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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
1. Rechtsgeschichte und Rechtsgeschichten
Die Rechtsordnungen der europäischen Staaten enthalten bekanntlich eine Vielzahl an Gebieten, die stark abweichende Strukturen und Zielsetzungen sowie unterschiedliche Veränderungsdynamiken aufweisen. Nicht nur außerhalb des Privatrechts gibt es zahlreiche anders gelagerte Felder des Rechts, auch innerhalb des Privatrechts finden sich sowohl spezielle Materien, etwa Verbraucher und Verbraucherschutz oder das Recht des Versicherungsvertrags, als auch eigenständige Rechtsgebiete (wie etwa das Handels-, Gesellschafts- oder Arbeitsrecht). Neben diese Vielfalt an gewachsenen Sachstrukturen im Recht tritt ein nicht minder breites Angebot an analytischen Zugängen zu ihm, über die bisweilen heftige Kontroversen geführt werden. Sie reichen von traditionell-dogmatischer Argumentation, die sich an der Auslegung von Rechtsnormen und vielfach am Ideal systemischer Kohärenz orientiert, über eine funktional angelegte Rechtsvergleichung und eine empirisch-soziologische Erhebung der Rechtswirklichkeit bis hin zur ökonomischen Analyse des Rechts in ihren verschiedenen Spielarten. Dass es keine einheitliche Geschichte des Rechts gibt, verwundert angesichts dessen nicht. Denn auch sie kann nicht nur von je unterschiedlichen Rechtsgebieten her, sondern ebenso mit verschiedenen Maßgaben erschlossen werden. Es gibt sie als eine Geschichte weit zurückreichender Rechtsregeln (etwa der Mängelgewährleistung beim Kauf), doch auch als eine umfassend-allgemeine, eher philosophienahe Ideengeschichte (etwa über die Entstehung der Vorstellung vom subjektiven Recht). Sie kann sowohl als Geschichte von rechtlich verfassten Institutionen innerhalb einer Gesellschaft (so von Ehe und Scheidung und ihrem Recht), wie auch als Geschichte von öffentlichen Strategien zur gesellschaftlichen Disziplinierung und der Sanktionierung abweichenden Verhaltens (historische Kriminologie), aber auch unter vielen weiteren Perspektiven verstanden werden. Nur scheinbar überzeitliche Faktoren wie Rechtslehre, Rechtsprechung oder Gesetz und Gesetzgebung gewinnen dabei je unterschiedliches Gewicht.
2. Die europäische Dimension der Privatrechtsgeschichte
Eine dieser vielfältigen Geschichten vom Recht umfasst die Entwicklung des heutigen Privatrechts in Europa. In ihr vollzieht sich eine der für die westliche Zivilisation wichtigsten Entwicklungen des Rechts, denn sie handelt von der Entstehung und Überlieferung einer spezifischen, dogmatisch-wissenschaftlich betriebenen Rechtslehre, ein in dieser Weise singuläres und folgenreiches Geschehen. Sein Beginn lenkt in die vorchristliche Zeit zurück, als die hellenistischen Wissenschaftslehren in die Rechtskultur der römischen Antike eindrangen und zur Ausbildung einer immer höher differenzierten und regelgeleiteten Rechtsordnung, zu einer spezifischen juristischen Literatur und der neuartigen Profession der Juristen führten. Die Lehren des sog. klassischen römischen Rechts, im wesentlichen gruppiert um heute als Privatrecht verstandene Materien, gingen in die Kompilation des Corpus Juris Civilis ein und wurden so konserviert. Ihre Wirkung entfaltete sich erneut seit der Epoche des Hochmittelalters: Im Italien des 11. Jahrhunderts wieder entdeckt, zog der Textbestand erhebliches Interesse auf sich, und mit der Entstehung der Universitäten breiteten sich die glossierten, dann kommentierten Lehrsätze und Regeltechniken des römischen Rechts in ganz Europa, insb. auf dem Kontinent, aus. Von ähnlich großer Wirkung für Form und Aufbau der europäischen Privatrechtsordnungen war ein zweite, auch im Hochmittelalter einsetzenden Bewegung, die der fallrechtlich entstandenen römischen Lehrtradition eine neue Ordnungsvorstellung zur Seite stellte. Die Emanzipation der Kirche vom weltlichen Kaisertum, die im Investiturstreit gipfelte, ließ nicht allein den Gedanken einer säkularen Weltordnung entstehen, die Kirche organisierte sich auch selbst in einer bislang nie gekannten Weise zu einer hierarchischen, rechtlich verfassten Anstalt um und schuf mit dem ius canonicum (Kanonisches Recht) das erste moderne Rechts- und Gerichtssystem Europas (Harold Berman). Die römischen, vermeintlich kaiserlichen Rechtstraditionen und die kirchlichen, von theologischer Wahrheit gestützten Ordnungsideale formten Fragestellungen und Antworten der sich nun ausbreitenden gelehrten Jurisprudenz in Europa und führten zur Ausbildung des ius commune. Obgleich die Autorität der römischen Überlieferung schon seit der Epoche des Humanismus neu befragt, im Zeitalter des Naturrechts als Ausgangspunkt gar verlassen wurde, befanden sich die Doktrinen des frühneuzeitlichen ius commune in steter Transformation und reichten bis in die großen europäischen Kodifikationen und die rechtswissenschaftliche Erneuerung der historischen Schule des 19. Jahrhunderts hinein. Sogar die Eigenständigkeit des angelsächsischen common law demgegenüber lässt sich bei näherer Betrachtung relativieren, denn auch hier gibt es Einflüsse aus der kontinentalen Rechtsentwicklung (Reinhard Zimmermann), so tief die dogmatischen und rechtskulturellen Unterschiede im Übrigen waren und sind. Innerhalb dieses Rahmens lässt sich die Entstehung vieler der heute bekannten privatrechtlichen Dogmen und Strukturen im einzelnen nachvollziehen: eine komplexe Entwicklung von Kernbegriffen und randseitigen Konzepten des Privatrechts, die über Jahrhunderte immer wieder unter neuen Umwelteinflüssen gleichsam abgerieben und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt wurden, teils verschwanden, andernteils einer Umdeutung unterzogen wurden. Beispiele hierfür finden sich viele, ob anhand des römischen Zentralbildes des Warenkaufs und seiner dogmatischen Ausgestaltungen, anhand der erst sukzessiven Herausbildung eines allgemeinen Deliktsrechts, anhand des wachsenden Einflusses der Willensdoktrinen auf das Privatrechtsdenken, der Irrtumslehre (Irrtum) in ihren Transformationen und zahlreichen weiteren Teilgeschichten. Daneben tritt eine Reihe von Faktoren, die das heutige Bild des Privatrechts in Europa nicht minder geprägt haben. Nicht bloß die Denkwelt des common law gehört hierher, auch eine unübersehbare Vielfalt regionaler Rechtstraditionen in ganz Europa, die mit den gelehrten Doktrinen unterschiedlich stark verschmolzen. Allen voran geschah dies im Bereich der Stadtrechte, die zu regional erheblich abweichenden, unterschiedlich stark romanisierten Rechtsregeln führten, und in den Lehren des usus modernus. Tief wurde das gesamte europäische Privatrecht durch die Wandlungen des sich strukturierenden neuzeitlichen Kapitalismus gezeichnet: mit dem aufstrebenden Banken- und Versicherungswesen, mit den Handelscompagnien des 17. und 18. Jahrhunderts und ihrem komplexer werdenden Handels- und Gesellschafts-, sogar einem sich abzeichnenden Aktienrecht, und überhaupt durch die vielen praxisverhafteten Innovationen des europäischen Handelsverkehrs. Das 19. Jahrhundert schließlich propagierte unter dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie eine neue Reichweite privatrechtlicher Freiheit und formte dies rechtsinstitutionell aus. Infolge der industriellen Revolution erfuhr das Privatrecht wenig später einschneidende Umwälzungen – etwa für Produktions- und Handelsprozesse oder die rechtliche Normierung abhängiger Lohnarbeit.
Die Geschichte der europäischen Privatrechte weist also große strukturelle Parallelen und zugleich die Vielzahl ihrer nationalen Sonderentwicklungen auf. Der Dominanz der letzteren wird seit einigen Jahrzehnten durch den wachsenden Einfluss des europäischen Gemeinschaftsprivatrechts und durch Diskussionen wie jene um ein Europäisches Zivilgesetzbuch entgegengewirkt. Ein Spezifikum privatrechtlichen Denkens lässt sich allerdings bis in seine römische Epoche zurückverfolgen: Durch die Epochen seiner stärksten Veränderungen hindurch, sei dies in frühneuzeitlichen, naturrechtlichen (Naturrecht) oder später pandektistischen Lehren (Pandektensystem), hat es seine Verankerung im akademischen Unterricht nie verloren. Denn es basiert auf einer eigenen, autonomen Terminologie, die als ein sozialtheoretischer Ordnungsplan sich nicht von selbst versteht, sondern gelernt und eingeübt werden muss. Suchen europäische Privatrechtler ihre viel berufenen Lösungen, so finden sie weniger pragmatische Auswege aus realen Konfrontationen, sondern entwerfen vielmehr typologisierte Konzepte zu Rechtsfragen, durch die eine eigenständige Rechtsdogmatik erst entstehen kann. In diesem Prozess der sog. Verwissenschaftlichung des Rechts (Franz Wieacker) kann man einen Motor für die Rationalisierungsprozesse der westlichen Gesellschaften seit dem Hochmittelalter erkennen. Sein wirkliches Gewicht ist freilich jenseits allgemeiner Hypothesen kaum präzise zu benennen.
3. Privatrechtsgeschichte und europäische Rechtsvereinheitlichung
Die vornationale, auf gemeinsame sozial- und geisteshistorische Ursprünge zurückgehende Entstehungsgeschichte vieler Lehren der europäischen Privatrechte wirft die Frage auf, inwieweit die rechtsgeschichtliche Forschung im aktuellen Prozess der Europäisierung des Privatrechts eine Orientierungs- und Hilfsfunktion einnehmen kann. Als historische (sog. vertikale) Rechtsvergleichung betrieben, deckt sie strukturelle Differenzen und deren Ursprünge auf, ähnlich wie dies die Disziplin der Rechtsvergleichung für die Gegenwart (horizontal) leistet. Derartige vergleichend-historische Analysen können versuchen, die europäische Nationalisierung des Privatrechts zu überwinden und in ein zukunftsfähiges Bild eines gemeineuropäischen Privatrechts zu überführen. Sie werden bereits seit längerem, vor allem in der deutschen, niederländischen, auch in der angelsächsischen Diskussion betrieben, und gerade die Nähe der akademischen Disziplin der Rechtsvergleichung zur Wissenschaft von der Rechtsgeschichte, aus der sie im frühen 20. Jahrhundert wesentliche Fragestellungen übernommen hat, legt eine solche Kooperation nahe. Bis zu welchem Umfang sich auf diesem Wege tatsächlich eine gemeineuropäisch-vergleichende Privatrechtsgeschichte als Wegbereiter für die Europäisierung des Privatrechts erreichen lässt, ist indessen fraglich. Das hängt weniger an den wissenschaftstheoretischen Einwänden dagegen, die sich in dieser Weise auch in der Rechtsvergleichung wiederfinden lassen: Es ist etwa umstritten, ob sich eine solche, stark am Leitbild des entwickelten Privatrechts orientierte Art des Vergleichs ohne weiteres auf die Geschichte des Rechts insgesamt und ihre Methoden ausdehnen lässt, ohne dabei andere Rechtsgebiete in eine konzeptionelle Peripherie zu verdrängen, die deren tatsächliches historisches oder aktuelles Gewicht verzerren würde. Ebenso wird bestritten, dass Rechtsgeschichte in erster Linie im Hinblick auf rechtsdogmatische Lösungen und nicht in Form einer ausschließlich kognitiven Geistes- und Sozialwissenschaft zu erfolgen habe – auch dies eine der Rechtsvergleichung bekannte Debatte. Das vermutlich größere Hindernis stellt vielmehr die in Europa schon bestehende Diversität der Ansätze und Traditionen dar, Rechtsgeschichte zu schreiben. Hier wird man nicht leichter zu einer gemeinsamen Version finden können als im europäischen Privatrecht selbst zu seiner Vereinheitlichung.
4. Die Wissenschaften von der Rechtsgeschichte in Europa
Denn die rechtsgeschichtlichen Wissenschaften entstanden zwar unter im Großen ähnlichen Fragestellungen, bildeten sich aber in nationalen Kontexten näher heraus und weisen heute dementsprechend viele unterschiedliche Merkmale auf. Als historiographische Reflexion auf vergangenes Recht setzten sie im Humanismus ein, als Zeugnisse vergangenen Rechts als Gegenstand genuin historischen Interesses relevant zu werden begannen. In einem engeren Sinne ließen erst im 17. Jahrhundert neue Fragen nach den Hintergründen der eigenen nationalen Rechtstradition (so in England mit Sir Matthew Hale) oder nach dem Ereignis der Rezeption des römischen Rechts (so in Deutschland durch Hermann Conring) die Rechtsvergangenheit als eigenes Erkenntnisobjekt entstehen. Einen auf weite Teile Europas ausstrahlenden Professionalisierungsschub erfuhr das rechtsgeschichtliche Denken durch die deutsche historische Schule. Infolge ihrer Grundannahmen entwickelte sich eine quellenkritisch-philologisch unterbaute Geschichtsforschung des Rechts und begründete sich als ein eigenständiges wissenschaftliches Fach. Zum Jahrhundertende hin, einerseits unter dem Einfluss der historischen Methode Leopold von Rankes, andererseits durch die sich abzeichnende Kodifikation des deutschen BGB von 1900, steuerte es indes auf eine rechtspolitische Bedeutungslosigkeit zu und wandelte sich zwischen 1870 und etwa 1930 zu einer rein philologisch-historischen Disziplin innerhalb der rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Die im Zuge dieser Bewegung freigesetzte, bis heute nicht wieder erreichte Intensität der rechtshistorischen Forschungsarbeit diente zwar in mehreren Ländern als Anreiz, die eigene rechtsgeschichtliche Wissenschaft zu professionalisieren (etwa in England durch Frederick William Maitland oder in Spanien durch Eduardo de Hinojosa). Dies führte jedoch keineswegs zu einer gleichlaufenden wissenschaftlichen Ausrichtung, in der bis heute unterschiedliche nationale Perspektiven dominieren.
Einige der gemeinsamen Fragen in den europäischen Rechtsgeschichtswissenschaften sind allerdings auf gleiche äußere Einflüsse zurückzuführen, die das Verständnis vom Recht und seiner Geschichte vorbestimmen: So lässt sich im 20. Jahrhundert europaweit ein massiver Verfall des früheren Interesses an antiker und mittelalterlicher Rechtsgeschichte konstatieren, die beide zwar immer noch gelehrt und betrieben werden, neben die jedoch in starkem Maße Themen der neuzeitlichen oder modernen Rechtgeschichte, insb. des 19. Jahrhunderts selbst, getreten sind − Ausdruck einer sich verkürzenden Vergangenheitsorientierung. Ähnlich länderübergreifend stand früher die europäische Rechtsgeschichte unter dem Bann der großen Kodifikationen Europas und fokussierte auch ihr Interesse daher auf die Geschichte von Rechtsnormen. Wie die französische Rechtsgeschichte im Verlauf des 20. Jahrhunderts erst langsam die Quellen gerichtlicher Praxis für sich neu entdeckte, so rückte auch in der deutschen Forschung das tatsächliche geübte Recht stärker in den Mittelpunkt, gleichlaufend mit entsprechenden Wandlungen innerhalb der Rechtsvergleichung. In Italien wurden derselbe Wechsel gar durch einen Komparatisten initiiert (Gino Gorla); nur im nicht vom Kodifikationsdenken geprägten England konnte sich diese Bewegung nicht ähnlich bemerkbar machen. Schließlich lässt sich feststellen, dass die Rechtsgeschichtswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts europaweit ihre nationale Fixierung abzulegen begonnen haben, eine Folge der sich langsam neu ausrichtenden politischen Fixierung auf Gesamteuropa: Die zuweilen durch Autarkie geprägte französische Rechtshistorie begann ebenso, sich allgemeineren und übernationalen Fragen zu öffnen wie die früher oft isolationistisch wirkende englische Rechtshistorie. Auch in Italien und Deutschland dominierten lange nationale, teils nationalistische Themen und werden übernational-vergleichende Perspektiven erst seit einigen Jahrzehnten vermehrt verfolgt; offener waren dagegen seit langem die Wissenschaften in kleineren Ländern ausgerichtet (etwa den skandinavischen Ländern, in Holland, Schottland, Österreich oder der Schweiz). Natürlich kommen diese Verschiebungen auch einer gemeineuropäischen Privatrechtsgeschichte entgegen. Noch immer aber existiert nur eine kleine Zahl tiefgehender und zugleich umfassend übernational angelegter Werke.
Die ähnlich gelagerten Tendenzen täuschen nicht darüber hinweg, dass die europäischen Wissenschaften der Rechtsgeschichte weiterhin disparat ausgerichtet sind. Sie entsprechen den jeweiligen nationalen Rechtsidentitäten, und sie erfassen Vergangenheit und Entwicklung des Rechts unter je anderen und ungleichzeitigen Vorbegriffen, was große Konsequenzen auch für die methodische Herangehensweise hat. Während in Frankreich die alte Fixierung auf die nationalmythische Epochengrenze von Französischer Revolution und Code civil erst langsam zu verblassen beginnt, erhebt sich in manchen Teilen Europas die Frage nach der nationalen Identität einer eigenen Rechtsgeschichte seit 1989 erst neu und mit ungebrochener Kraft, etwa in der Slowakei oder Litauen. Während einige osteuropäische Staaten kaum über eine gewachsene rechtsgeschichtliche Forschung verfügen, blicken andere (etwa Polen oder Ungarn) auf eine schon lange Tradition zurück. In der deutschen Rechtskultur nimmt die akademische Rechtslehre traditionell einen hohen Stellenwert ein, und so pflegt auch die deutsche Rechtsgeschichtswissenschaft ein großes Interesse an der gelehrten Jurisprudenz der Vergangenheit. Dagegen existiert ein ganz anderes Vorverständnis in der englischen Rechtsgeschichte. Hier führt seit je her das Leitbild eines tradierten und in seiner Grundsubstanz unkodifzierten Rechts zu einem eigenen Ansatz: Rechtsgeschichte ist eher auf frühere Rechtsprechung und Urteilsbegründungen denn auf die akademische Rechtslehre fixiert. Überhaupt versteht sie sich seltener als auf dem Kontinent als eine Form historisierter Erkenntnis; sie ist stärker geneigt, die eigene Rechtsvergangenheit nach Autorität und auf normative Kraft hin zu durchsuchen, womit der rechtshistorischen Analyse eine andere Rolle zukommt als auf dem Kontinent (insb. Italien, Spanien oder Frankreich).
Neben derartige, durch die jeweilige Rechtskultur bedingte Differenzen tritt das grundsätzliche Positionierungsdilemma der Rechtsgeschichte zwischen den Rechts- und den Geschichtswissenschaften. „What the lawyer wants is authority”, brachte dies Maitland knapp auf eine Formel, „what the historian wants is evidence … The lawyer must be orthodox otherwise he is no lawyer; an orthodox history seems to me a contradiction in terms.” Nur auf den ersten Blick ist dies identisch mit einer zweiten Frage: In welchem Maße sollen in der Rechtsgeschichte kultur- und sozialwissenschaftliche Kategorien dominieren, wie weit dagegen genuin rechtswissenschaftliche Begriffe? Eine Anschauung von ihr geben schon die einzelnen Forschungstraditionen. Unterschiede zeigen sich etwa zwischen der französischen und der italienischen Auffassung von dem, was Institutionengeschichte sei, oder besonders plastisch anhand der Rechtsgeschichtsforschung in den USA, die trotz ihrer Zugehörigkeit zur common law-Tradition weitaus stärker als die britische nach sozialwissenschaftlichen Idealen ausgerichtet ist. Doch nicht zwischen den verschiedenen nationalen Rechtskulturen, sondern mitten in ihnen selbst verlaufen diese Fronten der methodischen Grundorientierungen für die Sicht auf das vergangene Recht; es sind diejenigen der heutigen Rechtswissenschaften insgesamt. Auch eine Privatrechtsgeschichte muss hier ihren Bezugsrahmen wählen, der unterschiedlich ausfallen kann. Die heute wahrgenommene Beschleunigung des rechtskulturellen Wandels zieht oft den Verlust von Kontinuitätsbewusstsein nach sich, und die Suche nach einer rechtsdogmatischen Ordnung der Vergangenheit mag dementsprechend an Reiz verlieren. Es kann aber im Gegenteil auch zum Versuch anregen, das Recht der Gegenwart kohärenter und traditionsbewusster zu gestalten. Derart weltanschauungsgeladene Alternativen verleiten, zumal im Verbund mit einem euphorischen Glauben an die Macht wissenschaftlicher Methodik, zu leidenschaftlichen Theorie-Debatten, wo es tatsächlich um Bekenntnis geht. Welche Ausrichtung die Geschichte des europäischen Privatrechts auch künftig erhält – aus den vielen Rechtsgeschichten wird eine europäische Rechtsgeschichtswissenschaft nur in dem Maße werden, in dem der Europäisierungsprozess des Rechts selbst fortgeschritten und nachvollzogen ist.
Literatur
Helmut Coing, Die europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, Ius Commune 1 (1967) 1 ff.; Francisco Tomás y Valiente, Escuelas e historiografía en la historia del derecho español (1960–1985), in: Bartolomé Clavero, Paolo Grossi, Francisco Tomás y Valiente (Hg.), Hispania entre derechos proprios y derechos nacionales, 1990, 11 ff; Reinhard Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 4 ff; Jean Hilaire, L’approche historique d’un système juridique: l’enjeu français, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 62 (1994) 35 ff.; Peter Stein, Legal history: the british perspective, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 62 (1994) 71 ff; Mathias Reimann, Alain Levasseur, Comparative Law and Legal History in the United States, American Journal of Comparative Law Supplement 46 (1998) 1 ff; Pio Caroni, Gerhard Dilcher (Hg.), Norm und Tradition. Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte?/Fra norma e tradizione: Quale storicità per la storia giuridica?, 1998; Kjell Å. Modéer (Hg.), Rättshistoria i förändring. Olinska stiftelsen 50 år/Legal History in Change. The Olin Foundation for Legal History 50 Years, 2002.
Gesamtdarstellungen
Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967; John Gilissen, Introduction historique au droit. Esquisse d’une histoire universelle du droit, 1979; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1 1985, Bd. 2 1989; Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1991; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996; Olivia F. Robinson, T. David Fergus, William M. Gordon, European Legal History, 3. Aufl. 2000.