Strafschadensersatz: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 29. September 2021, 08:52 Uhr

von Gerhard Wagner

1. Geschichte und Terminologie

Das private Haftungsrecht hat dieselben Wurzeln wie das öffentliche Strafrecht. Im römischen Recht entwickelte sich das Deliktsrecht als „privates Strafrecht“ in der Gestalt der actiones poenales, die später eine Verbindung mit den auf Ausgleich bedachten actiones rei persecutoriae eingingen. Noch bei Friedrich Carl von Savigny wurde dem Deliktsrecht ein Poenalzweck zugeschrieben; es diene nicht nur „juridischer Vergeltung“, sondern darüber hinaus der Abschreckung und Besserung.

Im common law of torts – das seiner römischen Schwester ohnehin viel näher steht als das kontinental-europäische Deliktsrecht – ist der Sanktionscharakter der Haftung bis heute offen anerkannt. Folgerichtig werden die Rechtsfolgen der Haftung – der Schadensersatz – nicht allein unter das Prinzip des Ausgleichs erlittener Nachteile gestellt, sondern darüber hinaus auch auf die Ziele der Verhaltenssteuerung und der Vergeltung ausgerichtet. Am deutlichsten durchgeführt ist dieser Ansatz in den Rechtsordnungen der USA, die die Gerichte bzw. juries zur Verhängung von Strafschadensersatz (punitive damages) ermächtigen, um besonders verwerfliches Verhalten zu bestrafen und davor abzuschrecken (punish and deter).

2. Der Stand der europäischen Privatrechte

Die Haltung der europäischen Rechtsordnungen zum Strafschadensersatz lässt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass punitive damages nach amerikanischem Muster strikt abgelehnt werden und nicht zum Kernbestand gemeineuropäischen Privatrechts zählen. Die scharfe Ablehnung des Strafschadensersatzes ist auch dadurch motiviert, die Anerkennung US-amerikanischer Urteile abzulehnen, soweit diese punitive damages in exorbitanter Höhe verhängen. Nach Ansicht des BGH (BGH 4.6.1992, BGHZ 118, 312, 334 ff.) verstößt der Strafschadensersatz gegen den deutschen ordre public (§ 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO), weil das deutsche Schadensersatzrecht ausschließlich auf den Ausgleichsgedanken ausgerichtet sei. In den Erwägungsgründen zur Rom II-VO (VO 864/‌2007) wird dieser Standpunkt ausdrücklich bekräftigt. Jenseits der Ablehnung der amerikanischen Praxis bieten die europäischen Privatrechte jedoch keinen Monolith, sondern ein durchaus facettenreiches Bild.

Obwohl das römische Recht Haftung und Schadensersatz auch auf den Pönalzweck ausrichtete, werden Steuerungs- und Straffunktionen des Deliktsrechts von den modernen Nachfolgern des römischen Rechts, den kontinental-europäischen Rechtsordnungen des civil law, ganz überwiegend abgelehnt. Für die deutsche Dogmatik ist der Strafschadensersatz ein rotes Tuch. Der Gesetzgeber des BGB wandte sich ausdrücklich von dem bis dahin im Gemeinen Recht (ius commune) geltenden Gradationssystem ab. Die Abstufung des Haftungsumfangs je nach dem Grad des Verschuldens begünstige „die Hereinziehung moralischer oder strafrechtlicher Gesichtspunkte“ in das Schadensersatzrecht, was besser zu vermeiden sei. Stattdessen gilt die Regel: Nur Ausgleich des Schadens und keinesfalls mehr als Schadensausgleich. Prävention und Vergeltung dürfen danach bei der Bemessung des Schadensersatzes keine Rolle spielen; insbesondere sind diese Gesichtspunkte nicht dazu geeignet, einen Ersatzanspruch jenseits des Umfangs zu begründen, der sich bei einer am Ausgleichsprinzip orientierten „Berechnung“ ergibt. Ganz durchhalten lässt sich die Fixierung auf den Kompensationszweck indessen nicht; bei Persönlichkeitsverletzungen durch Massenmedien legt die Rechtsprechung wert darauf, dass dem Schadensausgleich abschreckende Wirkung zukommt. Darin liegt die implizite Anerkennung des Präventionszwecks als normative Richtschnur des Schadensersatzrechts. Darüber hinaus spielt bei der Bemessung der Entschädigung für immaterielle Beeinträchtigungen seit jeher auch der Verschuldensgrad eine Rolle, also dasjenige Kriterium, das im Bereich der Vermögensschäden strikt abgelehnt wird.

Auch das französische Schadensersatzrecht folgt der Maxime: Tout le dommage, mais rien que le dommage, nach der es bei der Bemessung des Schadensersatzes auf präventive und punitive Zwecke nicht ankommen dürfte. Wie in Deutschland verschaffen sich diese Regelungsziele indessen auf indirektem Wege Raum und Geltung. Es ist kein Geheimnis, dass die französischen Gerichte die Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (droit de la personnalité) durch Massenmedien auch mit Rücksicht auf die Abschreckungswirkung des Urteils festsetzen. Das lukrative Delikt soll sich nicht lohnen. Der Projektentwurf zur Reform des Obligationenrechts will diese Judikatur in einem neuen Art. 1371 Code civil kodifizieren und in Fällen einer „faute manifestement déliberée, et notamment d’une faute lucrative“ die Verurteilung zu dommages-intérêts punitifs zulassen. Auch jenseits der Persönlichkeitsverletzungen werden präventive und punitive Aspekte bei der Bemessung der Geldentschädigung berücksichtigt, und zwar nicht nur bei immateriellen Beeinträchtigungen, sondern auch bei Vermögensschäden. Das den französischen Gerichten eingeräumte, breite Ermessen bei der Schadensbemessung ermöglicht es, dem Sanktionsinteresse Geltung zu verschaffen, indem der Ersatzbetrag bei grobem Verschulden höher geschätzt wird als sonst.

Unter den kontinental-europäischen Rechtsordnungen treten das österreichische und das schweizerische Recht den Steuerungs- und Strafzwecken des Schadensersatzes vergleichsweise unbefangen entgegen. Für die Schweiz heißt es in Art. 43 Abs. 1 OR ausdrücklich, bei der Bemessung des Schadensersatzes seien die Umstände, aber auch „die Größe des Verschuldens“ zu würdigen. Das österreichische ABGB folgt bis heute dem Gradationssystem, macht den Umfang des Schadensersatzes also abhängig vom Maß der Schuld. In der aktuell geführten Reformdiskussion wird zwar vorgeschlagen, ihm den Abschied zu geben, allerdings ausdrücklich betont, es sei die Aufgabe des Schadensersatzrechts, „einen Anreiz zu schaffen, Schäden zu vermeiden“ (§ 292 Abs. 1 Reform-Entwurf).

Die Berücksichtigung des Verschuldensgrads bei der Bemessung der Ersatzleistung ist eine zurückhaltende Variante des Strafschadensersatzes, die noch dazu häufig versteckt praktiziert wird. Diese Umwege hat das englische Recht nicht nötig. Angesichts des mit dem amerikanischen Recht gemeinsamen Stammbaums wenig überraschend, ist der Strafschadensersatz auch dem englischen Recht geläufig. Anders als in den USA ist der Anwendungsbereich der dort sog. exemplary damages allerdings seit der grundlegenden Entscheidung des House of Lords in Rookes v. Barnard [1964] AC 1129 auf wenige Fallgruppen begrenzt. Sieht man von den praktisch seltenen gesetzlichen Anordnungen und der Staatshaftung für willkürliches Verhalten von Amtsträgern ab, geht es auch in England allein um die Abschreckung vor dem lukrativen Delikt, bei dem der Schädiger den Schadensersatz von vornherein einkalkuliert und wegen des überschießenden Nutzens gleichwohl das fremde Recht verletzt. Die praktische Bedeutung der Maxime des „tort must not pay“ entfaltete sich bisher wiederum im Bereich der Mediendelikte. Allerdings hat das House of Lords die Beschränkung der exemplary damages auf bestimmte Deliktstatbestände – den sog. cause of action test – im Jahr 2002 aufgegeben (Kuddus v Chief Constable of Leicestershire Constabulary [2002] 2 AC 122). Eine Ausweitung des Strafschadensersatzes über den engen Bereich der Persönlichkeitsverletzungen hinaus ist damit wieder möglich geworden.

3. Gemeinschaftsrecht

Rechtsakte der EU, in denen die europäischen Gerichte zur Verhängung von Strafschadenser-satz ermächtigt werden, existieren nicht. Soweit allerdings das nationale Recht präventive und punitive Zwecke im Rahmen des Schadensersatzrechts anerkennt und auf dieser Grundlage suprakompensatorische Entschädigungsansprüche zulässt, darf es nicht zwischen Verstößen gegen nationales und solchen gegen Europarecht diskriminieren. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die englischen Gerichte aufgrund des sog. Äquivalenzprinzips gehalten, auch bei Verstößen von Amtsträgern gegen Gemeinschaftsrecht exemplary damages zuzusprechen, wenn sie dies in einem vergleichbaren nationalen Fall tun würden (EuGH verb. Rs. C-46/‌93 und C-48/‌93 – Brasserie du pêcheuer, Slg. 1996, I-1029, Rn. 90 f.).

Zahlreiche Richtlinien und Verordnungen der EU belassen den Mitgliedstaaten Regelungsspielräume bei der Sanktionierung von Verstößen gegen die dort geregelten Verhaltensstandards. Das damit eingeräumte Ermessen ist allerdings keineswegs schrankenlos. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Mitgliedstaaten vielmehr gehalten, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht mit Sanktionen zu ahnden, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sind (EuGH Rs.14/‌83 – von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 23). Diese Formel ist derart etabliert, dass sie mittlerweile auch von dem europäischen Gesetzgeber verwendet wird, etwa in den Anti-Diskriminierungs-Richtlinien (vgl. Art. 15 RL 2000/‌43).

Das Bemühen um wirksame und abschreckende Sanktionen bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht ist nicht dasselbe wie Strafschadensersatz. Die Präventionsfunktion der Haftung ist nicht gleichbedeutend mit der Straffunktion, sondern nur eine ihrer beiden Hälften Sühne und Abschreckung (punishment and deterrence). Gleichwohl markiert die offene Anerkennung der Präventionsfunktion des Schadensersatzrechts durch den EuGH und das ihm folgende europäische Sekundärrecht die Abkehr von der ausschließlichen Fixierung auf den Ausgleichszweck. Wie weit die Relativierung des Ausgleichszwecks vorangetrieben werden wird, ist derzeit eine offene Frage. Im Kontext des Europäischen Wettbewerbsrechts sah es nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Courage (EuGH Rs. C-453/‌99, Slg. 2001, I-6297) so aus, als würde der Gesichtspunkt der Verhaltenssteuerung die Oberhand gewinnen, doch das Urteil in der Rechtssache Manfredi (EuGH Rs. C-295/‌04 bis C 298/‌04, Slg. 2006-I, 6619) hat die Gewichte wieder zugunsten des Ausgleichsgedankens verschoben. Der entscheidende Prüfstein für das Kräfteverhältnis von Ausgleichs- und Präventionsgedanken ist die Frage, ob die Steuerungsfunktion der Haftung es ermöglicht, suprakompensatorischen Ersatz zuzusprechen, also Schadensausgleich zu gewähren, wo in Wahrheit ein Schaden gar nicht vorliegt. Wird dies im Interesse der Bewährung objektiven Rechts und zur Abschreckung vor Rechtsverletzungen anerkannt, ist der Rubikon hin zu einem echten „Präventionsschadensersatz“ überschritten. Es ist derzeit nicht vorherzusagen, wann der EuGH mit dieser Frage konfrontiert werden und wie er sie entscheiden wird.

4. Vereinheitlichungsprojekte

Die Projekte zur Vereinheitlichung der europäischen Haftungsrechte erteilen dem Institut des Strafschadensersatzes eine implizite Absage, wenn beispielsweise die Principles of European Tort Law (PETL) den Schadensersatz in Art. 10:101 S. 1 auf den Ausgleichszweck beschränkt. Auch der Draft DCFR geht das Problem nicht explizit an, sondern schweigt den Strafschadensersatz einfach tot, indem in Art. VI.-6:101(1) DCFR das Ziel der Reparation darauf beschränkt wird, den Geschädigten in diejenige Lage zu versetzen, in der er sich befände, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Darüber hinaus ist zwar in Art. VI.-6:301 DCFR von einem „right to prevention“ die Rede, doch damit sind allein Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gemeint, nicht aber Ansprüche auf suprakompensatorischen Schadensersatz.

Literatur

Peter Birks, Civil Wrongs, Butterworth Lectures 1990/‌1991, 55 ff.; Suzanne Carval, La Responsabilité civile dans sa fonction de peine privée, 1995; Peter Birks (Hg.), Wrongs and Remedies in the Twenty-First Century, 1996; A. Mitchell Polinsky, Steven Shavell, Punitive Damages, Harvard Law Review 111 (1998) 869 ff.; Juliana Mörsdorf-Schulte, Funktion und Dogmatik US-amerikanischer punitive damages, 1999; Dirk Brockmeier, Punitive damages, multiple damages und deutscher ordre public, 1999; Ina Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, 2004; Guido Calabresi, The Complexity of Torts, in: M. Stuart Madden (Hg.), Exploring Tort Law, 2005, 333 ff.; Gerhard Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht, Archiv für die civilistische Praxis 206 (2006) 352 ff.; idem, Neue Perspektiven im Schadensersatzrecht: Kommerzialisierung, Strafschadensersatz, Kollektivschaden, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentags, Bd. I, 2006.

Abgerufen von Strafschadensersatz – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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