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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 13:07 Uhr
1. Funktion
Die Aktiengesellschaft ist eine Kapitalvereinigung. Die Idee von Kapitalvereinigungen liegt in der „Finanzierung von Vorhaben, die wegen ihres Umfangs, ihrer Dauer oder ihres Risikos die finanzielle Leistungsfähigkeit einzelner Personen übersteigen“. In der Aktiengesellschaft können Kapitalbeiträge in großem Umfang gebündelt und zur dauerhaften Finanzierung kapitalintensiver Projekte verwendet werden. Praktisch bedeutsame Kapitalvereinigungen sind außer den Aktiengesellschaften Investmentfonds, Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Publikumspersonengesellschaften (Personengesellschaft).
Aus der Idee der Aktiengesellschaft, das Kapital möglichst vieler Beitragsgeber zu vereinigen, lassen sich Strukturmerkmale ableiten, die ihrer Verwirklichung förderlich oder zu ihrer Vollendung notwendig sind: die Trennung der Inhaberschaft an den Aktien von der Leitung der Aktiengesellschaft, der Ausschluss der persönlichen Haftung der Aktionäre, der Schutz des Vermögens der Aktiengesellschaft und die Übertragbarkeit der Aktien.
2. Begriff
Die Aktiengesellschaft ist keine „Gesellschaft“ im engeren, sondern im weiteren Sinne (Gesellschaftsrecht). Sie kombiniert Charakteristika und Strukturmerkmale, die sich bei Anstalten (passive Nutzziehung), Gesellschaften (Mitverwaltungsrechte) und Vereinen (Vermögensverfassung) finden. Der früher übliche Begriff „Actienverein“ war deshalb nicht weniger treffend.
Die Bezeichnung als „Aktien“gesellschaft leitet sich von dem mittelniederländischen actie bzw. dem mittellateinischen actio ab. Ein sprachgeschichtlich bemerkenswertes Zeugnis und gleichzeitig eines der frühesten Rechtsdokumente zu Aktien ist das Placaet, Tegens het verkoopen ende transporteren der Actien (!) inde Oost-Indische Compagnie (27.2.1610). War mit „Actie“ zunächst nur der Anspruch des Anteilseigners auf Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös gemeint, wurde hiermit später pars pro toto die gesamte Mitgliedschaft bezeichnet. Denselben sprachlichen Hintergrund wie die Aktiengesellschaft haben die italienische Società per Azioni und das russische Акционерное общество. Einen anderen Anknüpfungspunkt nehmen die französische Société Anonyme, die spanische Sociedad Anónima und die niederländische Naamloze Vennootschap: die Nichtaufnahme der Aktionäre in die Firma. Die englische Bezeichnung (joint-stock bzw. public limited) company hat ihren Ursprung in den frühneuzeitlichen Handelscompagnien mit gemeinsamem Kapital und Vermögen (joint stock) bzw. in der Beschränkung (limited) der Haftung der Teilhaber. Der amerikanische Begriff (stock) corporation betont den korporativen Charakter.
Missraten ist die Benennung der supranationalen Europäischen Aktiengesellschaft als Societas Europaea. Die Aktiengesellschaft ist weder nach römischem Recht (s.u. 3.) noch nach modernem Verständnis (hierzu eingangs des Abschnitts) eine „Sozietät“ oder „Gesellschaft“ im engeren Sinne. Außerdem ist die Societas Europaea – anders, als es ihr Name vermuten lässt – nicht die einzige Gesellschaftsform europäischen Rechts, sondern eine von mehreren (Gesellschaftsrecht).
3. Geschichte
Der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Aktiengesellschaft liegt in der Unterscheidung zwischen der historischen Wirklichkeit und der modernen Wirkung früherer Kapitalvereinigungen. Ebenso wie die Gegenwart Kapitalverei- nigungen kennt, die keine Aktiengesellschaften sind (s.o. 1.), hat es in der Vergangenheit Kapitalvereinigungen gegeben, die weder ihrer Funktion noch ihrer Struktur nach den heutigen Aktiengesellschaften ähneln.
a) Einflussreiche Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie Johann Caspar von Orelli, Levin Goldschmidt, Michail I. Rostowzew oder Max Weber waren der Auffassung, in der Antike habe es Aktiengesellschaften oder etwas der Aktiengesellschaft Vergleichbares gegeben. Als historischer Anknüpfungspunkt dienten ihnen die römischen Sozietäten, die zur Übernahme staatlicher Aufträge gebildet wurden (societates publicanorum); den ältesten Beleg für diese Vereinigungen liefert Livius (ab urbe condita, 23.48/49) aus der Zeit des Zweiten Punischen Krieges (215 v. Chr.). Während immer schon Zweifel an der Existenz „antiker Aktiengesellschaften“ geäußert wurden (z.B. von Otto Gierke), hat eine umfängliche Auswertung und Analyse der historischen Quellen diese Skepsis jüngst bestätigt.
b) Ein – historisch wie ideengeschichtlich – ähnliches Bild zeigt sich für das Mittelalter. Die bedeutendsten Kapitalvereinigungen dieser Zeit sind die Zusammenschlüsse von Staatsgläubigern in den norditalienischen Städten (montes oder maonae) sowie die in ganz Mitteleuropa verbreiteten Bergwerksgesellschaften (Gewerkschaften). Bis heute werden diese Vereinigungen als frühe oder erste Aktiengesellschaften bezeichnet (einflussreich Gierke und Goldschmidt). Hierbei dürfte es sich, wie eine kursorische Durchsicht der Quellen vermuten lässt, ebenfalls um einen im 19. Jahrhundert entstandenen Mythos handeln, der wie die Behauptung „antiker Aktiengesellschaften“ dem Zweck diente, der zeitgenössischen Aktiengesellschaft Legitimität zu verschaffen.
c) In der Frühneuzeit kam es zur Gründung großer Handelscompagnien wie der englischen East India Company (Charter vom 31.12.1600) und der niederländischen Vereenigde Oost-Indische Compagnie (Octroy vom 20.3.1602). In fast allen Schriften der Gegenwart werden diese Handelscompagnien als die ersten „wirklichen“ Aktiengesellschaften angesehen. Anders als bei den antiken und mittelalterlichen Kapitalvereinigungen hat dies eine gewisse Berechtigung. Hervorhebenswert sind insbesondere die als share oder actie bezeichneten Anteilscheine, die an Börsen gehandelt wurden. Gleichwohl gibt es erhebliche funktionelle und strukturelle Unterschiede zu den modernen Aktiengesellschaf- ten; so verfügten viele Handelscompagnien über Hoheitsrechte, wie sie heute nur staatliche Stellen kennen.
d) Die Handelscompagnien der Frühneuzeit dienten im 17. und 18. Jahrhundert zahlreichen größeren Unternehmungen zum Vorbild. Hieraus entwickelte sich eine Organisationsform mit bestimmten Charakteristika, die sich als Typus immer weiter institutionalisierte und verdichtete, bis sie zunächst tatsächlich die eingangs genannten Bezeichnungen erhielt und dann rechtlich mit diesen Namen als Gesellschaftsform kodifiziert wurde.
4. Recht
Das Recht der Aktiengesellschaft wird als „Aktienrecht“ bezeichnet. Treffender wäre „Aktiengesellschaftsrecht“, weil Anknüpfungspunkt des Aktienrechts nicht die Aktie als Wertpapier oder Anlagetitel ist, sondern die Aktiengesellschaft als eine der Rechtsformen, in denen Vereinigungen zur gemeinsamen Zweckverfolgung organisiert werden können (Gesellschaftsrecht).
a) Funktion des Aktienrechts
Das Aktienrecht regelt die innere und äußere Verfassung der Aktiengesellschaft, insbesondere die Organisationsverfassung (Kompetenzverteilung zwischen den Organen und gegenüber den Aktionären) und die Vermögensverfassung (Rechte und Pflichten zwischen der Aktiengesellschaft als juristischer Person und ihren Aktionären). Kein Aktienrecht (weil regelmäßig nicht an die Rechtsform der Aktiengesellschaft anknüpfend), aber gleichwohl sehr wichtig für die Aktiengesellschaft sind die rechtsformübergreifenden Bestimmungen des Kapitalmarktrechts, des Bilanzrechts (Rechnungslegung) und des Steuerrechts.
Die Funktion des Aktienrechts liegt nicht nur in der Regulierung der Aktiengesellschaft. Vielmehr hat das Aktienrecht im Ausgangspunkt eine eröffnende Funktion, weil die Idee der Aktiengesellschaft (Finanzierung kapitalintensiver Projekte; s.o. 1.) nur mit Hilfe spezieller gesetzlicher Bestimmungen verwirklicht werden kann. Denn die hierfür erforderliche beidseitige Trennung des Vermögens der Aktiengesellschaft auf der einen und des Privatvermögens ihrer Aktionäre auf der anderen Seite („Prinzip beidseitiger Vermögenstrennung“) lässt sich mittels vertraglicher Regelungen allein nicht erreichen.
b) Entwicklung des Aktienrechts
Die erste allgemeine Regelung der Aktiengesellschaft enthielt der Code de Commerce (15.9. 1807). In seinem Abschnitt des sociétés widmete der Code der société anonyme einige grundsätzliche Bestimmungen (Art. 19, 29-37, 40, 45). Die betreffenden Vorschriften wurden immer wieder grundlegend geändert, etwa mit der Loi sur les Sociétés en commandite par actions (17.7.1856) oder der Loi sur les Sociétés (24.7.1867). Das französische Aktienrecht ist nunmehr sehr viel ausführlicher an anderer Stelle des Code de Commerce geregelt (insb. Art. L. 225-1-Art. L 225-270: des sociétés anonymes).
Die ersten aktienrechtlichen Bestimmungen eines deutschen Staats befanden sich im Preußischen Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen (3.11.1838) (§§ 1, 2, 3, 6 und 46). Die erste allgemeine Kodifizierung des Aktienrechts war das Preußische Gesetz über die Aktiengesellschaften (9.11.1843), die erste gesamtdeutsche der betreffende Abschnitt im Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB) (12.3.1861) (Art. 173-249). Wichtige Änderungen brachten die sog. erste (11.6.1870) und zweite (18.7.1884) Aktienrechtsnovelle, der Erlass des Handelsgesetzbuchs (10.5.1897) (§§ 178-334), die sog. kleine Aktienrechtsreform (Verordnung vom 19.9.1931, Erster Teil) sowie die Verselbständigung des Aktienrechts im ersten (30.1.1937) und zweiten (6.9.1965) Aktiengesetz. Seit 1965 ist das Aktiengesetz mehr als sechzigmal geändert worden; Wolfgang Zöllner spricht treffend von „Aktienrechtsreform in Permanenz“.
Im Vereinigten Königreich ist die historische Entwicklung etwas unübersichtlicher. Nach der Aufhebung (5.7.1825) des sog. Bubble Act (11.6. 1720) kam es in den folgenden Jahrzehnten zu einer Vielzahl von Einzelakten, die es immer weiter erleichtert haben, (joint-stock) companies zu errichten. Die wichtigsten Marksteine sind drei Gesetze von 1844 (An Act for the Registration, Incorporation, and Regulation of Joint Stock Companies vom 5.9.1844; An Act for facilitating the winding up the Affairs of Joint Stock Companies unable to meet their pecuniary Engagements vom 5.9.1844; An Act to regulate Joint Stock Banks in England vom 5.9.1844) und der Joint Stock Companies Act von 1857 (13.7.1857). Das Vereinigte Königreich hat sein Aktienrecht zuletzt mit dem Companies Act 1985 (11.3.1985) und dem Companies Act 2006 (8.11.2006) konsolidiert und kodifiziert.
5. Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung
In wenigen Rechtsgebieten haben Gesetzgebung, Wissenschaft und Praxis derart früh so intensiv begonnen, auswärtige Erkenntnisquellen in ihre Überlegungen einzubeziehen, wie im Bereich des Aktienrechts (Rechtsvergleichung; a). Zu einer gezielten Vereinheitlichung des Aktienrechts ist es allerdings erst in den letzten Jahrzehnten gekommen (Rechtsvereinheitlichung; b).
a) Rechtsvergleichung
Bereits das erste deutsche Aktiengesetz, das Preußische Gesetz über die Aktiengesellschaften (9.11.1843), beruhte auf intensiver legislativer Rechtsvergleichung. So findet sich in den Akten des Preußischen Staatsrats eine deutsche Ausgabe (von F. Schumacher, 1840) des niederländischen Wetboek van Koophandel (1838), dessen Abschnitt über die Aktiengesellschaft zahlreiche Anstreichungen und Bemerkungen enthält. Im „Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten“ (1857) wurden „die in auswärtigen Staaten eingeführten Handelsgesetzbücher beachtet und einer sorgfältigen Prüfung unterzogen“ (Vorbemerkungen, V). Den bis heute qualitativ wie quantitativ nicht mehr erreichten Höhepunkt ministerieller Rechtsvergleichung markiert die zweite Aktienrechtsnovelle (18.7.1884). Ihr lag die Einsicht zugrunde: „Auf keinem rechtlichen und wirthschaftlichen Gebiete mehr als auf dem des Aktienwesens steht die einheimische Gesetzgebung in inniger Berührung mit der ausländischen.“ (RT-Drucks. 21/1884, Anlagenband, 215, 237). Nachdem das Deutsche Reich mit der Aktienrechtsnovelle 1884 einen paternalistischen Sonderweg (bis ins Detail zwingendes Aktienrecht) eingeschlagen hatte, nahm das Interesse an eigener Rechtsvergleichung innerhalb der Ministerien ab. Kennzeichnend für den Übergang von der internen ministeriellen zu der externen, im Auftrage der Ministerien vorgenommenen Rechtsvergleichung ist die grundlegende Schrift Walter Hallsteins über „Die Aktienrechte der Gegenwart“ (1931).
b) Rechtsvereinheitlichung
Angesichts der traditionell intensiven Beschäftigung mit auswärtigem Aktienrecht ist es nicht überraschend, dass bereits 1889 eine Konferenz zur Vereinheitlichung des Aktienrechts stattfand (sten. Ber., 1890); sie führte aber ebenso wenig zu konkreten Ergebnissen wie spätere Initiativen.
Entscheidende Schritte zur Rechtsvereinheitlichung wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg im institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaften unternommen (näher: Gesellschaftsrecht). Auch wenn die früheren, sehr ambitionierten Pläne einer Harmonisierung des europäischen Aktienrechts nicht einmal ansatzweise erreicht wurden, hat es in einigen wesentlichen Fragen gleichwohl eine Harmonisierung gegeben. Die Aktiengesellschaft liegt im Anwendungsbereich fast aller Richtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, nämlich: der Publizitäts-RL (RL 68/151 vom 9.3.1968), der Kapital-RL (RL 77/91 vom 13.12.1976), der Jahresabschluß-RL (RL 78/660 vom 25.7.1978), der Verschmelzungs-RL (RL 78/855 vom 9.10.1978), der Spaltungs-RL (RL 82/891 vom 17.12.1982), der Konzernabschluß-RL (RL 83/349 vom 13.6. 1983), der Zweigniederlassungs-RL (RL 89/666 vom 21.12.1989) und der Internationalen Verschmelzungs-RL (RL 2005/56 vom 26.10.2005). Etwas enger, weil anknüpfend an Gesellschaften, deren Wertpapiere an einem „geregelten Markt“ (Art. 4(1) Nr. 14) im Sinne der Finanzmarkt-RL (RL 2004/39 vom 21.4.2004) notiert sind (näher Börsen; Märkte für Finanzinstrumente), ist der Anwendungsbereich der Übernahme-RL (RL 2004/25 vom 21.4.2004) und der Aktionärsrechte-RL (RL 2007/36 vom 11.7.2007).
Keine Vereinheitlichung nationalen Aktienrechts, sondern die Schaffung supranationalen europäischen Aktienrechts stellt die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea) dar (zum Begriff s.o. 2.).
6. Aktuelle Herausforderungen
Die aktuellen Herausforderungen in Recht und Praxis der Aktiengesellschaft sind ganz überwiegend keine Probleme neuer Art, sondern Ausprägungen der Schwierigkeiten, welche die Aktiengesellschaft seit ihren ersten Tagen begleiten. Von diesem großen historischen Erfahrungsschatz könnten Gesetzgebung, Wissenschaft und Praxis in der Gegenwart mehr profitieren, als bislang versucht wurde.
a) Grundsätzliche Regelungsprobleme
Mit der strukturellen Ausgestaltung der Aktiengesellschaft (s.o. 1.) sind Gefahren verbunden – sowohl im Innenverhältnis (gegenüber den Aktionären) als auch im Außenverhältnis (gegenüber Gläubigern, Arbeitnehmern, Zulieferern, Kunden, Finanzbehörden, Sozialversicherungsträgern). Regelungsproblem im Innenverhältnis der Aktiengesellschaft und eine genuin aktienrechtliche Herausforderung ist, die Aktionäre vor dem Vorstand und voreinander zu schützen. Notwendig wird dieser Schutz wegen des ersten Strukturmerkmals der Aktiengesellschaft, das zum Auseinanderfallen von Inhaberschaft und Unternehmensleitung führt (bekannter noch als separation of ownership and control). Da der Vorstand mit anderer Leute Geld wirtschaftet (prägnant Adam Smith: „the managers rather of other people’s money than of their own“), besteht die Gefahr, dass er sich begünstigt (mangelnde Loyalität, Verletzung der duty of loyalty) oder nachlässig handelt (mangelnde Sorgfalt, Verletzung der duty of care); für kleinere Aktionäre gehen ähnliche Gefahren von dominanten Aktionären aus. Schutzbedürftig sind die Aktionäre, weil ein Selbstschutz weder möglich noch – soweit möglich – sinnvoll ist. Dies liegt daran, dass die Aktionäre den Aufwand ihres Schutzes allein tragen müssen, die Ergebnisse ihrer Bemühungen aber regelmäßig auch allen anderen Aktionären zugute kommen. Aus dem daraus folgenden rationalen Desinteresse, selbst aktiv zu werden (Kollektivhandlungsproblem), folgt die Einsicht, dass die Statuierung von Kontrollbefugnissen und Mitwirkungsrechten allein zum Schutz der Aktionäre nicht genügen kann: Die Passivität der Aktionäre ist nicht eine Folge mangelnden Könnens, sondern mangelnden Wollens.
Neuerdings werden all diese Fragen unter der Überschrift Corporate Governance diskutiert. Im Ausgangspunkt ist damit dasselbe gemeint wie im (Roh‑)Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland (1849), wo die „gute Organisation der Aktien-Gesellschaften“ angesprochen wird (Einleitung vor Art. 73). Aktuelle europäische Vorhaben finden sich im Aktionsplan „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ (KOM(2003) 284 endg.).
b) Gegenwärtige Regelungsprobleme
Die gegenwärtigen Regelungsprobleme der Aktiengesellschaft lassen sich ohne weiteres in das gerade skizzierte allgemeine Problemraster einsortieren.
(i) Das Außenverhältnis betrifft die bis heute andauernde Debatte, ob das Ziel der Aktiengesellschaft allein in der Gewinnmaximierung liegen sollte oder – wie es im Aktiengesetz von 1937 formuliert war – ob der Vorstand „die Gesellschaft so zu leiten [sc. hat], wie das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern“ (§ 70 Abs. 1 AktG 1937). Ebenfalls nicht eine genuin aktienrechtliche Frage ist die (weniger wegen ihrer Idee als wegen ihrer institutionellen Verortung umstrittene) unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (Aufsichtsrat/Board/Vorstand), die bis heute heftig kritisiert und ebenso engagiert verteidigt wird.
(ii) Eine zwischen dem Kapitalmarktrecht und dem Aktienrecht liegende Problematik ist, ob das Aktienrecht stärker danach differenzieren sollte, ob die von der Gesellschaft emittierten Wertpapiere (Aktien, Schuldverschreibungen) an einem „geregelten Markt“ im Sinne der Finanzmarkt-RL (Art. 4(1) Nr. 14) gehandelt werden. Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass die Inhaber von Aktien oder Schuldverschreibungen börsennotierter Aktiengesellschaften kapitalmarktrechtlich geschützt werden und deshalb weniger aktienrechtlichen Schutzes bedürfen (Kapitalmarktrecht; Kapitalmarktpublizität; Börsen); mit der jederzeit möglichen Veräußerung ihrer Papiere verfügen sie außerdem über eine Alternative zur gesellschaftsinternen Mitwirkung (exit statt voice nach dem berühmten Buch von Albert O. Hirschman, 1970). Demgegenüber werden Aktionäre geschlossener Aktiengesellschaften weder kapitalmarktrechtlich geschützt, noch gibt es einen liquiden Markt für ihre Anteile. Allerdings handelt es sich bei ihnen regelmäßig nicht um Anleger aus dem breiten Publikum, sondern um Investoren, die ein besonderes Interesse mit der Aktiengesellschaft verbindet, so dass sie weniger (und anderen) Schutzes bedürfen als die Aktionäre börsennotierter Gesellschaften.
(iii) Im Kernbereich des Aktienrechts wird derzeit von neuem heftig diskutiert, welche Macht den Aktionären (individuell oder gemeinsam) innerhalb der Aktiengesellschaft zukommen sollte. In der Bundesrepublik ist die Hauptversammlung seit dem Aktiengesetz von 1937 – in Franz Schlegelbergers bekannten Worten – „abgesetzter König“. Sie steht in der Mitte zwischen der allgewaltigen englischen und der ohnmächtigen US-amerikanischen Hauptversammlung. Angesichts der Heterogenität der Aktiengesellschaften und ihrer Aktionäre bereitet es erhebliche Probleme, die Kompetenzen der Hauptversammlung sowie die Individual- und Minderheitsrechte der Aktionäre so auszugestalten, dass sie den Aktionären einen hinreichenden Schutz gewähren, aber nach Sondervorteilen strebende („räuberische“) Aktionäre nicht in die Lage versetzen, für ihre Zustimmung oder die Nichtausübung ihrer Rechte Gelder zu erpressen.
(iv) Weitere klassische Konfliktfelder sind der Schutz von Aktionären in verbundenen Unternehmen (Konzernrecht), bei Strukturmaßnahmen (Umwandlung/Spaltung/Verschmelzung) und bei Übernahmen (Übernahmerecht).
7. Ausblick
Die Zukunft der Aktiengesellschaft ist trotz aller Krisen eine rosige, denn es gibt keine andere Organisationsform, weder des Gesellschaftsrechts noch des Staatsrechts, die zur Finanzierung der zahlreichen kapitalintensiven Projekte der modernen Gesellschaft geeigneter ist (soweit es nicht um genuin hoheitliche Aufgaben geht, etwa die Landesverteidigung).
Eine andere Frage ist, ob die Zukunft der deutschen „Aktiengesellschaft“ in ihrer derzeitigen Form ebenso vielversprechend ist. Bislang hat sich der europäische Wettbewerb der Rechtsordnungen im Bereich des Gesellschaftsrechts auf die nicht-börsennotierten Gesellschaften konzentriert. Erste empirische Untersuchungen (Horst Eidenmüller, Andreas Engert, Lars Hornuf, 2008) deuten aber darauf hin, dass die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea) trotz ihrer zahlreichen Mängel eine attraktive Alternative zur deutschen Aktiengesellschaft ist. Diese Konkurrenz könnte den deutschen Sonderweg im Aktienrecht zu einem baldigen Ende führen.
Literatur
Walter Hallstein, Die Aktienrechte der Gegenwart, in: Reichsjustizministerium, Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hg.), 1931; Ernst-Joachim Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958; Peter O. Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996; Georges Ripert, René Roblot, Traité de droit commercial, Bd. I, Halbbd. 2: Les sociétés commerciales, 18. Aufl., fortgeführt von Michel Germain, 2002; Reinier H. Kraakman, Paul Davies, Henry Hansmann, Gerard Hertig, Klaus J. Hopt, Hideki Kanda, Edward B. Rock, The Anatomy of Corporate Law, 2004; Thomas Raiser, Rüdiger Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006; Walter Bayer, Mathias Habersack (Hg.), Aktienrecht im Wandel, 2 Bde., 2007; Andreas M. Fleckner, Aktienrechtliche Gesetzgebung (1807-2007), in: Walter Bayer, Mathias Habersack (Hg.), Aktienrecht im Wandel, Bd. I, 2007, 999 ff.; Paul L. Davies (mit Beiträgen von Sarah Worthington und Eva Micheler), Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008; Andreas M. Fleckner, Antike Kapitalvereinigungen, in Vorbereitung für 2010.
Quellen
Auswahl: Charter, granted by Queen Elizabeth, to the East-India Company, vom 31.12.1600; abgedruckt in: [Anonymus], Charters granted to the East-India Company, from 1601; also the Treaties and Grants, made with, or obtained from, the Princes and Powers in India, from the Year 1756 to 1772, [1774], 3 ff. [dort irrtümlich: „31.12.1601“]. Het Oost-Indische Octroy vom 20.3.1602, by de Hooch-Mogende Heeren Staten Generael der Vereenichde Nederlanden, in: Groot Placaet-Boeck, Bd. I, ’s Gravenhage, 1658, Sp. 529 ff.; Faksimile-Abdruck des Originals von 1602, in: Ella Gepken-Jager, Gerard van Solinge und Levinus Timmerman (Hg.), VOC 1602-2002: 400 years of company law, Deventer, 2005, 1 ff. Placaet, Tegens het verkoopen ende transporteren der Actien inde Oost-Indische Compagnie vom 27.2.1610, in: Groot Placaet-Boeck, Bd. I, ’s-Gravenhage, 1658, Sp. 553 ff. Code de Commerce vom 10.-15.9.1807, Bulletin des lois No. 164, 161 ff. Wetboek van Koophandel: Officiële uitgave, ’s‑Gravenhage, 1838. Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen vom 3.11.1838, PreußGS 505 ff. Gesetz über die Aktiengesellschaften vom 9.11. 1843, PreußGS 341 ff. Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland – Von der durch das Reichsministerium der Justiz niedergesetzten Commission, Frankfurt a.M., 1849. Loi sur les Sociétés en commandite par actions vom 17.7.1856, Bulletin des lois No. 414, 279 ff. Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten – Nebst Motiven, 2 Bde., Berlin, 1857. An Act to amend the Joint Stock Companies Act, 1856 vom 13.7.1857, 20 & 21 Vict., ch. 14. Entwurf eines allgemeinen deutschen Handelsgesetz-Buchs vom 12.3.1861: Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (ADHGB). Loi sur les Sociétés vom 24.7.1867, Bulletin des lois No. 1513, 94 ff. Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften vom 11.6. 1870, BGBl. NdtB. 375 ff. Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften vom 18.7.1884, RGBl. 123 ff.