an die Ersitzung strenge Anforderungen. Im Familienrecht fanden sich etwa in erschwerten Scheidungsvoraussetzungen und der Schlechterstellung nichtehelicher Kinder sozialkonservative Züge. Andererseits wurde die Rechtsstellung der Frau verbessert. Im Erbrecht wurde der Testierfreiheit starker Raum gewährt. Viele Neuerungen wurden durch großzügige Übergangsregeln und Sonderreglungen im EGBGB abgemildert.

6. Ein ungeliebtes Gesetzbuch

Das BGB galt, mit Ausnahme des Familienrechts, weitgehend unverändert im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und in der DDR (bis 1976). Vor dem Hintergrund dieser nachgewiesenen Anpassungsfähigkeit verwundert das klare rechtspolitische Urteil, das sein Bild im 20. Jahrhundert begleitete: Es blieb das Bild des „begriffsjuristischen“ (Begriffsjurisprudenz), „liberalistischen“, „unsozialen“, „individualistischen“ Gesetzbuches vorherrschend. Besonders die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen nach 1918 förderten irrationale und nationalistische Denkweisen und verstärkten den Widerwillen gegen ein rationales und liberales Zivilgesetz. Die Marktgesetze trafen nun auch den zuvor stabilisierenden Mittelstand und mobilisierten „soziale“ Forderungen in breiten Kreisen gegen das Gesetz. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Kritik am „undeutsch-römischen“ Gesetz zudem antisemitisch unterfüttert, indem, unter diffusem Rückgriff auf die Entstehung der justinianischen Kompilation in Ostrom, starke jüdische Prägungen des antiken Rechts behauptet wurden. Über Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920, der das römische Recht durch ein „deutsches Gemeinrecht“ ersetzen wollte, zogen sich diese Vorwürfe in die scharfe Kritik, der das BGB während des Nationalsozialismus in inhaltlicher und aufbautechnischer Hinsicht ausgesetzt war. Die Versuche, das BGB durch Einzelgesetzgebung oder ein sog. Volksgesetzbuch zu ersetzen, hatten keinen Erfolg. Nach 1945 führte vor allem Franz Wieacker das Bild vom „unsozialen“, „formalistischen“ BGB wirkungsreich fort und sprach vom „spätgeborenen Kind der Pandektenwissenschaft und der … vom Liberalismus angeführten Bewegung seit 1848“, das in seinem „Sozialmodell“ das „besitzende Bürgertum“ bevorteilt habe. Das BGB blieb im 20. Jahrhundert ein ungeliebtes Gesetzbuch, wie noch 1996 bzw. 2000 die schwache Beachtung und wenig emphatische Würdigung seines hunjährigen Jubiläums zeigten.

Nach 1949 übernahm das alsbald „drittwirkende“ Grundgesetz die „soziale“ Steuerung des Privatrechts. Die Vorwürfe gegen das BGB verloren damit zunehmend ihre praktische Relevanz. Im nun stärker historisierenden Blick fanden jedoch erst seit den 1980er Jahren viele rückprojizierende Zerrbilder zunehmend Widerspruch, der erst langsam über die engere Rechtsgeschichtsschreibung hinaus Aufmerksamkeit findet: Das BGB orientierte sich nicht an den Besitzbürgern, sondern an der rechtlich gleichen Freiheit aller Privatrechtssubjekte. Mit der Entscheidung für eine Betonung der Privatautonomie und für Korrekturen durch Sondergesetze sprach man sich lediglich für ein in dubio pro libertate aus, nicht für den „freien Fuchs im freien Hühnerstall“. Beachtung hat gefunden, dass auch Max Weber wie das Kommissionsmitglied Gottlieb Planck mit guten Gründen vor den Rationalitätsverlusten warnte, die einer Privatrechtsordnung drohen, die nicht Rechtsgleichheit, sondern Sonderinteressen zum Ausgangspunkt nimmt.

Zudem erweist sich das überkommene Bild vielfach als stark überspitzt. Ein schrankenloser „Willensformalismus“ entsprach weder dem Konzept der Pandektistik, noch dem des BGB-Gesetzgebers. Es ging in grundrechtsloser Zeit um einen gesicherten Freiheitsraum gegen den Staat. Freiheit als Chance, nicht als Risiko, bestimmte den Blick. Mögliche Missbräuche wurden immer gesehen. Bewußt wurde, etwa über die bona fides, richterliche Einzelfallkorrektur zugelassen. Als die Zweite Kommission Wissenschaft und Rechtsprechung viel Freiraum gewährte, stand ihr überhaupt die überkommene Selbstverständlichkeit vor Augen, mit der die Justiz Zivilgesetze bereits vor 1900 dem Einzelfall und auch überkommenen Rechtsprechungstraditionen unterworfen hatte. Ganz im Sinne der BGB-Verfasser erwies sich die Rechtsprechung von Anfang an als aktiver Gestaltungsfaktor des Privatrechts. Dies wurde lange unter dem historiographischen Bild einer „Materialisierung“ (erst) seit Weimar verschüttet. Vergessen wurde daneben das Kommissionskonzept eines Zusammenspiels zwischen liberaler Kernkodifikation und korrigierenden Sondergesetzen gleichermaßen wie die Tatsache, wie sehr vor allem die Zweite Kommission eben doch oft neuartige Schutzvorschriften aufnahm. Auch wenn insgesamt eine radikale sozialpolitische Reform durch das BGB vermieden wurde, an der das Projekt wahrscheinlich auch im Parteienstreit gescheitert wäre, leitete doch bereits die Zweite Kommission einen Wandel in der Gesetzgebungspolitik hin zur staatlichen Intervention ein. Insofern kann man das BGB durchaus als „erste moderne sozialpolitisch beeinflusste Kodifikation“ (Werner Schubert) bezeichnen.

7. Das BGB und die Entwicklung des Bürgerlichen Rechts im 20. Jahrhundert

Während vor 1933 nur 29 Paragrafen des BGB verändert worden waren, kam es im Nationalsozialismus bereits zu knapp 300 Gesetzesänderungen im BGB, vor allem im Familien- und Erbrecht. Die wandelnden Leitbilder im Familienrecht haben inzwischen zur einer fast völligen Umgestaltung des 4. Buchs des BGB geführt. Die Privatautonomie sah sich im 20. Jahrhundert weitreichender Staatsintervention ausgesetzt. Im Arbeitsrecht verloren die Regelungen des Dienstvertrages durch eine Fülle von Sondergesetzen an Bedeutung. Im Mietrecht traten an die Seite vieler korrigierender Sondergesetze nach 1945 auch stärker Eingriffe in den BGB-Wortlaut selbst. Primär auf Einflüsse der EU lassen sich die vielfältigen Verbraucherschutznormen zurückführen, die 2001, zusammen mit der von der Rechtsprechung entwickelten Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, im Rahmen einer großen Reform des BGB-Schuldrechts weitgehend in das Gesetz integriert wurden.

Nach 1933 kam es in Deutschland zur Vorherrschaft der (erst nach 1945 sog.) Wertungsjurisprudenz, die das Gesetz anhand einer höherstufigen – zu diesem Zeitpunkt „völkischen“ – Rechtsordnung uminterpretierte. Die hierfür verwendeten Generalklauseln des BGB (§§ 138, 157, 242, 826 BGB) wurden auch nach 1949 dazu genutzt, das BGB nun am Grundgesetz (Theorie der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte) und anderen Leitwerten (z.B. Vertrauensschutz) auszurichten. An die Stelle älterer dogmatischer Schlusstechniken treten seitdem immer stärker abwägende Methoden, die konkurrierende Prinzipien erst am zu entscheidenden Einzelfall hierarchisieren und sich so bindender dogmatischer Rationalisierung entziehen. Das deutsche Zivilrecht der Gegenwart wird daher zunehmend vom Richterrecht geprägt.

Literatur

Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953; Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts, 1981; Werner Schubert, Das bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 1986, 11 ff.; Michael John, Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany, 1989; Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1995; Thomas Vormbaum (Hg.), Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl. 1997; Dieter Schwab, Das BGB und seine Kritiker, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000) 325 ff.; Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, Bd. 2, 2007; Rüdiger Hansel, Jurisprudenz und Nationalökonomie, 2006.

Quellen

Werner Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines BGB, 1980-1986; idem, Horst Heinrich Jakobs, Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 1978; Motive zu dem Entwurf eines BGB für das deutsche Reich, 6 Bde., 1888; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des BGB, 6 Bde., 1897/99; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB, 6 Bde., 1890/1891; Zusammenstellung der Äußerungen der Bundesregierung zu dem Entwurf eine BGB, 1891; Georg Maas, Bibliographie des Bürgerlichen Rechts, 1899; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, IV. Session 1895/1897, 704 ff., 2716 ff., 3059 ff., 1896; Benno Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 5 Bde., 1899; weitere Quellen bei Georg Maas, Bibliographie der amtlichen Materialien zum BGB, 1897; sämtliche Gesetzesänderungen 1900-2005 in Tilman Repgen, Hans Schulte-Nölke, Hans-Wolfgang Strätz, BGB-Synopse 1896-2005, 2005.

Abgerufen von Bürgerliches Gesetzbuch – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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