Naturalrestitution und Naturrecht: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Hannes Unberath]]''
von ''[[Johannes Liebrecht]]''
__FORCETOC__
== 1. Vielfalt der Naturrechts-Begriffe ==
== 1. Gegenstand ==
Mit dem Begriff Naturrecht werden verschiedene historische Phänomene benannt. Sie weisen den Kern eines gemeinsamen Sinnbezugs auf, denn sie treffen sich in ihrer Suche nach allgemeingültigen, unveränderlichen Grundsätzen für ein gerechtes und menschengemäßes Recht. Über Jahrhunderte konnte dadurch das Naturrechtsdenken zum Maßstab und Keim von Rechtskritik werden. Im Einzelnen aber variiert seine Erscheinungsweise erheblich, je nachdem welchen Inhalts die Bezugsgröße Natur gewesen ist: Es macht einen Unterschied, ob ein teleologisch aufgeladener, doch an der je konkret aktualisierten Bestimmung eines Menschen ausgerichteter Naturbegriff (bei ''Aristoteles'') zugrunde liegt oder aber der Naturbegriff auf die menschliche Natur insgesamt ausgreift (wie innerhalb der ''logos''-durchwalteten Weltenordnung der ''Stoa''). Die Natur der Philosophien des christlichen Mittelalters bietet als rein diesseitige Sphäre keinen Ort für Götter, und ihr Naturrecht mag einen Plan Gottes offenbaren, ist jedoch anders als das antike stets einem ''ius divinum'' untergeordnet. Der christlich-scholastischen Philosophie entgegengestellt, begründet sich wiederum das neuzeitliche Naturrecht als ein vernunftrechtliches, später zunehmend durch die Aufklärung gezeichnetes Denken: Natur, menschliche Natur und ihre Sozialität sind hier ein durch fortschreitende wissenschaftliche Untersuchung zu erschließender Bereich. Der Terminus Naturrecht führt hingegen nicht nur zu den Stufen einer ideengeschichtlichen Periodisierung. Unter seinem Etikett werden noch heute, insbesondere im angelsächsischen Raum, fundamentale Aspekte der Rechtstheorie verhandelt und philosophische, manchmal stark aussagenlogisch gefärbte Dimensionen rechtlicher Normativität erschlossen. Die hierhinter stehenden Fragen um Geltung und Positivität des Rechts, um seinen Bezug auf Moral oder Sitte sind in kodifikationsgeprägten Ländern an sich nicht minder problematisch, werden dort jedoch häufig hinter dem Horizont eines durch [[Kodifikation]] ebengültigen Rechts vermutet und in das kleine Randfach der Rechtsphilosophie abgedrängt. In der jüngsten Geschichte wurden sie jedoch auch auf dem Kontinent verschiedentlich aktuell: So erlebte die Debatte um das Naturrecht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine europaweite Blüte, oder nach 1989 tauchte sie in Deutschland im Rahmen der sog. „Mauerschützenprozesse“ erneut auf.
§ 249 Abs. 1 BGB bestimmt, dass derjenige, der zum [[Schadensersatz]] verpflichtet ist, den Zustand „herzustellen“ hat, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] sieht damit die Herstellung des Zustandes'' in natura'', wie er ohne das schädigende Ereignis bestünde, ''durch den Schädiger'' als eine Form des ''Schadensersatzes'' und zwar als dessen ''primär'' geschuldeten Inhalt an. Geldersatz wird erst in zweiter Reihe geschuldet. Diese in ihrer speziellen Ausprägung rechtsvergleichend ungewöhnliche Regelung, die an spätscholastisches Gedankengut anknüpft, war bereits zum Zeitpunkt der Beratungen heftiger Kritik ausgesetzt und erschwert die Abgrenzung zwischen der Durchsetzung subjektiver Rechte auf eine Leistung und den Sanktionen bei ihrer Verletzung sowie die Erfassung der verschiedenen Arten des Schadensersatzes durch Geldleistung.


== 2. Naturalrestitution durch den Schuldner ==
== 2. Naturrecht als Epoche ==
Der Eingriff in ein fremdes Recht begründet in der Regel einen Anspruch auf Aufhebung des Eingriffs, soweit dieser andauert. Beispiele dafür sind der Anspruch auf Erfüllung des Vertrages, die Vindikation nach § 985 BGB und der negatorische Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB. Diesen Ansprüchen ist gemeinsam, dass sie nicht voraussetzen, dass der Eingriff selbst zurechenbar – verschuldet – ist, sondern nur, dass der Schuldner faktisch in der Lage ist, den Eingriff zu beenden, etwa indem er den Vertrag erfüllt, die Sache herausgibt oder eine sonstige Beeinträchtigung beendet. Demgegenüber ist der Anspruch auf Schadensersatz auf vollständigen Ausgleich der Folgen einer bereits erfolgten Rechtsverletzung gerichtet und setzt voraus, dass der Schuldner für diese im weitesten Sinne verantwortlich ist. Diesen Unterschied hatte bereits ''Friedrich'' ''Mommsen'' auf der Basis römischer Quellen herausgearbeitet und den Schadensersatz als Ersatz eines in Geld bewerteten „Interesses“ aufgefasst.
Für das europäische Privatrecht ist die gerade als neuzeitliches Naturrecht erwähnte historische Phase besonders wichtig gewesen. Sie bezeichnet eine gesamteuropäische geistige Strömung im 17. und 18. Jahrhundert, die, losgelöst von den Axiomen der christlichen Moraltheologie, eine richtige Struktur menschlicher Ordnung zu bestimmen suchte und einen neuen Rahmen für das Recht schuf; zahllose Arbeiten auch zum Zivilrecht wurden in ihrem Namen verfasst und eigene Lehrstühle eingerichtet.


Die Naturalrestitution durch den Schuldner liegt quer zu dieser Unterscheidung, weil die Naturalherstellung des Zustandes, der ohne die Rechtsverletzung bestünde, und die Beseitigung einer aktuellen Rechtsverletzung in ihren Folgen zum Teil übereinstimmen. Die daraus folgenden Wertungswidersprüche zwischen der Ebene des Primär- und des Sekundäranspruchs zeigen sich besonders deutlich seit der Reform des BGB von 2002 anhand der neugefassten Vorschrift § 281 BGB: Danach muss der Gläubiger bei einer Vertragsverletzung in der Regel zuerst eine Frist zur Nacherfüllung setzen, bevor er Schadensersatz geltend machen kann. Dieser kann dann wohl kaum selbst auf Erfüllung ''in natura'' gerichtet sein, zumal § 281 Abs. 4 BGB explizit anordnet, dass der Anspruch auf die Leistung ''in natura'' mit dem Begehren des Schadensersatzes statt der Leistung untergeht. Mit der wohl h.M. ist daher anzunehmen, dass die Naturalrestitution im Bereich vertraglicher Ansprüche ''generell'' ausscheidet.
Zum sog. frühen Naturrecht wird zum Teil bereits ''Johannes Althusius'' gezählt, sein erster maßgeblicher Vertreter war der Holländer ''Hugo Grotius'', der als ethischen Ausgangspunkt seines Naturrechts die menschliche Bereitschaft zur vernünftigen und friedlichen Koexistenz voraussetzte (''socialitas'') und hieraus nähere, zumeist vertragsrechtlich konstruierte Prinzipien erarbeite. Im klassischen Naturrecht wurden bei Denkern wie ''Thomas Hobbes'', ''Samuel von Pufendorf'' oder ''Christian Thomasius'' dann die großen Naturrechtssysteme entwickelt. Das für die europäische Privatrechtsgeschichte bedeutendste verfasste der in Schweden und Preußen lehrende ''Pufendorf''. Gegenüber ''Grotius'' ging er von der menschlichen Schwäche und Bedürftigkeit als Grundlage aus (''imbecillitas''): hieraus entsteht eine Ordnung gegenseitiger Hilfeleistungen, wird also erst eine ''socialitas'' konstituiert. Demgemäß ist sein Naturrechtsbegriff auch primär am Begriff der Pflicht (''officium'') ausgerichtet und angebunden an die gottverliehene Bestimmung des Menschen zu dienen, aus welcher sich erst ein Recht ergebe. Schon hier und weiterhin im späteren Naturrecht bildete sich aus diesen Grundlagen eine vernunftbestimmte Gesellschaftsprogrammatik, die auf große, in einem neuen Sinne als umfassend und systematisch verstandene Gesetzgebungswerke der Gegenwart, die neuen Kodifikationen umgelegt und auf sie hin ausgebildet wurde. Die Naturrechtler'' Christian Wolff ''und'' Daniel'' ''Nettelbladt'' wirkten durch ihre Schule etwa auf die Abfassung des [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Preußischen ALR von 1794]], doch die Breitenwirkung war ungleich größer.


In der Praxis ist die Naturalrestitution aber auch bei ''außervertraglichen Schadensersatzansprüchen'' die seltene Ausnahme. Im Falle deliktischer Schädigungen ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) ist es geradezu absurd, den Geschädigten auf Wiederherstellung ''in natura'' durch den Täter zu verweisen. Dass dies unzumutbar ist, wurde auch bei Erlass des BGB erkannt und dem Geschädigten im Falle der Beschädigung einer Sache oder des Körpers das Wahlrecht eingeräumt, den für die Herstellung erforderlichen Geldbetrag zu verlangen, was in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle auch geschieht. Der von § 249 BGB erweckte Anschein, Naturalrestitution sei im deutschen Recht die regelmäßige Form des Schadensersatzes, ist damit geradezu irreführend.
Die Vielfalt des naturrechtlichen Denkens fast zweier Jahrhunderte geht über diese Figuren weit hinaus, sie lässt sich europaweit und in vielen unterschiedlichen Ausprägungen ausmachen, sei es in Absolutismus-nahen Konzepten oder ebenso in liberalen Ideologien wie denen von ''John Locke'', der mit seiner calvinistisch geprägten, auf diesseitige Freiheit und Eigentum gerichteten Gesellschaftslehre überragenden Einfluss auf die angelsächsichen politischen Ideale gewann. Als übergreifende Sozialphilosophie der Moderne glich das Naturrecht einem universalen Gelehrtendiskurs (''Franz Wieacker''<nowiki>; </nowiki>''Klaus Luig''). Sein tatsächlicher Ort war indes der einer genuin juristischen Grundlagendisziplin. ''Pufendorf'' verstand seine Lehrtätigkeit als rechtswissenschaftliche und sah sein Denken als ein zeitgemäßes neues Bild vom Recht: Das Recht im Ganzen sollte neu entworfen und begründet werden, ohne Abhängigkeit von der gelehrten Jurisprudenz des frühen [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] und ebenso unabhängig von der Moraltheologie. Möglicherweise ist die große Anziehungskraft dieses Ziels auch durch den Autoritätsverlust des Textbestands des ''[[Corpus Juris Civilis]]'' zu erklären, das auf seine kritische Aneignung und Erweiterungen im [[Humanismus]] sowie die neuen europäischen Rechtskonzepte um Individualität und Subjektivität keine ausreichenden Muster mehr bieten konnte und eine neuartige Rechtsreflexion erforderlich werden ließ.


Für die Herstellung ''in natura'' durch den Schuldner verbleiben nur wenige Fallgruppen. Besteht der Schaden in der Belastung mit einer Verbindlichkeit, so soll aus §&nbsp;249 Abs.&nbsp;1 BGB ein Anspruch auf Freistellung folgen (BGH 20.6.1972, BGHZ 59,&nbsp;148). Desgleichen soll bei Güterknappheit oder Inflation die Naturalrestitution helfen. Praktisch bedeutsam ist jedoch vor allem die Verfügbarkeit der Naturalrestitution im Falle der ''[[Culpa in Contrahendo|culpa in contrahendo]]'', da der ''Bundesgerichtshof'' auf diesem Weg eine – im BGB nicht explizit vorgesehene – Lösung vom Vertrag bei (nur) fahrlässiger Irreführung ermöglicht (BGH 26.9.1997, NJW 1998, 302 schränkt die Aufhebung des Vertrages im Wege des Schadensersatzes auf den Fall eines objektiv nachteiligen Vertrages ein). Die [[Principles of European Contract Law|PECL]] ordnen das Problem überzeugender den Regeln über Willensdefizite zu (Art.&nbsp;4:103 PECL, ähnlich Art. II.-7:201 DCFR).
== 3. Säkularisierung des Rechtsdenkens  ==
Die große Wirkung des Naturrechts wird jedoch erst vor seinem Entstehungs-Hintergrund verständlich. Als Glaubensspaltung und Konfessionskriege im neuzeitlichen Europa eine bisher ungeahnte Orientierungsnot aufrissen und sich souveräne Staaten mit einander feindlich gestimmten Bekenntnissen gegenüberstanden, wurde eine neue Fundierung des Rechts notwendig, die tauglich sein musste, auf Elemente theologischer Letztbegründung zu verzichten. Schon von ''Grotius'' wurde die Frage nach den Bedingungen friedlicher Koexistenz neu gestellt und nach Rechtsregeln innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Völkern gesucht. Während er dabei mit seiner Frage, welches Recht gelte, wenn es einen Gott nicht gäbe, noch eher der scholastischen ''quaestiones''-Kultur verpflichtet war, drang ''Hobbes'' zu einer grundsätzlich säkularen Rechtsbegründung durch, die die Rolle des Staates als normsetzende Gewalt erstmals neu konzipierte. Neben einem hier profan verorteten Naturrecht tauchte zudem die neue Semantik einer ebenso legitimierten'' Menschenwürde'' auf: als individuales, aus einer säkularisierten Gleichheitsvermutung abgeleitetes Recht und Auftrag an den politischen Gesetzgeber, so bei ''Pufendorf'' und weit verbreitet im europäischen politischen Diskurs des 18.&nbsp;Jahrhunderts. Das Naturrecht vollzog gerade in dieser Periode einen noch tiefer greifenden Wandel. Indem die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer des Naturrechts verblasste, trat es nicht nur zunehmend als Erzeugnis der menschlichen Vernunft hervor. Im Schatten dieser Umformulierung des Naturrechts zum Vernunftrecht drang das ''positive Recht'' als Bezugsgröße neben ihm weiter in den Vordergrund und etablierte sich immer deutlicher als erster Maßstab des Rechtsdenkens. Insbesondere seit der Frühaufklärung findet sich so eine starke Ausrichtung auf die Gesetze – bei ''Thomasius'' so weit, dass er das Naturrecht daneben gar dem Bereich der Ethik zuweisen möchte. Diese Tendenz konnte sich im Verlauf des 18.&nbsp;Jahrhunderts verfestigen und radikalisieren: Recht wurde nun vermehrt als Menschen-hervorgebracht verstanden, gleichsam vergegenständlicht und zugleich auf die Schlüsselidee des Gesetzes verengt. Als euphorische Überhöhung menschlicher Selbstbestimmung erreichte dies im revolutionären Frankreich seinen bekanntesten Ausdruck in der ''Déclaration des droits de l’homme'' von 1789. Für die Naturrechtler selbst stand freilich eine gottbefreite Vision des Rechts nie zur Debatte, denn alle menschliche Existenz war ihnen selbstverständlich eine gottgegründete, und ihre Philosophie war eine christliche. Die wachsende Marginalisierung der religiösen Grundlagen in ihrer Rechtstheorie und deren Emanzipation von der Theologie ließen allerdings auch Aufklärer wie ''Jean-Jacques Rousseau'' auf ihr Rechtsdenken zurückgreifen.


Die Naturalrestitution ''als eine Form des Schadensersatzes'' stellt rechtsvergleichend die Ausnahme dar: Für das englische Recht etwa, das gegenüber der zwangsweisen Durchsetzung von Leistungspflichten, die nicht in der Zahlung von Geld bestehen, ohnehin zurückhaltend ist, sind ''damages'' stets auf einen Ausgleich in Geld gerichtet; im französischen Recht steht es immerhin im Ermessen des ''juge du fond'', bei Delikten ''réparation en nature'' zuzulassen. Für vertragliche Ansprüche sehen die PECL nur Geldersatz vor (Art.&nbsp;9:501); dabei berechtigt Art.&nbsp;9:502 PECL den Gläubiger, den Betrag geltend zu machen, der erforderlich ist, um ihn in die Lage zu versetzen, in der er wäre, wenn der Vertrag ordnungsgemäß erfüllt worden wäre. Dem entspricht im Wesentlichen die Regelung in Art.&nbsp;74 CISG. Das Sekundärrecht kennt, soweit es Regelungen zur Haftung vorsieht, ebenfalls nur den Schadensersatz als Geldersatz (etwa die Produkthaftungsrichtlinie). Für deliktische Ansprüche sehen die ''[[Principles of European Tort Law]]'' in Art.&nbsp;10:101 Geldersatz als regelmäßigen Inhalt des Schadensersatzes vor, während Art.&nbsp;10:104 gestattet, Wiederherstellung „in Natur“ zu verlangen, wenn dies für den Schädiger nicht zu „belastend“ ist. Der Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] differenziert: Während Art.&nbsp;III.-3:702 DCFR im allgemeinen Teil Schadensersatz als Geldleistung definiert, sieht Art.&nbsp;VI.-6:101 DCFR für das Deliktsrecht vor, dass statt oder zusätzlich zum Geldersatz eine andere Art der „Reparation“ geschuldet sein kann, wenn dies „angemessen“ ist.
== 4. ''Mos geometricus'' ==
Die neue Rechtstheorie führte zu einschneidenden Veränderungen bis hinein in das Privatrecht. Die auffälligste Wirkung für die Struktur der heutigen europäischen Privatrechte lag in einer dabei vollzogenen methodischen Neuausrichtung der Rechtswissenschaft. Sie gelangte zu einer neuartigen Reflexion darüber, auf welche Weise sich ein Rechtssystem ''als System'' darzustellen habe und wie es anzulegen sei. Im 17.&nbsp;Jahrhundert erlebte dieses Leitbild im Angesicht der aufstrebenden exakten Wissenschaften eine neue Blüte. Experiment und Beobachtung von Naturgesetzen schienen einen Fundus an verborgenen Erkenntnissen auch für eine Gesellschaftslehre zu eröffnen, den es endlich zu analysieren galt. Die probate Methode der richtigen Schlussfolgerung lag dafür in einer mathematikgleichen, exakt zwingenden Deduktion aus gegebenen Prämissen. Während schon ''Grotius'' seine Ausführungen in einen Zusammenhang mit dem abstrahierenden Vorgehen der Mathematik stellte, übte bald darauf die berühmte Methodenschrift von ''René Descartes'' (1637) mit ihrer rationalistischen Zurückweisung der tradierten Metaphysik großen Eindruck auf die neue Rechtslehre aus. Ein erstes mit Anspruch auf Vollständigkeit auftretendes System des Naturrechts nahm ''Hobbes'' in Angriff, und vor allem ''Pufendorf'' entwarf, anders als ''Grotius'', einen durchgehenden Ableitungszusammenhang von naturrechtlichen Sätzen: Seine Ausführungen über die Schuldverträge etwa versuchte er, in Kohärenz zu bestimmten obersten Prinzipien zu entwerfen, aus denen die Einzelsätze je zu deduzieren seien. Für die privatrechtliche Argumentationskultur in einigen Teilen Europas waren später die Werke von ''Wolff'' und seiner Schule von besonderer Wirkung: Er ging weit über das ''Pufendorf''’sche Systematisierungsmaß hinaus und baute sein System konsequent auf syllogistische Schlüsse auf, die sämtlich minutiös aus den obersten Prinzipien seines Naturrechts deduzierbar sein sollten. Dieses Ideal geometrischer, gleichsam reiner Methode floss in die sog. Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts ein und reichte als Zielbild sowohl äußerlich-formeller als auch sachlich-terminologischer Kohärenz bis in die Gestaltung des deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] von 1900. Es steht einem anderen, der römischen Überlieferung stärker verbundenen Ideal gegenüber, das vom Naturrecht nicht unbeeindruckt, doch näher beim tradierten privatrechtlichen Institutionen-Denken verblieben war; ihm entspricht beispielsweise der französische ''[[Code civil]]'' von 1804.


== 3. Naturalrestitution und Herstellungskosten ==
== 5. Nationalisierung des Privatrechts  ==
Das Problem der Naturalrestitution als Schadensersatz ist zu unterscheiden von der praktisch und dogmatisch zentralen Frage, ''wie der Schadensersatz in Geld zu berechnen ist''. In der deutschen Dogmatik werden die beiden Problemkomplexe jedoch vermengt: Unter „Naturalrestitution“ wird nicht nur die tatsächliche Herstellung ''durch den Schuldner'' aufgefasst, sondern auch der Ersatz des dafür erforderlichen Geldbetrages. „Naturalrestitution“ ist dann nicht (mehr) ein Gegenbegriff zum Geldersatz, sondern zur speziellen Form der „Entschädigung“ im Sinne des §&nbsp;251 BGB, also dem Ausgleich des Wertverlustes. Historisch mag dies dadurch bedingt sein, dass ''Mommsens'' einflussreiche Untersuchung den Begriff des „Interesses“ bei der deliktischen Beschädigung von Sachen auf den bloßen Sachwert zu reduzieren schien.
Die sich hier zeigende Differenz verwundert schon angesichts der breiten Wirkung naturrechtlichen Denkens nicht. Wie im ''[[usus'' ''modernus'' und in der eleganten Jurisprudenz lässt sich an den Naturrechtsschriften und &#8209;lehren das zeittypische Phänomen wachsenden nationalstaatlichen Eigenbewusstseins ablesen. Es erscheinen im Privatrecht verstärkt nationale Lehrbücher, in denen sich der Sinn für die eigene Teilrechtsordnung manifestiert. Gleichlaufend treten in den europäischen Wissenschaften die Nationalsprachen hervor, und Latein als jahrhundertlange ''lingua'' ''franca'' der europäischen Rechtslehre büßt langsam an Bedeutung ein. Übersetzungen werden erforderlich und für die Verbreitung des Naturrechts besonders wichtig; berühmt wurde etwa die Arbeit von ''Jean'' ''Barbeyrac'', der ''Pufendorf'' ins Französische übertrug und umfangreich kommentierte. Die Vorstellung, die gemeineuropäische Basis des ''[[Ius commune (Gemeines Recht)|ius commune]]'' sei vom sich nationalisierenden Naturrechtsdenken zentrifugal auseinander getrieben worden, würde allerdings darüber hinwegtäuschen, dass es zugleich eine erhebliche Vereinheitlichung des Zivilrechts auf nationaler bzw. territorialer Ebene ermöglichte und die vielfältige lokale Rechtszersplitterung der europäischen Regionen zu überwinden half. Denn die politische Ordnungskraft des Naturrechts trug dazu bei, die Rechtssetzung beim National- bzw. Territorialstaat zu monopolisieren. Besonders plastisch kulminierte dies in den deutschsprachigen Kodifikationen jener Jahre, dem ''Codex'' ''Maximilianeus'' ''Bavaricus'' ''Civilis'' (1756), dem [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Preußischen ALR (1794)]] und dem österreichischen [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (1811/‌12), die wohl keine unvermittelten Umsetzungen der Lehren des Naturrechts, doch von deren Selbstverständnis, Strukturierungsideal und Begrifflichkeit stark beeinflusst waren.


Bereits aus der Zielrichtung des Schadensersatzes, die Rechtsverletzung zu kompensieren, ist abzuleiten, dass die Kosten der Herstellung des Zustandes, der ohne die Verletzung bestünde, vom Schuldner getragen werden müssen (''cost of cure'', ''reinstatement''). Dies ist rechtsvergleichend weitgehend anerkannt. Mit einer Wiedergutmachung durch Leistung ''in natura durch den Schuldner'' hat diese Frage des ''Umfangs'' ''des Geldersatzes'' jedoch wenig zu tun. Die Erstreckung des Begriffes „Naturalrestitution“ auf diesen Fall ist nicht nur geeignet, unnötige Abgrenzungsfragen aufzuwerfen (etwa diejenige, ob Herstellung auch dann geschuldet ist, wenn der Zustand nicht „genau“ demjenigen ohne schädigendes Ereignis entspricht, was stets der Fall ist, weil der hypothetische Komparativzustand nie ''wirklich'' eingetreten ist), sondern auch missverständlich, weil der Geschädigte den erlangten Betrag bei Sachschäden gerade nicht zur Herstellung aufwenden muss (sog. „fiktive Abrechnung“).
Die Erfolgsgeschichte des Naturrechts ist freilich insgesamt ein in erster Linie protestantisches Geschehen des nördlichen Europa, voran in Holland, Deutschland und Skandinavien, doch auch in den Alpenländern, Frankreich und England. In Italien gerieten die dem Klerus verdächtigen Werke teilweise unter Subversions-Verdacht und konnten weniger rasch durchdringen. Auch auf der iberischen Halbinsel verzögerte sich die Aufnahme der Lehren, die gegenüber der moraltheologisch abgesicherten Spätscholastik den Nachteil profanen Zuschnitts zu haben schienen. In England wiederum zog der politische Diskurs von Naturrecht und Aufklärung weite Kreise, jedoch blieb der rechtswissenschaftliche Niederschlag eines ''mos geometricus'' angesichts der eigenen Rechtstradition vergleichsweise gering. Nicht nur in ''William Blackstones'' Schriften, auch in vielen zeitgenössischen Entscheidungen lässt sich allerdings auch hier Einfluss feststellen; eine umfassendere Aufnahme der naturrechtlichen Systematisierung in das ''[[common law]]'' ereignete sich später im 19.&nbsp;Jahrhundert. Eine besonders selektive Rezeption erfuhr das Naturrecht in der amerikanischen Unabhängigskeitsbewegung, etwa in den Schriften ''Thomas Jeffersons''. Sie greifen sowohl auf die politisch liberalen, aufklärungsnahen Doktrinen des Naturrechts als auch die Schriften ''Pufendorfs'' zurück, lassen zugleich an der theonomen Verankerung ihres Naturrechts und der Verpflichtung auf die Bibel keinen Zweifel.


Im Falle der Beeinträchtigung des ''Integritätsinteresses'', etwa der Beschädigung einer Sache, stellen die Kosten der Reparatur einen Vermögensnachteil dar, der kausal auf der Beschädigung beruht, und damit als Vermögensschaden (und nicht bloßes Affektionsinteresse; die Abgrenzung ist umstritten) ersetzt werden muss. Im Grundsatz gilt nichts anderes, wenn der Ausgleich des ''positiven Interesses'' geschuldet ist, und die Kosten der Erbringung der Leistung durch einen Dritten anstelle des Schuldners (Deckungsgeschäft) in Rede stehen. Bei der Berechnung kann dabei abstrakt auf den Marktpreis oder konkret auf die Möglichkeiten des Gläubigers abgestellt werden (vgl. die Begründung zu Art.&nbsp;9:506 und Art.&nbsp;9:507 PECL).
== 6. Neue Formen für das europäische Privatrecht ==
Auch in den Zentralgebieten des Privatrechts gewannen die Innovationen des Naturrechts einen Einfluss, weit über Nordeuropa hinaus und in je unterschiedlicher Gestalt. Die bekanntesten Beispiele zeigen, dass diese Kondensationsvorgänge Begriffe prägten, ohne welche die momentane Privatrechtsdogmatik kaum vorstellbar erschiene. So erfuhr innerhalb der vertragstheoretisch aufgestellten Naturrechtsbegründungen auch die allgemeine privatrechtliche Vertragsdoktrin eine steile Entwicklung. Als eine auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Basis des Rechtsverkehrs rückte der [[Vertrag]] ins Zentrum. Bei ''Pufendorf'' etwa findet sich eine eingehende Konzipierung des Vertragsgeschehens, die nicht allein in der Folge der kanonistischen ''pactum''-Lehre die alten römischen Vertragstypen überwand, sondern bereits die Idee vom Synallagma, eine Kategorisierung von Haupt- und Nebenpflichten, den Gedanke der Geschäftsgrundlage und andere Merkmale einer Vertragstypik ausarbeitete. Ein ähnlicher Ausbau allgemeiner Kategorien findet sich auch bei anderen Rechtsbegriffen. Der verallgemeinerte Transaktionen-Begriff der ''negotia'' konnte sich weiter als konzeptionelle Basis des Zivilrechts etablieren und zur Grundeinheit von [[Rechtsgeschäft]]/‌''acte juridique'' werden. Über die gemeinrechtlichen Auslegungslehren hinaus wurde der kundgetane Parteiwille mit der ''Willenserklärung'' nun erstmalig als eine eigene rechtsdogmatische Figur verstanden und behandelt ([[Auslegung von Verträgen]]; [[Irrtum]]), wie überhaupt der Vorgang des Vertragsschlusses selbst jetzt rechtsdogmatisch erschlossen wurde. Eher eine Vertiefung denn Entdeckung bedeutete der Ausbau des ''Obligationen''gedanken für eine Systematisierung der zivilrechtlichen Dogmatik, weiter führte hingegen die Reflexion über Begründung und Reichweite außervertraglicher Schadenersatzpflicht bei den naturrechtlichen Denkern. Ihre pflichtenbezogenen Doktrinen erhoben im [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] die ''unerlaubte Handlung'' zur deliktsrechtlichen Grundkategorie, es entstanden eine haftungsrechtliche Generalklausel und ein klareres System. Ein spezieller Niederschlag zunächst im deutschen Privatrecht, wenn auch von wissenschaftlicher Ausstrahlungskraft darüber hinaus, war die Entwicklung eines [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]]s, der um einer kohärenten Regelbildung willen den spezielleren Ordnungsgebieten des Privatrechts vorgeschaltet wurde und für alle gültige Normen enthalten sollte (vor allem durch die Schule ''Wolffs'', später auch außerhalb des Naturrechts weitergeführt). Europaweit hingegen schlugen sich die Lehren zur [[Eigentumsübertragung (beweglicher Sachen)|Eigentumsübertragung von beweglichen Sachen]] nieder, die zwischen Konsensual- und Traditionsprinzip schwanken und sich heute in den europäischen Nationalrechtsordnungen mit unterschiedlichen Tatbeständen wiederfinden.


Schwierigkeiten treten vor allem hinsichtlich der ''Begrenzung'' dieser Ersatzleistung auf, die rechtsvergleichend jedenfalls im Grundsatz ebenfalls befürwortet wird. Dabei kann bei bestimmten Alltagsgütern, wie dem Pkw, bereits die Frage gestellt werden, ob die Wiederbeschaffung einer gleichartigen Sache nicht ebenso gut geeignet ist, den Zustand ohne die Beschädigung „herzustellen“ wie die Reparatur (der BGH 15.10.1991, BGHZ 115,&nbsp;364, sieht dies anders, begrenzt aber den Reparaturkostenersatz auf 130&nbsp;% des Wiederbeschaffungswertes). Problematisch ist der Ersatz der Herstellungskosten, wenn diese außer Verhältnis zum Vermögenswert stehen, der durch die Maßnahmen erzielt wird. Anschauliche Beispiele bietet das englische Recht: In ''Tito v.'' ''Waddell'' ''(No.&nbsp;2)''<nowiki> [1977] Ch&nbsp;106 (Ch) wurde den Bewohnern der Banaba-Insel der Ersatz der exorbitanten Kosten der Rekultivierung einiger von Phosphat-Abbau verwüsteten Flächen versagt, weil die Wertsteigerung durch die an sich geschuldete Rekultivierung außer Verhältnis zu ihren Kosten stand und weil die Gläubiger nicht vorhatten, das Geld dafür tatsächlich einzusetzen. Als unangemessen (</nowiki>''unreasonable'') sah das ''House of Lords'' in ''Ruxley Electronics and Contruction Ltd v. Forsyth''<nowiki> [1996] AC 344 die Kosten der Vertiefung eines Schwimmbeckens an, das nicht so tief ausgehoben wurde wie vereinbart, ohne dass dies jedoch die Benutzbarkeit oder den Wert des Grundstücks eingeschränkt hätte. Demgegenüber wurde in </nowiki>''Radford v. De Froberville''<nowiki> [1977] 1 WLR 1262 (Ch) der Ersatz der Herstellungskosten bezüglich einer Trennmauer auf einer Grundstücksgrenze angesichts des davon zu ziehenden Nutzens als angemessen angesehen, obwohl die Errichtung der Mauer den Wert des Grundstücks nicht wesentlich erhöhte. §&nbsp;251 Abs.&nbsp;2 BGB gestattet ähnliche Abwägungsentscheidungen; zum Teil wird die Grenze bei Gesundheitsschäden Treu und Glauben entnommen (in BGH 27.11.1974, BGHZ 63,&nbsp;259 etwa wurden die Operationskosten einer geringfügigen Narbe als nicht ersatzfähig angesehen). Art.&nbsp;10:203 PETL gewährt die Herstellungskosten bei Sachschäden von vornherein nur unter dem doppelten Vorbehalt, dass die Herstellung durchgeführt wurde und vernünftig war.</nowiki>
In manchen Fällen, etwa dem letzten, bleibt indes fraglich, inwieweit ein spezifischer Einfluss gerade des Naturrechts vorgelegen hat. Denn sie stehen zugleich im allgemeinen Fluss der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung des europäischen Privatrechts, der sich über Jahrhunderte erstreckte und von mehreren geistes-, aber auch wirtschaftshistorischen Ursachen angetrieben wurde. Die Ausarbeitung der systematischen Vertragslehren lässt sich etwa bis in die Lehren der spanischen Spätscholastik (''James Gordley''), andere Syntheseansätze lassen sich noch weiter zurück verfolgen. Das Naturrecht hat diese aufgenommen – wie sogar die Entstehung der naturrechtlichen Philosophie selbst als ein Niederschlag des vorangegangenen juristischen Diskurses an der Schwelle zur Neuzeit interpretiert werden kann (''Merio Scattola''). Angesichts der fließenden Grenze zu den Arbeiten des ''[[Usus modernus|usus modernus]]'' und der vielfältigen Wechselwirkungen hierbei ist gerade für die privatrechtliche Dogmengeschichte eine Zuordnung nicht immer klar zu treffen. Erstaunen muss das nicht. War der ''usus modernus'' selbst eher an Praxis und sachgerechter Lösung von Rechtsfragen orientiert, entwarf das Naturrecht deren konzeptionell-philosophischen Überbau; beide zogen sie das Feld für die privatrechtliche Moderne.


==Literatur==
==Literatur==
''Friedrich Mommsen'', Zur Lehre vom Interesse, 1855; ''Hans Stoll'', Consequences of Liability, IECL XI/‌2, Kap. 8-64&nbsp;ff., 1971; ''Udo Wolter'', Das Prinzip der Naturalrestitution in §&nbsp;249 BGB: Herkunft, historische Entwicklung und Bedeutung, 1985; ''Ulrich Magnus'' (Hg.), Unification of Tort Law: Damages, 2001; ''Sir'' ''Basil Markesinis'','' Hannes Unberath'', The German Law of Torts, 4.&nbsp;Aufl. 2002, 901&nbsp;ff.; ''Hermann Lange'','' Gottfried Schiemann'', Schadensersatz, 3.&nbsp;Aufl. 2003, 215&nbsp;ff.; ''Andrew Burrows'', Remedies for Torts and Breach of Contract, 3.&nbsp;Aufl. 2004, Kap.&nbsp;2; ''François Terré'','' Philippe Simler'','' Yves Lequette'', Les obligations, 9.&nbsp;Aufl. 2005, 877&nbsp;ff.; ''Nils Jansen'', §§&nbsp;249&nbsp;ff., 255, Rn.&nbsp;33&nbsp;ff., 85&nbsp;ff, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd.&nbsp;II/‌2, 2007; ''Dieter Medicus'','' Stephan Lorenz'', Schuldrecht&nbsp;I Allgemeiner Teil, 18.&nbsp;Aufl. 2008, Rn.&nbsp;108, 625&nbsp;ff.  
''Franz Wieacker'', Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2.&nbsp;Aufl. 1967, insb. 287&nbsp;ff.; ''James Gordley'','' ''The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, 1991; ''Peter Stein'', The Quest for a Systematic Civil Law, in: Proceedings of the British Academy 90 (1995) 147&nbsp;ff.; ''Otto Dann'','' Diethelm Klippel'' (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, 1995; ''Klaus Luig'','' ''Römisches Recht, Naturrecht, nationales Recht, 1998; ''idem'', Vernunftrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd.&nbsp;V, 1998, Sp.&nbsp;781&nbsp;ff.; ''Merio Scattola'', Das Naturrecht vor dem Naturrecht: Zur Geschichte des ‘ius naturae’ im 16.&nbsp;Jahrhundert, 1999; ''David J. Ibbetson'', Natural Law and Common Law, Edinburgh Law Review 5 (2001) 4&nbsp;ff.; ''Jan Schröder'', Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1800), 2001; ''Diethelm Klippel'' (Hg.), Naturrecht und Staat: Politische Funktionen des europäischen Naturrechts, 2006.
 
==Quellen==
''Hugo Grotius''<nowiki>, De jure belli ac pacis libri tres/‌Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens 1625, [dt. Übersetzung von Walter Schätzel], 1950; </nowiki>''Thomas Hobbes''<nowiki>, Vom Menschen/‌Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/‌III [1642, dt. Ausgabe hg. von Günter Gawlick], 1959, 57&nbsp;ff.; </nowiki>''Samuel von Pufendorf''<nowiki>, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur [1673, neu hg. und übersetzt von Klaus Luig], 1994;</nowiki>'' idem''<nowiki>, De jure naturae et gentium libri octo (hg. von G. Mascovius), Tomus Primus [ND der Ausgabe 1759], 1967; </nowiki>''Christian Thomasius''<nowiki>, Ausgewählte Werke, Bd.&nbsp;18: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts [ND der dt. Erstausgabe von 1709, hg. von Frank Grunert], 2003; </nowiki>''Christian Wolff'','' ''<nowiki>Gesammelte Werke Bd.&nbsp;I/‌19: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden [ND der dt. Übersetzung von 1754, hg. von Marcel Thomann], 1980.</nowiki>


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Reparation_in_Kind]]
[[en:Natural_Law]]

Version vom 28. September 2021, 18:16 Uhr

von Johannes Liebrecht

1. Vielfalt der Naturrechts-Begriffe

Mit dem Begriff Naturrecht werden verschiedene historische Phänomene benannt. Sie weisen den Kern eines gemeinsamen Sinnbezugs auf, denn sie treffen sich in ihrer Suche nach allgemeingültigen, unveränderlichen Grundsätzen für ein gerechtes und menschengemäßes Recht. Über Jahrhunderte konnte dadurch das Naturrechtsdenken zum Maßstab und Keim von Rechtskritik werden. Im Einzelnen aber variiert seine Erscheinungsweise erheblich, je nachdem welchen Inhalts die Bezugsgröße Natur gewesen ist: Es macht einen Unterschied, ob ein teleologisch aufgeladener, doch an der je konkret aktualisierten Bestimmung eines Menschen ausgerichteter Naturbegriff (bei Aristoteles) zugrunde liegt oder aber der Naturbegriff auf die menschliche Natur insgesamt ausgreift (wie innerhalb der logos-durchwalteten Weltenordnung der Stoa). Die Natur der Philosophien des christlichen Mittelalters bietet als rein diesseitige Sphäre keinen Ort für Götter, und ihr Naturrecht mag einen Plan Gottes offenbaren, ist jedoch anders als das antike stets einem ius divinum untergeordnet. Der christlich-scholastischen Philosophie entgegengestellt, begründet sich wiederum das neuzeitliche Naturrecht als ein vernunftrechtliches, später zunehmend durch die Aufklärung gezeichnetes Denken: Natur, menschliche Natur und ihre Sozialität sind hier ein durch fortschreitende wissenschaftliche Untersuchung zu erschließender Bereich. Der Terminus Naturrecht führt hingegen nicht nur zu den Stufen einer ideengeschichtlichen Periodisierung. Unter seinem Etikett werden noch heute, insbesondere im angelsächsischen Raum, fundamentale Aspekte der Rechtstheorie verhandelt und philosophische, manchmal stark aussagenlogisch gefärbte Dimensionen rechtlicher Normativität erschlossen. Die hierhinter stehenden Fragen um Geltung und Positivität des Rechts, um seinen Bezug auf Moral oder Sitte sind in kodifikationsgeprägten Ländern an sich nicht minder problematisch, werden dort jedoch häufig hinter dem Horizont eines durch Kodifikation ebengültigen Rechts vermutet und in das kleine Randfach der Rechtsphilosophie abgedrängt. In der jüngsten Geschichte wurden sie jedoch auch auf dem Kontinent verschiedentlich aktuell: So erlebte die Debatte um das Naturrecht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine europaweite Blüte, oder nach 1989 tauchte sie in Deutschland im Rahmen der sog. „Mauerschützenprozesse“ erneut auf.

2. Naturrecht als Epoche

Für das europäische Privatrecht ist die gerade als neuzeitliches Naturrecht erwähnte historische Phase besonders wichtig gewesen. Sie bezeichnet eine gesamteuropäische geistige Strömung im 17. und 18. Jahrhundert, die, losgelöst von den Axiomen der christlichen Moraltheologie, eine richtige Struktur menschlicher Ordnung zu bestimmen suchte und einen neuen Rahmen für das Recht schuf; zahllose Arbeiten auch zum Zivilrecht wurden in ihrem Namen verfasst und eigene Lehrstühle eingerichtet.

Zum sog. frühen Naturrecht wird zum Teil bereits Johannes Althusius gezählt, sein erster maßgeblicher Vertreter war der Holländer Hugo Grotius, der als ethischen Ausgangspunkt seines Naturrechts die menschliche Bereitschaft zur vernünftigen und friedlichen Koexistenz voraussetzte (socialitas) und hieraus nähere, zumeist vertragsrechtlich konstruierte Prinzipien erarbeite. Im klassischen Naturrecht wurden bei Denkern wie Thomas Hobbes, Samuel von Pufendorf oder Christian Thomasius dann die großen Naturrechtssysteme entwickelt. Das für die europäische Privatrechtsgeschichte bedeutendste verfasste der in Schweden und Preußen lehrende Pufendorf. Gegenüber Grotius ging er von der menschlichen Schwäche und Bedürftigkeit als Grundlage aus (imbecillitas): hieraus entsteht eine Ordnung gegenseitiger Hilfeleistungen, wird also erst eine socialitas konstituiert. Demgemäß ist sein Naturrechtsbegriff auch primär am Begriff der Pflicht (officium) ausgerichtet und angebunden an die gottverliehene Bestimmung des Menschen zu dienen, aus welcher sich erst ein Recht ergebe. Schon hier und weiterhin im späteren Naturrecht bildete sich aus diesen Grundlagen eine vernunftbestimmte Gesellschaftsprogrammatik, die auf große, in einem neuen Sinne als umfassend und systematisch verstandene Gesetzgebungswerke der Gegenwart, die neuen Kodifikationen umgelegt und auf sie hin ausgebildet wurde. Die Naturrechtler Christian Wolff und Daniel Nettelbladt wirkten durch ihre Schule etwa auf die Abfassung des Preußischen ALR von 1794, doch die Breitenwirkung war ungleich größer.

Die Vielfalt des naturrechtlichen Denkens fast zweier Jahrhunderte geht über diese Figuren weit hinaus, sie lässt sich europaweit und in vielen unterschiedlichen Ausprägungen ausmachen, sei es in Absolutismus-nahen Konzepten oder ebenso in liberalen Ideologien wie denen von John Locke, der mit seiner calvinistisch geprägten, auf diesseitige Freiheit und Eigentum gerichteten Gesellschaftslehre überragenden Einfluss auf die angelsächsichen politischen Ideale gewann. Als übergreifende Sozialphilosophie der Moderne glich das Naturrecht einem universalen Gelehrtendiskurs (Franz Wieacker; Klaus Luig). Sein tatsächlicher Ort war indes der einer genuin juristischen Grundlagendisziplin. Pufendorf verstand seine Lehrtätigkeit als rechtswissenschaftliche und sah sein Denken als ein zeitgemäßes neues Bild vom Recht: Das Recht im Ganzen sollte neu entworfen und begründet werden, ohne Abhängigkeit von der gelehrten Jurisprudenz des frühen ius commune und ebenso unabhängig von der Moraltheologie. Möglicherweise ist die große Anziehungskraft dieses Ziels auch durch den Autoritätsverlust des Textbestands des Corpus Juris Civilis zu erklären, das auf seine kritische Aneignung und Erweiterungen im Humanismus sowie die neuen europäischen Rechtskonzepte um Individualität und Subjektivität keine ausreichenden Muster mehr bieten konnte und eine neuartige Rechtsreflexion erforderlich werden ließ.

3. Säkularisierung des Rechtsdenkens

Die große Wirkung des Naturrechts wird jedoch erst vor seinem Entstehungs-Hintergrund verständlich. Als Glaubensspaltung und Konfessionskriege im neuzeitlichen Europa eine bisher ungeahnte Orientierungsnot aufrissen und sich souveräne Staaten mit einander feindlich gestimmten Bekenntnissen gegenüberstanden, wurde eine neue Fundierung des Rechts notwendig, die tauglich sein musste, auf Elemente theologischer Letztbegründung zu verzichten. Schon von Grotius wurde die Frage nach den Bedingungen friedlicher Koexistenz neu gestellt und nach Rechtsregeln innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Völkern gesucht. Während er dabei mit seiner Frage, welches Recht gelte, wenn es einen Gott nicht gäbe, noch eher der scholastischen quaestiones-Kultur verpflichtet war, drang Hobbes zu einer grundsätzlich säkularen Rechtsbegründung durch, die die Rolle des Staates als normsetzende Gewalt erstmals neu konzipierte. Neben einem hier profan verorteten Naturrecht tauchte zudem die neue Semantik einer ebenso legitimierten Menschenwürde auf: als individuales, aus einer säkularisierten Gleichheitsvermutung abgeleitetes Recht und Auftrag an den politischen Gesetzgeber, so bei Pufendorf und weit verbreitet im europäischen politischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Das Naturrecht vollzog gerade in dieser Periode einen noch tiefer greifenden Wandel. Indem die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer des Naturrechts verblasste, trat es nicht nur zunehmend als Erzeugnis der menschlichen Vernunft hervor. Im Schatten dieser Umformulierung des Naturrechts zum Vernunftrecht drang das positive Recht als Bezugsgröße neben ihm weiter in den Vordergrund und etablierte sich immer deutlicher als erster Maßstab des Rechtsdenkens. Insbesondere seit der Frühaufklärung findet sich so eine starke Ausrichtung auf die Gesetze – bei Thomasius so weit, dass er das Naturrecht daneben gar dem Bereich der Ethik zuweisen möchte. Diese Tendenz konnte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts verfestigen und radikalisieren: Recht wurde nun vermehrt als Menschen-hervorgebracht verstanden, gleichsam vergegenständlicht und zugleich auf die Schlüsselidee des Gesetzes verengt. Als euphorische Überhöhung menschlicher Selbstbestimmung erreichte dies im revolutionären Frankreich seinen bekanntesten Ausdruck in der Déclaration des droits de l’homme von 1789. Für die Naturrechtler selbst stand freilich eine gottbefreite Vision des Rechts nie zur Debatte, denn alle menschliche Existenz war ihnen selbstverständlich eine gottgegründete, und ihre Philosophie war eine christliche. Die wachsende Marginalisierung der religiösen Grundlagen in ihrer Rechtstheorie und deren Emanzipation von der Theologie ließen allerdings auch Aufklärer wie Jean-Jacques Rousseau auf ihr Rechtsdenken zurückgreifen.

4. Mos geometricus

Die neue Rechtstheorie führte zu einschneidenden Veränderungen bis hinein in das Privatrecht. Die auffälligste Wirkung für die Struktur der heutigen europäischen Privatrechte lag in einer dabei vollzogenen methodischen Neuausrichtung der Rechtswissenschaft. Sie gelangte zu einer neuartigen Reflexion darüber, auf welche Weise sich ein Rechtssystem als System darzustellen habe und wie es anzulegen sei. Im 17. Jahrhundert erlebte dieses Leitbild im Angesicht der aufstrebenden exakten Wissenschaften eine neue Blüte. Experiment und Beobachtung von Naturgesetzen schienen einen Fundus an verborgenen Erkenntnissen auch für eine Gesellschaftslehre zu eröffnen, den es endlich zu analysieren galt. Die probate Methode der richtigen Schlussfolgerung lag dafür in einer mathematikgleichen, exakt zwingenden Deduktion aus gegebenen Prämissen. Während schon Grotius seine Ausführungen in einen Zusammenhang mit dem abstrahierenden Vorgehen der Mathematik stellte, übte bald darauf die berühmte Methodenschrift von René Descartes (1637) mit ihrer rationalistischen Zurückweisung der tradierten Metaphysik großen Eindruck auf die neue Rechtslehre aus. Ein erstes mit Anspruch auf Vollständigkeit auftretendes System des Naturrechts nahm Hobbes in Angriff, und vor allem Pufendorf entwarf, anders als Grotius, einen durchgehenden Ableitungszusammenhang von naturrechtlichen Sätzen: Seine Ausführungen über die Schuldverträge etwa versuchte er, in Kohärenz zu bestimmten obersten Prinzipien zu entwerfen, aus denen die Einzelsätze je zu deduzieren seien. Für die privatrechtliche Argumentationskultur in einigen Teilen Europas waren später die Werke von Wolff und seiner Schule von besonderer Wirkung: Er ging weit über das Pufendorf’sche Systematisierungsmaß hinaus und baute sein System konsequent auf syllogistische Schlüsse auf, die sämtlich minutiös aus den obersten Prinzipien seines Naturrechts deduzierbar sein sollten. Dieses Ideal geometrischer, gleichsam reiner Methode floss in die sog. Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts ein und reichte als Zielbild sowohl äußerlich-formeller als auch sachlich-terminologischer Kohärenz bis in die Gestaltung des deutschen BGB von 1900. Es steht einem anderen, der römischen Überlieferung stärker verbundenen Ideal gegenüber, das vom Naturrecht nicht unbeeindruckt, doch näher beim tradierten privatrechtlichen Institutionen-Denken verblieben war; ihm entspricht beispielsweise der französische Code civil von 1804.

5. Nationalisierung des Privatrechts

Die sich hier zeigende Differenz verwundert schon angesichts der breiten Wirkung naturrechtlichen Denkens nicht. Wie im [[usus modernus und in der eleganten Jurisprudenz lässt sich an den Naturrechtsschriften und ‑lehren das zeittypische Phänomen wachsenden nationalstaatlichen Eigenbewusstseins ablesen. Es erscheinen im Privatrecht verstärkt nationale Lehrbücher, in denen sich der Sinn für die eigene Teilrechtsordnung manifestiert. Gleichlaufend treten in den europäischen Wissenschaften die Nationalsprachen hervor, und Latein als jahrhundertlange lingua franca der europäischen Rechtslehre büßt langsam an Bedeutung ein. Übersetzungen werden erforderlich und für die Verbreitung des Naturrechts besonders wichtig; berühmt wurde etwa die Arbeit von Jean Barbeyrac, der Pufendorf ins Französische übertrug und umfangreich kommentierte. Die Vorstellung, die gemeineuropäische Basis des ius commune sei vom sich nationalisierenden Naturrechtsdenken zentrifugal auseinander getrieben worden, würde allerdings darüber hinwegtäuschen, dass es zugleich eine erhebliche Vereinheitlichung des Zivilrechts auf nationaler bzw. territorialer Ebene ermöglichte und die vielfältige lokale Rechtszersplitterung der europäischen Regionen zu überwinden half. Denn die politische Ordnungskraft des Naturrechts trug dazu bei, die Rechtssetzung beim National- bzw. Territorialstaat zu monopolisieren. Besonders plastisch kulminierte dies in den deutschsprachigen Kodifikationen jener Jahre, dem Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756), dem Preußischen ALR (1794) und dem österreichischen ABGB (1811/‌12), die wohl keine unvermittelten Umsetzungen der Lehren des Naturrechts, doch von deren Selbstverständnis, Strukturierungsideal und Begrifflichkeit stark beeinflusst waren.

Die Erfolgsgeschichte des Naturrechts ist freilich insgesamt ein in erster Linie protestantisches Geschehen des nördlichen Europa, voran in Holland, Deutschland und Skandinavien, doch auch in den Alpenländern, Frankreich und England. In Italien gerieten die dem Klerus verdächtigen Werke teilweise unter Subversions-Verdacht und konnten weniger rasch durchdringen. Auch auf der iberischen Halbinsel verzögerte sich die Aufnahme der Lehren, die gegenüber der moraltheologisch abgesicherten Spätscholastik den Nachteil profanen Zuschnitts zu haben schienen. In England wiederum zog der politische Diskurs von Naturrecht und Aufklärung weite Kreise, jedoch blieb der rechtswissenschaftliche Niederschlag eines mos geometricus angesichts der eigenen Rechtstradition vergleichsweise gering. Nicht nur in William Blackstones Schriften, auch in vielen zeitgenössischen Entscheidungen lässt sich allerdings auch hier Einfluss feststellen; eine umfassendere Aufnahme der naturrechtlichen Systematisierung in das common law ereignete sich später im 19. Jahrhundert. Eine besonders selektive Rezeption erfuhr das Naturrecht in der amerikanischen Unabhängigskeitsbewegung, etwa in den Schriften Thomas Jeffersons. Sie greifen sowohl auf die politisch liberalen, aufklärungsnahen Doktrinen des Naturrechts als auch die Schriften Pufendorfs zurück, lassen zugleich an der theonomen Verankerung ihres Naturrechts und der Verpflichtung auf die Bibel keinen Zweifel.

6. Neue Formen für das europäische Privatrecht

Auch in den Zentralgebieten des Privatrechts gewannen die Innovationen des Naturrechts einen Einfluss, weit über Nordeuropa hinaus und in je unterschiedlicher Gestalt. Die bekanntesten Beispiele zeigen, dass diese Kondensationsvorgänge Begriffe prägten, ohne welche die momentane Privatrechtsdogmatik kaum vorstellbar erschiene. So erfuhr innerhalb der vertragstheoretisch aufgestellten Naturrechtsbegründungen auch die allgemeine privatrechtliche Vertragsdoktrin eine steile Entwicklung. Als eine auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Basis des Rechtsverkehrs rückte der Vertrag ins Zentrum. Bei Pufendorf etwa findet sich eine eingehende Konzipierung des Vertragsgeschehens, die nicht allein in der Folge der kanonistischen pactum-Lehre die alten römischen Vertragstypen überwand, sondern bereits die Idee vom Synallagma, eine Kategorisierung von Haupt- und Nebenpflichten, den Gedanke der Geschäftsgrundlage und andere Merkmale einer Vertragstypik ausarbeitete. Ein ähnlicher Ausbau allgemeiner Kategorien findet sich auch bei anderen Rechtsbegriffen. Der verallgemeinerte Transaktionen-Begriff der negotia konnte sich weiter als konzeptionelle Basis des Zivilrechts etablieren und zur Grundeinheit von Rechtsgeschäft/‌acte juridique werden. Über die gemeinrechtlichen Auslegungslehren hinaus wurde der kundgetane Parteiwille mit der Willenserklärung nun erstmalig als eine eigene rechtsdogmatische Figur verstanden und behandelt (Auslegung von Verträgen; Irrtum), wie überhaupt der Vorgang des Vertragsschlusses selbst jetzt rechtsdogmatisch erschlossen wurde. Eher eine Vertiefung denn Entdeckung bedeutete der Ausbau des Obligationengedanken für eine Systematisierung der zivilrechtlichen Dogmatik, weiter führte hingegen die Reflexion über Begründung und Reichweite außervertraglicher Schadenersatzpflicht bei den naturrechtlichen Denkern. Ihre pflichtenbezogenen Doktrinen erhoben im Deliktsrecht die unerlaubte Handlung zur deliktsrechtlichen Grundkategorie, es entstanden eine haftungsrechtliche Generalklausel und ein klareres System. Ein spezieller Niederschlag zunächst im deutschen Privatrecht, wenn auch von wissenschaftlicher Ausstrahlungskraft darüber hinaus, war die Entwicklung eines Allgemeinen Teils, der um einer kohärenten Regelbildung willen den spezielleren Ordnungsgebieten des Privatrechts vorgeschaltet wurde und für alle gültige Normen enthalten sollte (vor allem durch die Schule Wolffs, später auch außerhalb des Naturrechts weitergeführt). Europaweit hingegen schlugen sich die Lehren zur Eigentumsübertragung von beweglichen Sachen nieder, die zwischen Konsensual- und Traditionsprinzip schwanken und sich heute in den europäischen Nationalrechtsordnungen mit unterschiedlichen Tatbeständen wiederfinden.

In manchen Fällen, etwa dem letzten, bleibt indes fraglich, inwieweit ein spezifischer Einfluss gerade des Naturrechts vorgelegen hat. Denn sie stehen zugleich im allgemeinen Fluss der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung des europäischen Privatrechts, der sich über Jahrhunderte erstreckte und von mehreren geistes-, aber auch wirtschaftshistorischen Ursachen angetrieben wurde. Die Ausarbeitung der systematischen Vertragslehren lässt sich etwa bis in die Lehren der spanischen Spätscholastik (James Gordley), andere Syntheseansätze lassen sich noch weiter zurück verfolgen. Das Naturrecht hat diese aufgenommen – wie sogar die Entstehung der naturrechtlichen Philosophie selbst als ein Niederschlag des vorangegangenen juristischen Diskurses an der Schwelle zur Neuzeit interpretiert werden kann (Merio Scattola). Angesichts der fließenden Grenze zu den Arbeiten des usus modernus und der vielfältigen Wechselwirkungen hierbei ist gerade für die privatrechtliche Dogmengeschichte eine Zuordnung nicht immer klar zu treffen. Erstaunen muss das nicht. War der usus modernus selbst eher an Praxis und sachgerechter Lösung von Rechtsfragen orientiert, entwarf das Naturrecht deren konzeptionell-philosophischen Überbau; beide zogen sie das Feld für die privatrechtliche Moderne.

Literatur

Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. 1967, insb. 287 ff.; James Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, 1991; Peter Stein, The Quest for a Systematic Civil Law, in: Proceedings of the British Academy 90 (1995) 147 ff.; Otto Dann, Diethelm Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, 1995; Klaus Luig, Römisches Recht, Naturrecht, nationales Recht, 1998; idem, Vernunftrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, 1998, Sp. 781 ff.; Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht: Zur Geschichte des ‘ius naturae’ im 16. Jahrhundert, 1999; David J. Ibbetson, Natural Law and Common Law, Edinburgh Law Review 5 (2001) 4 ff.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1800), 2001; Diethelm Klippel (Hg.), Naturrecht und Staat: Politische Funktionen des europäischen Naturrechts, 2006.

Quellen

Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres/‌Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens 1625, [dt. Übersetzung von Walter Schätzel], 1950; Thomas Hobbes, Vom Menschen/‌Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/‌III [1642, dt. Ausgabe hg. von Günter Gawlick], 1959, 57 ff.; Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur [1673, neu hg. und übersetzt von Klaus Luig], 1994; idem, De jure naturae et gentium libri octo (hg. von G. Mascovius), Tomus Primus [ND der Ausgabe 1759], 1967; Christian Thomasius, Ausgewählte Werke, Bd. 18: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts [ND der dt. Erstausgabe von 1709, hg. von Frank Grunert], 2003; Christian Wolff, Gesammelte Werke Bd. I/‌19: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden [ND der dt. Übersetzung von 1754, hg. von Marcel Thomann], 1980.