Europäisches Patent – Gemeinschaftspatent und Europäisches Privatrecht: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Joseph Straus]]''
von ''[[Nils Jansen]]''
== 1. Gemeinsame historische Wurzeln ==
== 1. Die Europäisierung des Privatrechts ==
Die territoriale Wirkung des [[Patentrecht]]s und die politische Zersplitterung Europas ließen schon von Beginn des 20. Jahrhunderts an Wünsche und Ideen aufkommen, die Erlangung von Patenten durch Internationalisierung des Erteilungsverfahrens in Europa zu vereinfachen. Auf Initiative der französischen Regierung wurde am 15. 11.1920 ein internationales Abkommen „pour la création d’un Bureau Central des Brevets d’Invention“ von acht Staaten unterzeichnet, denen später noch weitere drei folgten. Allerdings trat dieses Abkommen, dem insbesondere Deutschland und das Vereinigte Königreich fern blieben, nie in Kraft.
Obgleich die einzelnen Privatrechtsordnungen Europas in weiten Bereichen über gleiche juristische Kategorien und Grundbegriffe verfügen, die im Gemeinen Recht ([[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']]) auf der Grundlage der römischen Quellen formuliert worden sind, wurde das Privatrecht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend als eine nationale Angelegenheit verstanden. Das gilt nicht nur für Länder wie Frankreich, in denen mit einer [[Kodifikation]] eine neue Grundlage für das Privatrecht geschaffen worden war. Auch in Deutschland wurde das Privatrecht auf einen nationalen „Volksgeist“ bezogen, obwohl hier zugleich der ursprünglich gemeinrechtliche Diskurs noch bis zum Erlass des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] fortgeführt wurde. Im 20. Jahrhundert war der nationale Charakter des Privatrechts dann überall in Europa selbstverständlich.


Nach dem Zweiten Weltkrieg war es wiederum Frankreich, das bereits 1945 den europäischen Gedanken aufgriff und 1947 zusammen mit den drei Benelux-Staaten das Abkommen über das Internationale Patentinstitut in Den Haag (''Institut International des Brevets'', IIB) unterzeichnete, das am 10. Juni 1949 in Kraft trat. Es wurde 1961 revidiert. Die revidierte Fassung trat 1971 in Kraft. Aufgabe des IIB, das 1978 als Zweigstelle Den Haag in das Europäische Patentamt (EPA) eingegliedert wurde und damit als selbständige internationale Institution aufgehört hat zu existieren, war im Wesentlichen die Erstellung von Neuheitsrecherchen für die nationalen Ämter der Mitgliedstaaten. Das Abkommen stand allen Mitgliedstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) offen.
Erst seit den 1980er Jahren ist wieder verbreitet von einem „Europäischen Privatrecht“ die Rede. Das Privatrecht ist damit ein Gegenstand der Europäisierung des Rechts und überhaupt der politischen Kultur in Europa geworden. Wenig klar ist allerdings, welche Motive diesen Prozess tragen. Sie reichen von der wohl vordergründigen Behauptung, dass der europäische Binnenmarkt ein vereinheitlichtes Privatrecht erfordere, über genuin rechtswissenschaftliche Motive, die das Privatrecht aus dem Zustand seiner nationalen und kodifikatorischen Verkrustung lösen wollen, bis hin zu einer abstrakten Begeisterung für die „Idee Europa“ und zum Gedanken, dass das Privatrecht ein Element der kulturellen Identität Europas bilde. Dabei divergiert das Interesse am Europäischen Privatrecht in den unterschiedlichen Staaten Europas erheblich: Der Schwerpunkt liegt traditionell in Deutschland und in den Niederlanden sowie in Teilen Spaniens (insb. Katalonien), in Schottland und an einigen Universitäten Italiens. Während die Juristen Frankreichs und des ''[[common law]]'' auf die Europäisierung des Privatrechts zurückhaltend reagiert haben, zeigt sich die Wissenschaft in einigen ost- und nordeuropäischen Mitgliedstaaten der [[Europäische Union|Europäischen Union]] deutlich offener.


Im Jahre 1949 legte der französische Senator ''Longchambon'' der Beratenden Versammlung des [[Rat und Europäischer Rat|Europarates]] einen Plan für die Einrichtung eines europäischen Patentamts vor. Es sollte „europäische Erfindungszertifikate“ nach der Prüfung der Neuheit und Patentfähigkeit erstellen, die dann den nationalen Ämtern zugeleitet werden sollten. Nach Prüfung der weiteren Erteilungsvoraussetzungen sollten die nationalen Patentämter dann Patente erteilen. Der Ministerrat beschloss daraufhin die Einsetzung eines Sachverständigenausschusses für die Patentfragen des Europarates. Als Folge dieser Aktivitäten kamen 1953 die europäische'' Übereinkunft über Formerfordernisse bei Patentanmeldungen'' und 1954 die europäische'' Übereinkunft über die internationale Patentklassifikation'' zustande.  
Je nach der Perspektive lässt sich die Europäisierung des Privatrechts entweder als die Etablierung einer neuen supranationalen Privatrechtsordnung oder als die Fortsetzung bzw. Wiederanknüpfung an den unterbrochenen Privatrechtsdiskurs des Gemeinen Rechts ([[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']]) verstehen. Jedenfalls handelt es sich bei dem Europäischen Privatrecht aber weniger um eine voll entwickelte Rechtsordnung als um ein politisches und wissenschaftliches Projekt. Die Rede von einem Europäischen Privatrecht kann daher einstweilen nicht bloß deskriptiv sein, sondern steht jeweils für ein bestimmtes rechts- und wissenschaftspolitisches Programm. In der gegenwärtigen Diskussion konkurrieren dementsprechend Konzeptionen, die das Europäische Privatrecht primär auf den ''acquis communautaire'', also auf die Rechtstexte der [[Europäische Union|Europäischen Union]], gründen wollen, mit Ansätzen, die primär auf den ''acquis commun'' abstellen, also auf die gemeinsame Wissenschaftstradition des Gemeinen Rechts, die ihren Niederschlag in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas gefunden hat.


Einen ersten echten Schritt in Richtung europäisches Patent stellt das 1963 in Straßburg unterzeichnete ''Übereinkommen zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente'' dar, an dessen Entwurf man bereits 1955 zu arbeiten begonnen hatte. Es trat erst 1980 in Kraft, sorgte aber dafür, dass letztlich die Patentierungsvoraussetzungen europaweit vereinheitlicht wurden, womit die Grundlage für weitere europäische Entwicklungen gelegt wurde. Diese begann unmittelbar nach dem Inkrafttreten des ''Rom-Vertrages'' am 1. Januar 1958. Die Kommission der neu gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erkannte sogleich das Problem, dass (die) nationalen Patente wegen ihrer territorialen Wirkung dem freien Verkehr der Güter im Gemeinsamen Markt im Wege standen. Schon 1960 arbeitete eine von den sechs Mitgliedstaaten errichtete Arbeitsgruppe Grundsätze für ein europäisches, d.h. Gemeinschaftspatentrecht aus, das neben die nationalen Patente treten und ein ''autonomes'' und ''einheitliches Patent'', somit also kein Bündel nationaler Patente darstellen sollte. 1962 wurde der ''erste ''und 1965 ein ''zweiter'' Abkommensentwurf vorgelegt. Da man sich über die Frage, ob das Vertragswerk nur den damals sechs EWG-Mitgliedern oder auch außenstehenden Staaten offen stehen sollte, nicht einigen konnte, kamen alle Arbeiten zunächst zum Stillstand; dieser dauerte bis 1969.
== 2. ''Acquis commun'' ==
Auch zu Zeiten des [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] galt in Europa nicht überall gleiches Recht; vielmehr ging die Rechtspraxis von divergierenden örtlichen Vorschriften und Gewohnheiten aus. Wenn das Privatrecht gleichzeitig als „Gemeines“, also gemeinsames, Recht verstanden wurde, so bezieht sich das primär auf die wissenschaftliche Diskussion. Die Rechtswissenschaft war nämlich einheitlich auf die in der Praxis zumeist nur subsidiär anwendbaren römischen Texte des ''[[Corpus Juris Civilis]]'' bezogen und konnte damit weitgehend unabhängig von regionalen bzw. später auch frühnationalen Rechtstexten bleiben: Überall in Europa wurde das Recht anhand der Institutionen ''Justinians'' gelehrt und anhand der Digesten fortgebildet. Werke wie die [[Institutionenlehrbücher]] von ''Vinnius'' oder ''Heineccius'' konnten deshalb überall in Europa für den akademischen Unterricht benutzt werden; häufig wurde sogar das lokale Recht anhand der Institutionen ''Justinians'' dargestellt. Das Gemeine Recht bildete damit einen rechtsordnungsübergreifenden europäischen Wissenschaftsdiskurs, der die einzelnen kontinentalen Rechtsordnungen ebenso miteinander verbunden hat wie das ''[[common law]]'' mit kontinentalem Rechtsdenken.


Wiederum war es Frankreich, das 1969 die Entwicklung erneut in Gang brachte, diesmal allerdings mit dem Vorschlag für zwei Abkommen. Aufgrund des ersten, allen europäischen Staaten offen stehenden Abkommens, sollte ein europäisches Patentamt gegründet werden, das ein ''Bündel europäischer Patente'' erteilen sollte. Das zweite Abkommen sollte nur den Mitgliedstaaten der'' ''EWG'' ''zugänglich sein, auf dem ersten Abkommen aufbauen und ein europäisches Patent für den Gemeinsamen Markt schaffen.  
Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde ein solcher Diskurs wieder aufgenommen; Meilensteine waren etwa ''Ernst Rabels'' „Recht des Warenkaufs“ (1936/1958) und ''Reinhard Zimmermanns'' „Law of Obligations“ (1990). Dahinter stand die Überzeugung, dass sich die grundlegenden, strukturellen Fragen des Privatrechts unabhängig von einzelnen Bestimmungen der positiven nationalen Rechte verstehen und lehren lassen. Auch heute gibt es deshalb wieder ein Europäisches Privatrecht als den Gegenstand der europäischen Privatrechtswissenschaft. Es findet seinen Ausdruck in einer rasch zunehmenden Zahl von Lehr- und Handbüchern; Beispiele sind insbesondere die „Ius Commune Casebooks for the Common Law of Europe“, das „Europäische Vertragsrecht“ von ''Hein Kötz'' (1996), das „Europäische Obligationenrecht“ von ''Filippo Ranieri'' (3. Aufl. 2009) sowie die Handbücher zum Deliktsrecht von ''Christian von Bar'' (1996/1999) und ''Cees von Dam'' (2006) bzw. zum Bereicherungsrecht von'' Peter Schlechtriem'' (2000/2001). Seine normativen Grundlagen findet der ''acquis commun'' dabei in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas, die insgesamt als eine gemeinsame Tradition begriffen werden können. Rechtsvergleichend zeigt sich das in strukturellen, teleologischen und dogmatischen Gemeinsamkeiten, wobei sich Unterschiede im Einzelnen aus einer historischen Perspektive häufig als Resultat zufälliger Entwicklungen erklären oder als divergierende Antworten auf ein ursprünglich gemeinsames Problem verstehen lassen.


Zwischen Mai 1969 und Juni 1972 tagte die Luxemburger Regierungskonferenz unter Beteiligung von 22 europäischer Staaten. Die Konferenz mündete in der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973, in der ein 1972 vorgelegter Entwurf des ersten Abkommens, nämlich des ''Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente'' (EPÜ), beraten und am 5.10.1973 von Belgien, Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Monaco, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden und der Schweiz unterzeichnet wurde. Es trat am 7.7.1977 mit der Hinterlegung der 10. Ratifikationsurkunde in Kraft. 1991 wurde das EPÜ erstmals einer eher marginalen (Ergänzung des Art. 63(2) durch lit. b) und 2000 einer großen Revision unterzogen. Letztere trat am 13.12.2007 in Kraft. Gegenwärtig (2009) gehören dem EPÜ neben allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch Island, Kroatien, Liechtenstein, die frühere jugoslawische Republik Mazedonien, Norwegen, San Marino, die Schweiz und die Türkei an. Darüber hinaus bestehen zwischen der Europäischen Patentorganisation (EPO) und Albanien, Bosnien und Herzegowina und Serbien sog. ''Erstreckungsabkommen''.
Das Europäische Privatrecht war als ein „gelehrtes Recht“ von jeher durch das Bestreben nach wissenschaftlicher Systematisierung der einzelnen Normen geprägt. Diese Tradition hat neuerdings in systematisierend angelegten rechtsordnungsübergreifenden Regelwerken zum europäischen Privatrecht neue Aktualität gewonnen. Maßstäbe setzten hier die ''[[Principles of European Contract Law]]'' der sog. ''Lando''-Kommission, die alsbald eine quasirechtliche Autorität erlangt haben. In den letzten Jahren ist eine Fülle vergleichbarer Regelwerke anderer europäischer Forschergruppen, wie der ''[[Study Group on a European Civil Code]]'' und der ''European Group on Tort Law'' (''[[Principles of European Tort Law]]''), hinzugekommen, die freilich noch nicht als gleichermaßen autoritativ gelten können. Insbesondere die ''Study Group'' versteht ihre ''Principles of European Law'' dabei zugleich als Entwürfe für ein [[Europäisches Zivilgesetzbuch]]. Allerdings ist zweifelhaft, inwieweit dies gegenwärtig politisch wünschenswert ist; wissenschaftlich wäre eine Kodifikation jedenfalls verfrüht.


Parallel zu den Arbeiten der Luxemburger Regierungskonferenz liefen aufgrund eines Beschlusses des EG-Ministerrates von 1969 Arbeiten an dem zweiten Abkommen. Eine aus Vertretern der EG-Staaten bestehende Sachverständigengruppe „Gemeinschaftspatent“ der Kommission, die später zu einer Arbeitsgruppe des Ministerrates wurde, legte ihren Arbeiten den Entwurf von 1965 zugrunde und passte ihn den Ergebnissen der Luxemburger Konferenz an. Der endgültige Entwurf war im Dezember 1973 fertig gestellt und wurde am 15.12.1975 in Luxemburg auf einer weiteren Konferenz unterzeichnet (Übereinkommens über das europäische Patent für den gemeinsamen Markt, Gemeinschaftspatentübereinkommen – GPÜ). Da das GPÜ von einem EG-Mitgliedstaat nicht ratifiziert wurde, trat es nie in Kraft. Nach dem Grundkonzept des EPÜ und des GPÜ 1975 hätte ein Anmelder durch die Benennung eines einzigen Mitgliedstaates der EG in einer Anmeldung für ein europäisches Patent nur noch ein Gemeinschaftspatent erteilt bekommen (Art. 3 GPÜ). Art. 142(1) EPÜ sieht von Anfang an die Möglichkeit vor, dass eine Gruppe von Vertragsstaaten, „die in einem besonderen Übereinkommen bestimmt hat, dass die für diese Staaten erteilten europäischen Patente für die Gesamtheit ihres Hoheitsgebietes einheitlich sind“, auch vorsehen kann, „dass europäische Patente nur für alle diese Staaten gemeinsam erteilt werden können.“ Macht eine Gruppe – gemeint waren auch von Anfang an die Mitgliedstaaten der EG – von dieser Ermächtigung Gebrauch, dann kommen Art. 143 ff. EPÜ zur Anwendung, die u.a. Vorschriften über besondere Organe des EPA enthalten, die für die Durchführung der Aufgaben zuständig sein würden, die dem EPA durch das Gemeinschaftspatent zusätzlich entstünden.  
== 3. ''Acquis communautaire'' ==
Einen gegenläufigen Ansatz wählen die Vertreter von ''acquis communautaire''-Konzeptionen des Europäischen Privatrechts, die primär auf das positive Recht der [[Europäische Union|Europäischen Union]] abstellen. Seit den 1980er Jahren ist die Europäische Union auch auf dem Gebiet des Privatrechts aktiv geworden, etwa 1985 mit der Produkthaftungsrichtlinie (RL 85/374) und der Haustürgeschäfts-RL (RL 85/577), 1986 mit der Handelsvertreter-RL (RL 86/653) und 1987 mit der Verbraucherkredit-RL (RL 87/102). Seit den 1990er Jahre haben diese Aktivitäten mit der Klausel-RL (RL 93/13) und der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) erheblich an Intensität gewonnen. Hinzu kommen privatrechtliche Aussagen in Richtlinien, die zwar nicht genuin privatrechtlich angelegt sind, jedoch möglicherweise auch für eine privatrechtliche Deutung offen stehen; ein Beispiel bietet die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29). Gleiches gilt für Teile des Primärrechts, insbesondere für die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht.


Um der unbefriedigenden Situation, die durch das Nichtinkrafttreten des GPÜ entstand, abzuhelfen, unternahmen die EG-Mitgliedstaaten einen zweiten Anlauf und unterzeichneten nach einer dritten Luxemburger Konferenz am 15.12.1989 ein umfangreiches Vertragswerk, das aus folgenden Vereinbarungen bzw. Übereinkommen bestand: Vereinbarung über Gemeinschaftspatente, Gemeinschaftspatentübereinkommen nebst Ausführungsordnung, Streitregelungsprotokoll, Protokoll über eine etwaige Änderung der Bedingungen für das Inkrafttreten der Vereinbarung über Gemeinschaftspatente und eine gemeinsame Erklärung der Regierungen der EG-Mitgliedstaaten. Die wesentlichen Änderungen dieses Vertragswerkes bezogen sich auf die nunmehr eingeräumte Möglichkeit der Wahl zwischen einem europäischen und einem Gemeinschaftspatent auch in Bezug auf die EG-Mitgliedstaaten und die Möglichkeit, über das Inkrafttreten des GPÜ ohne Beteiligung aller EG-Mitgliedstaaten in einer einzuberufenden Konferenz neu zu verhandeln. Auch dieses Vertragswerk ist nie in Kraft getreten. Allerdings blieb es nicht ganz ohne Folgen für die nationale Patentgesetzgebung der Mitgliedstaaten. Als Folge der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Mitgliedstaaten der EG, die eine Entschließung über Vorbenutzung oder Vorbesitz, eine weitere Entschließung über eine gemeinsame Regelung für die Erteilung von Zwangslizenzen am Gemeinschaftspatent und eine Erklärung über die Anpassung des nationalen Patentrechts enthielt, sind entsprechende Regelungen in nationale Gesetze übernommen worden.  
Während sich der ''acquis commun'' als eine Schöpfung der Wissenschaft nicht ohne Weiteres als geltendes Recht im Sinne einer Summe hoheitlicher Rechtsregeln verstehen lässt, können die Normtexte des ''acquis communautaire ''und die darauf bezogene Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]]s unproblematisch als das positive Privatrecht der [[Europäische Union|Europäischen Union]] gelten. Gleichzeitig hat der ''acquis communautaire ''freilich nach wie vor einen fragmentarischen Charakter; er besteht aus punktuellen, gedanklich ursprünglich unverbundenen Regelungen spezieller Probleme. Zugleich tragen die meisten dieser Regeln einen instrumentellen, regulatorischen Charakter und stehen damit quer zum traditionell ausgleichsbezogenen Schuldrecht des ''acquis commun''. Das Ziel der Regelungen des ''acquis communautaire''<nowiki> besteht nämlich nicht lediglich in einem fairen Ausgleich gegenläufiger Parteiinteressen, sondern stets auch – oder sogar primär – in einer Förderung des Binnenmarktes, also in einer Stärkung der Position von Verbrauchern zur Motivation einer stärkeren Nachfrage (Beispiel: Haustürgeschäfts-RL) oder in einem Abbau wettbewerbsverzerrender Rechtsunterschiede (Beispiel: Produkthaftungs-RL [RL 85/374]).</nowiki>


Seitdem die [[Europäische Kommission]] mit dem 1997 veröffentlichten Grünbuch über das Gemeinschaftspatent und das Patentschutzsystem in Europa (KOM(97) 314) die Beratungen über das Gemeinschaftspatent wieder in Gang gebracht hat, hat sie – diesmal gestützt auf Art.&nbsp;308 EG/352 AEUV – mehrere Vorschläge für eine ''Verordnung des Rates über das Gemeinschaftspatent'' unterbreitet; den ersten am 1.8. 2000 (KOM(2000) 412 endg.), die vorerst letzten am 23.5.2008 (Dok. 9465/08) und 7.4.2009 (Dok. 8588/09). Als unüberwindbare Hürden für die Verabschiedung dieser Verordnung erwiesen sich bisher die Regelung der Übersetzungsfrage, das Problem der Patentgerichtsbarkeit und verschiedene Gebührenfragen. Als Konsequenz dieser annähernd 35&nbsp;Jahre währenden Fehlschläge verfügt die Gemeinschaft trotz eines [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]]s sowie einer gemeinsamen Währung ([[Europäische Zentralbank|EZB]]; [[Währung]]) und trotz der [[Gemeinschaftsmarke]], dem Gemeinschaftssortenschutz ([[Sortenschutz]]) und dem [[Gemeinschaftsgeschmacksmuster]] weiterhin nicht über ein Gemeinschaftspatent.
Auch aus der Perspektive der Praxis ist der ''acquis communautaire ''heute von kaum zu überschätzender praktischer Bedeutung. Trotz seines im Ansatz fragmentarischen Charakters wird er dabei in der Wissenschaft zunehmend als ein geschlossenes Rechtssystem begriffen; das zeigt sich in ersten umfassenden Darstellungen des „Europäischen Vertragsrechts“ (''Karl Riesenhuber'', 2.&nbsp;Aufl. 2006), des „Gemeinschaftsprivatrechts“ (''Bettina Heiderhoff'', 2.&nbsp;Aufl. 2007) bzw. des „Europäischen Haftungsrechts“ (''Wolfgang Wurmnest'', 2003). Vor allem gibt es aber mit den ''[[Acquis Principles]] ''der ''Research Group on the Existing EC Private Law ''(''Acquis Group'')'' ''auch hier ein Normwerk in der Tradition der ''Lando''-Prinzipien (''[[Principles of European Contract Law]]''), das auf eine regelförmig systematisierende Zusammenfassung des ''acquis communautaire ''zielt. Allerdings kann auch dieses Regelwerk einstweilen nicht eine gleiche quasirechtliche Autorität wie die ''Lando''-Prinzipien beanspruchen. Denn angesichts des nach wie vor überaus fragmentarischen Charakters des ''acquis communautaire'' bedeutet die Verallgemeinerung einzelner Regeln stets eine weitreichende rechtspolitische Entscheidung, für die einer selbstkonstituierten Wissenschaftlergruppe die erforderliche politische Legitimation fehlt. Zudem ist zweifelhaft, wie weit die regulatorischen Einzelregeln des ''acquis communautaire'' ein vollständiges Vertragsrecht tragen.


== 2. Gegenstand und Zweck des europäischen Patents ==
== 4. Aufgaben und Ausblick ==
Das Europäische Patentübereinkommen von 1973 ist ein völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des rechtlichen Rahmens der Gemeinschaft. Nach seiner Präambel ist das EPÜ ein Sonderabkommen im Sinne des Art.&nbsp;19 PVÜ. Es soll die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten, also auch Nichtmitgliedern der Gemeinschaft, auf dem Gebiet des Schutzes von Erfindungen verstärken, und zwar durch Schaffung eines einheitlichen Patenterteilungsverfahrens und einiger flankierender Vorschriften. Mit dem EPÜ wurde die Europäische Patentorganisation (EPO) mit Sitz in München und einer Zweigstelle in Den Haag gegründet, die mit verwaltungsmäßiger und finanzieller Selbständigkeit ausgestattet wurde und deren Aufgabe es ist, europäische Patente zu erteilen. Diese Aufgabe wird vom Europäischen Patentamt (EPA) als Organ der EPO wahrgenommen, dessen Tätigkeit wiederum vom einem weiteren Organ der EPO, dem Verwaltungsrat, überwacht wird (Art.&nbsp;4). Seit der Revision des EPÜ im Jahre 2000 besteht auch eine Konferenz der für Patentangelegenheiten zuständigen Minister der Vertragsstaaten, deren Aufgabe es ist, im fünfjährigen Turnus über Fragen der Organisation und des EPÜ zu beraten (Art.&nbsp;4a).
Keiner dieser beiden Ansätze bietet allein ein adäquates, vollständiges Bild des Europäischen Privatrechts. Offenkundig ist das für Darstellungen, die das Europäische Privatrecht auf den ''acquis commun'' reduzieren, das europäische Sekundärrecht also gänzlich ausblenden. Gleiches gilt aber auch umgekehrt für Konzeptionen, die allein auf den ''acquis communautaire'' abstellen, und zwar nicht nur aufgrund dessen fragmentarischen Charakters. Vor allem sind die regulatorischen Rechtsakte des Europäischen Gesetzgebers nämlich nur vor dem Hintergrund des ''acquis commun'' verständlich: Das in den nationalen Rechtsordnungen tradierte Privatrecht bildet sowohl für die Normgeber als auch für die Rechtsadressaten den selbstverständlichen hermeneutischen Hintergrund einzelner Aussagen, wie sie sich in den verschiedenen regulatorischen [[Richtlinie]]n finden. Auch der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] stützt seine privatrechtliche Judikatur deshalb nicht nur auf den ''acquis communautaire'', sondern auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, also auf den ''acquis commun''.


Die vom EPA erteilten europäischen Patente haben für jeden Vertragsstaat, für den sie erteilt worden sind, dieselbe Wirkung und unterliegen denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent, soweit das EPÜ nichts anderes bestimmt (Art.&nbsp;2 (2), Art.&nbsp;64(1)). Letzteres regelt z.B. die Gründe aus welchen ein europäisches Patent für nichtig erklärt werden kann (Art.&nbsp;138), die Bestimmung des Schutzumfangs (Art.&nbsp;69), die Schutzdauer (Art.&nbsp;63) und einige Mindestrechte (Art.&nbsp;64(2) und Art.&nbsp;67). Bei einem europäischen Patent handelt es sich somit um ein ''europäisches Bündelpatent mit europäischen und nationalen Schutzwirkungen'' (''Friedrich-Karl'' ''Beier'').
Das Europäische Privatrecht erschließt sich heute nur aus der Gesamtschau einer Vielzahl unterschiedlicher, gleichermaßen autoritativer Texte: Neben dem ''acquis communautaire'' sind das einerseits die nationalen Gesetze und die nationale Judikatur und andererseits die internationalen Regelwerke, wie die ''[[Principles of European Contract Law]]'', die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT'' Principles of International Commercial Contracts'']], oder das UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)|Warenkauf, internationaler]]). Ein solcher Autoritätspluralismus macht spezifisch juristische Techniken erforderlich, die die Uneindeutigkeit und die Komplexität des gegenwärtigen Europäischen Privatrechts zu reduzieren vermögen. Insbesondere wird es in Zukunft darum gehen, den ''acquis commun ''mit dem ''acquis communautaire ''gedanklich in ein einheitliches Rechtssystem zu integrieren. Die Arbeiten an einem akademischen [[Common Frame of Reference|Gemeinsamen Referenzrahmen]] für das Europäische Privatrecht bilden einen wichtigen Schritt in diese Richtung.


Mit dem EPÜ ist ein geschlossenes System zur Erteilung von europäischen Patenten begründet worden, das aus einer Eingangs- und Formalprüfung, Erstellung des europäischen Recherchenberichts, Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung und der sachlichen Prüfung der Patentierungsvoraussetzungen der Neuheit, erfinderischer Tätigkeit, gewerblicher Anwendbarkeit und ausreichender Offenbarung besteht. Das EPÜ enthält dazu ebenso genaue Bestimmungen wie darüber, welche Gegenstände dem Patentschutz zugänglich sind und welche nicht. Nach erfolgter Sachprüfung wird von der Prüfungsabteilung entweder ein europäisches Patent erteilt oder die Anmeldung zurückgewiesen. Im ersten Fall steht jedem Dritten die Möglichkeit offen, gegen das Patent innerhalb bestimmter Fristen Einspruch bei der Einspruchsabteilung des EPA einzulegen und insbesondere geltend zu machen, dass der Gegenstand des europäischen Patents nicht patentierbar ist. Die Einspruchsabteilung kann das Patent ganz oder teilweise aufrechterhalten bzw. widerrufen. Das Einspruchsverfahren vor dem EPA stellt die einzige Möglichkeit eines zentralen Angriffs auf die Gültigkeit eines europäischen Patents dar. Gegen Entscheidungen der EPA-Organe, einschließlich der Einspruchsabteilungen ist Beschwerde zu den Beschwerdekammern des EPA möglich, die einen gerichtsähnlichen Status genießen. Schließlich können die Beschwerdekammern zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, die Große Beschwerdekammer entweder von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten befassen. An die Stellungnahmen der Großen Beschwerdekammer sind dann die Beschwerdekammern im anhängigen Verfahren gebunden. Im Falle abweichender Entscheidungen zweier Beschwerdekammern, kann auch der Präsident des EPA eine Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorlegen. Seit dem Inkrafttreten der Revision des EPÜ 2000 im Dezember 2007, kann auch jeder an einem Beschwerdeverfahren Beteiligte, der durch die Entscheidung einer Beschwerdekammer beschwert ist, einen Antrag auf Überprüfung der Entscheidung durch die Große Beschwerdekammer stellen. Dies allerdings nur, wenn er schwerwiegende, im neuen Art.&nbsp;112a EPÜ genau definierte Verstöße gegen seine prozessualen Rechte geltend machen kann. Die Große Beschwerdekammer entscheidet dann, ob solche Voraussetzungen gegeben sind oder nicht.
Angesichts dessen ist das Europäische Privatrecht inhaltlich nach wie vor nur in groben Konturen erkennbar. Das gilt insbesondere für Rechtsgebiete wie das [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Delikts-]] und Sachenrecht, die begrifflich und dogmatisch mehr durch Unterschiede als durch Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Hier gilt es überhaupt erst die rechtsordnungsübergreifenden Grundlagen für ein gemeinsames Verständnis zu legen, also ein adäquates Begriffsinstrumentarium zu formulieren, das eine rechtsordnungsunabhängige Diskussion der jeweiligen Sachfragen und Wertungsprobleme möglich macht, und das damit die Grundlage für einen weiterführenden Vergleich und eine konsens- und identitätsstiftende Diskussion der nationalen Regelungen bieten kann. Die Entwürfe der ''Study Group ''bieten Ansätze dazu, doch sind gerade hier auch gründlichere Einzelstudien unverzichtbar, die den einschlägigen Rechtsstoff ohne Rücksicht auf die Kompromisserfordernisse innerhalb einer internationalen Kommission in den Blick nehmen. Schließlich verlangen aber auch die grundlegenden politischen Fragen des Europäischen Privatrechts eine angemessene Antwort; angesichts der konzeptionellen Marktorientierung des ''acquis communautaire'' gehört dazu nicht zuletzt auch die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Europäischen Privatrecht.  
 
Streitigkeiten über Verletzungen europäischer Patente werden nach nationalem Recht (Art. 64(3)) und vor nationalen Gerichten der Vertragsstaaten entschieden. Desgleichen kann die Rechtsgültigkeit eines europäischen Patents nach dem im EPA abgeschlossenen Verfahren nur mit Nichtigkeitsklagen bzw. Nichtigkeitseinwänden, je nach nationalem Recht, vor nationalen Behörden und Gerichten geltend gemacht werden, wobei diese dann allerdings an die EPÜ Vorschriften gebunden sind (Art.&nbsp;138).
 
Das Fehlen einer zentralen europäischen Patentgerichtsbarkeit wird seit langem als Problem und Nachteil des EPÜ-Systems beklagt und wiegt mit wachsender Zahl der EPÜ-Vertragsstaaten immer schwerer. Seit der Regierungskonferenz der Vertragsstaaten des EPÜ in Paris im Jahre 1999 beschäftigt sich daher eine Arbeitsgruppe „Streitregelung“ mit einem Entwurf eines ''Streitregelungsübereinkommens'' (''European Patent Litigation Agreement'' – EPLA). Der bisher erarbeitete EPLA-Entwurf sieht ein Europäisches Patentgericht vor, das für Klagen, die eine tatsächliche oder eine drohende Verletzung betreffen, für Klagen auf Feststellung der Nichtverletzung, Nichtigkeitsklagen bzw. Widerklagen und Klagen auf Schadensersatz oder Entschädigung aufgrund des einstweiligen Schutzes einer veröffentlichten europäischen Patentanmeldung zuständig sein sollte. Dabei hat man sich für ein sog. „Verbundsystem“ entschieden, d.h. dass über die Verletzung und Rechtsgültigkeit eines europäischen Patents im selben Verfahren vor demselben Gericht verhandelt werden soll. Wegen der Kontroverse mit der Europäischen Kommission über die Außenzuständigkeit der EG-Vertragsstaaten (zum Abschluss internationaler Verträge) und wegen der parallelen Arbeiten der EU-Kommission an einer Gemeinschaftspatentgerichtsbarkeit, kam es bislang aber zu keiner Einigung über das EPLA.
 
Trotz dieser beachtlichen Unzulänglichkeiten des Systems hat sich aber das EPÜ in der Praxis bewährt und als Erfolg erwiesen. Dies gilt sowohl für die Anzahl der Vertragsstaaten, die ihm inzwischen angehören, als auch insbesondere in Bezug auf die Entwicklung der Anmeldezahlen. Letztere stiegen von 181.085 im Jahre 2004 auf 226.813 im Jahre 2008.
 
== 3. Gegenstand und Zweck des Gemeinschaftspatents ==
Das Gemeinschaftspatentübereinkommen von 1975, die Vereinbarung von 1989 und auch die später von der Europäischen Kommission unterbreiteten Verordnungsentwürfe für ein Gemeinschaftspatent bauen sämtlich in komplexer Weise auf dem EPÜ auf. Das EPA wird als Patenterteilungsbehörde in das System einbezogen und bleibt für das gesamte Patenterteilungsverfahren zuständig. Konzeptionell kann man von einem „Fortsetzungszusammenhang“ sprechen (''Friedrich-Karl'' ''Beier''). Allerdings verfolgen beide Instrumente deutlich unterschiedliche wirtschafts- und rechtspolitische Ziele. Während das EPÜ primär Rationalisierungszwecken dient, verfolgen das GPÜ und seine, zuletzt in EG-Verordnungen gekleideten Nachfolger primär Integrationsziele der Gemeinschaft. Wegen der bisher erlittenen Fehlschläge allerdings mit abnehmender Tendenz. Dies macht sich besonders dadurch bemerkbar, dass die Entwürfe von 2000 und 2008/2009 ausdrücklich erklären, dass das auf Gemeinschaftspatente anwendbare gemeinschaftliche Patentrecht nicht das Patentrecht der Mitgliedstaaten und auch nicht das durch das Europäische Patentübereinkommen geschaffene europäische Patentrecht ersetzen dürfe. Nach diesen Entwürfen erscheint es nämlich nicht gerechtfertigt, die Unternehmen zu zwingen, ihre Patente als Gemeinschaftspatente anzumelden, da die einzelstaatlichen Patente und die europäischen Patente nach wie vor für diejenigen Unternehmen notwendig sind, die keinen Schutz ihrer Patente auf Gemeinschaftsebene wünschen (Erwägungsgrund&nbsp;4 des Entwurfs von 2000). Im Erwägungsgrund&nbsp;4b des Entwurfs von 2008/2009 heißt es, dass das Gemeinschaftspatent die dritte Option darstellen würde. Die Anmelder sollten die Freiheit behalten, stattdessen nationale oder europäische Patente zu wählen. Damit scheint der europäische Gesetzgeber bereit zu sein, auf Dauer auf die vollständige Integrationswirkung des Gemeinschaftspatents zu verzichten und davon abzurücken, was in der Präambel des GPÜ unmissverständlich zum Ausdruck kam, nämlich dass das Gemeinschaftspatent dazu beitragen solle, die Ziele der Gemeinschaft zu verwirklichen, insbesondere die Verfälschungen des Wettbewerbs innerhalb der Gemeinschaft, die sich aus der territorialen Begrenzung der nationalen Schutzrechte ergeben können, zu beseitigen. Die Schaffung eines gemeinschaftlichen Patentsystems sei, so die GPÜ-Präambel, untrennbar von der Verwirklichung der Ziele des Rom-Vertrages und daher mit der rechtlichen Ordnung der Gemeinschaft verbunden. Die Präambel machte auch klar, dass es sich beim GPÜ um ein Abkommen im Sinne von Art.&nbsp;142 EPÜ handeln würde. Beim Gemeinschaftspatent des GPÜ handelte es sich um ein einheitliches Recht, das in allen Hoheitsgebieten der Gemeinschaft seine Geltung und die gleiche Wirkung hätte und ''nur'' für ''alle'' diese Gebiete erteilt, übertragen oder für nichtig hätte erklärt werden könnte, bzw. erlöschen würde (Art.&nbsp;2 GPÜ). Das GPÜ enthielt ferner eine ausführliche Regelung für die besonderen Organe des EPA und Bestimmungen über die Wirkungen des Gemeinschaftspatents und der europäischen Anmeldung.
 
Mit der Verankerung des Verbots der mittelbaren Benutzung der Erfindung (Art.&nbsp;30), dem Ausschluss der Wirkungen des Patents u.a. auf Handlungen zu Versuchszwecken, die sich auf den Gegenstand der patentierten Erfindung beziehen (Art.&nbsp;11(1)(b)), des Grundsatzes der EU-weiten Erschöpfung, wenn das patentierte Erzeugnis in irgendeinem Mitgliedstaat vom Patentinhaber oder mit seiner Zustimmung in Verkehr gebracht wird (Art.&nbsp;33), des Vorbenutzungsrechts (Art.&nbsp;28) und schließlich der Regelung der Zwangslizenzen (Art.&nbsp;46-48), wirkt das GPÜ, trotz aller Fehlschläge und Rückschläge des Gemeinschaftspatents, insofern nach, als diese seine Regelungen in die nationalen Patentgesetze der Mitgliedstaaten der EG übernommen wurden. Für Nichtigkeits- und Verletzungsklagen erklärte das GPÜ die nationalen Gerichte für zuständig (Art.&nbsp;68-70). Angesichts der Tatsache, dass gemäß diesem Schema nationale Gerichte der Mitgliedstaaten der EG für die gemeinschaftsweite Vernichtung von Gemeinschaftspatenten zuständig gewesen wären, stieß die geplante Regung auf dezidierte Ablehnung insbesondere der Industrie, aber auch einiger Mitgliedstaaten.
 
Die Hinnahme von sogar drei parallel existierenden Patentsystemen innerhalb des Binnenmarktes der Union deutet außer der Abkehr von dem strikten Integrationsgedanken eine Tendenz an, das Gemeinschaftspatent überwiegend nur noch als ein Mittel für Kostenreduzierung, Verbesserung der Qualität von Patenten und Verbesserung der Kooperation zwischen den nationalen Patentämtern und dem EPA zu begreifen und zu verwenden. Ferner weist der zuletzt beratene Verordnungsentwurf gegenüber dem ursprünglichen Text des GPÜ Unterschiede auf insbesondere bezüglich der Frage der Übersetzung einerseits und der Regelung der Patentgerichtsbarkeit andererseits. Darüber hinaus enthält er aber auch eine ausführlichere Zwangslizenzregelung. Ein von einer Arbeitsgruppe des Ministerrates im Mai 2008 vorgelegter Entwurf für ein ''Abkommen über die Patentgerichtsbarkeit der Europäischen Union'' sieht die Errichtung eines Gerichts Erster Instanz und eines zentralen Berufungsgerichts vor. Das Gericht Erster Instanz soll sowohl aus einer zentralen Abteilung als auch aus lokalen und/ oder regionalen Abteilungen bestehen. Lokale Abteilungen sollten auf dem Gebiet der Vertragspartei, die ein entsprechendes Gesuch gestellt hatte, eingerichtet werden. Vertragsstaaten, welche eine lokale Abteilung beherbergten, würden für die Bestimmung des Sitzes zuständig sein und für die Infrastruktur der Abteilung sorgen. Der Entwurf enthält des Weiteren Vorschriften über die rechtlich und technisch qualifizierten Richter(innen), die Zuständigkeiten des Gerichts, seine Organisation, und darüber hinaus auch materiellrechtliche Bestimmungen und Vorschriften über die Verfahrensabläufe. Im Mai 2009 hat die Kommission, basierend auf den Vorarbeiten im Rahmen des EPLA, schon einen Satz von Regeln für das Verfahren vor dem einheitlichen Patentgericht zur Diskussion gestellt.
 
Auch nach beinahe 35&nbsp;Jahren der wiederholt missglückten Versuche des EU-Ministerrates und der Europäischen Kommission, der Gemeinschaft in Form eines Gemeinschaftspatents ein wichtiges Integrationsmittel zur Überwindung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt an die Hand zu geben und die extrem hohen Kosten des Patenterwerbs in Europa zu reduzieren, ist die Zukunft des Gemeinschaftspatents nach wie vor völlig unsicher und die Gemeinschaft weiterhin ohne ein rechtliches Integrationsinstrument im Bereich der Patente.


==Literatur==
==Literatur==
''Friedrich-Karl Beier'', in: idem, Kurt Haertel, Gerhard Schricker, Europäisches Patentübereinkommen, 1.&nbsp;Lieferung 1984;'' Kurt Haertel'', in: idem, Friedrich-Karl Beier, Gerhard Schricker, Europäisches Patentübereinkommen, 1.&nbsp;Lieferung 1984;'' Albrecht Krieger'', ''Dirk Brouear'', ''Detlef Schennen'', Die dritte Luxemburger Konferenz über das Gemeinschaftspatent vom 11. bis 15. Dezember 1989, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 1990, 173&nbsp;ff.; ''Joseph Straus'', The Present State of the Patent System in the European Union, 1997; ''Gerald Paterson'', The European Patent System: The Law and Practice of the European Patent Convention, 2001; ''Georg'' ''Benkard'', Europäisches Patentübereinkommen, 2002; ''Ian Muir'', ''Mathias Brandi-Dohrn'', ''Stephan Gruber'','' ''European Patent Law, 2002; ''Rudolf Busse'', Patentgesetz unter Berücksichtigung des Europäischen Patentübereinkommens und des Patentzusammenarbeitsvertrages, 2003; ''Margarete Singer'', ''Dieter Stauder'' (Hg.), European Patent Convention, 3. Aufl. 2003; ''Hanns Ullrich'', National, European and Community Patent Protection: Time for Reconsideration, 2006;'' Rainer Schulte'', Patentgesetz mit Europäischen Patentübereinkommen, 8. Aufl. 2008; ''Tobias Bremi'', The European Patent Convention and Proceedings before the European Patent Office (EPC 2000), 2008; ''Rudolf Kraßer'', Patentrecht, 2009.
''Reinhard Zimmermann'', Konturen eines europäischen Vertragsrechts, Juristenzeitung 1995, 477&nbsp;ff.; ''idem'', Savignys Vermächtnis: Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, Juristische Blätter 1998, 273&nbsp;ff.; ''Hans-W. Micklitz'', Perspektiven eines europäischen Privatrechts: Ius commune praeter legem, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 253&nbsp;ff.; ''Karl Riesenhuber'', System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, 2003; ''Nils Jansen'', Binnenmarkt, Privatrecht und europäische Identität, 2004; ''Study Group on Social Justice in European Private Law'', Social Justice in European Private Law: a Manifesto, European Law Journal 10 (2004) 653&nbsp;ff.; ''Reiner Schulze'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Europäisches Privatrecht: Basistexte, 3.&nbsp;Aufl. 2005; ''Thomas Eger'','' Hans-Bernhard Schäfer'' (Hg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007; ''Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group)'', Principles of the Existing EC Contract Law: Contract I, 2007; ''Nils Jansen'','' Reinhard Zimmermann'', Restating the Acquis communautaire? A Critical Examination of the “Principles of the Existing EC Contract Law”, Modern Law Review 71 (2008) 505&nbsp;ff.


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Version vom 28. September 2021, 16:46 Uhr

von Nils Jansen

1. Die Europäisierung des Privatrechts

Obgleich die einzelnen Privatrechtsordnungen Europas in weiten Bereichen über gleiche juristische Kategorien und Grundbegriffe verfügen, die im Gemeinen Recht (ius commune) auf der Grundlage der römischen Quellen formuliert worden sind, wurde das Privatrecht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend als eine nationale Angelegenheit verstanden. Das gilt nicht nur für Länder wie Frankreich, in denen mit einer Kodifikation eine neue Grundlage für das Privatrecht geschaffen worden war. Auch in Deutschland wurde das Privatrecht auf einen nationalen „Volksgeist“ bezogen, obwohl hier zugleich der ursprünglich gemeinrechtliche Diskurs noch bis zum Erlass des BGB fortgeführt wurde. Im 20. Jahrhundert war der nationale Charakter des Privatrechts dann überall in Europa selbstverständlich.

Erst seit den 1980er Jahren ist wieder verbreitet von einem „Europäischen Privatrecht“ die Rede. Das Privatrecht ist damit ein Gegenstand der Europäisierung des Rechts und überhaupt der politischen Kultur in Europa geworden. Wenig klar ist allerdings, welche Motive diesen Prozess tragen. Sie reichen von der wohl vordergründigen Behauptung, dass der europäische Binnenmarkt ein vereinheitlichtes Privatrecht erfordere, über genuin rechtswissenschaftliche Motive, die das Privatrecht aus dem Zustand seiner nationalen und kodifikatorischen Verkrustung lösen wollen, bis hin zu einer abstrakten Begeisterung für die „Idee Europa“ und zum Gedanken, dass das Privatrecht ein Element der kulturellen Identität Europas bilde. Dabei divergiert das Interesse am Europäischen Privatrecht in den unterschiedlichen Staaten Europas erheblich: Der Schwerpunkt liegt traditionell in Deutschland und in den Niederlanden sowie in Teilen Spaniens (insb. Katalonien), in Schottland und an einigen Universitäten Italiens. Während die Juristen Frankreichs und des common law auf die Europäisierung des Privatrechts zurückhaltend reagiert haben, zeigt sich die Wissenschaft in einigen ost- und nordeuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union deutlich offener.

Je nach der Perspektive lässt sich die Europäisierung des Privatrechts entweder als die Etablierung einer neuen supranationalen Privatrechtsordnung oder als die Fortsetzung bzw. Wiederanknüpfung an den unterbrochenen Privatrechtsdiskurs des Gemeinen Rechts (ius commune) verstehen. Jedenfalls handelt es sich bei dem Europäischen Privatrecht aber weniger um eine voll entwickelte Rechtsordnung als um ein politisches und wissenschaftliches Projekt. Die Rede von einem Europäischen Privatrecht kann daher einstweilen nicht bloß deskriptiv sein, sondern steht jeweils für ein bestimmtes rechts- und wissenschaftspolitisches Programm. In der gegenwärtigen Diskussion konkurrieren dementsprechend Konzeptionen, die das Europäische Privatrecht primär auf den acquis communautaire, also auf die Rechtstexte der Europäischen Union, gründen wollen, mit Ansätzen, die primär auf den acquis commun abstellen, also auf die gemeinsame Wissenschaftstradition des Gemeinen Rechts, die ihren Niederschlag in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas gefunden hat.

2. Acquis commun

Auch zu Zeiten des ius commune galt in Europa nicht überall gleiches Recht; vielmehr ging die Rechtspraxis von divergierenden örtlichen Vorschriften und Gewohnheiten aus. Wenn das Privatrecht gleichzeitig als „Gemeines“, also gemeinsames, Recht verstanden wurde, so bezieht sich das primär auf die wissenschaftliche Diskussion. Die Rechtswissenschaft war nämlich einheitlich auf die in der Praxis zumeist nur subsidiär anwendbaren römischen Texte des Corpus Juris Civilis bezogen und konnte damit weitgehend unabhängig von regionalen bzw. später auch frühnationalen Rechtstexten bleiben: Überall in Europa wurde das Recht anhand der Institutionen Justinians gelehrt und anhand der Digesten fortgebildet. Werke wie die Institutionenlehrbücher von Vinnius oder Heineccius konnten deshalb überall in Europa für den akademischen Unterricht benutzt werden; häufig wurde sogar das lokale Recht anhand der Institutionen Justinians dargestellt. Das Gemeine Recht bildete damit einen rechtsordnungsübergreifenden europäischen Wissenschaftsdiskurs, der die einzelnen kontinentalen Rechtsordnungen ebenso miteinander verbunden hat wie das common law mit kontinentalem Rechtsdenken.

Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde ein solcher Diskurs wieder aufgenommen; Meilensteine waren etwa Ernst Rabels „Recht des Warenkaufs“ (1936/1958) und Reinhard Zimmermanns „Law of Obligations“ (1990). Dahinter stand die Überzeugung, dass sich die grundlegenden, strukturellen Fragen des Privatrechts unabhängig von einzelnen Bestimmungen der positiven nationalen Rechte verstehen und lehren lassen. Auch heute gibt es deshalb wieder ein Europäisches Privatrecht als den Gegenstand der europäischen Privatrechtswissenschaft. Es findet seinen Ausdruck in einer rasch zunehmenden Zahl von Lehr- und Handbüchern; Beispiele sind insbesondere die „Ius Commune Casebooks for the Common Law of Europe“, das „Europäische Vertragsrecht“ von Hein Kötz (1996), das „Europäische Obligationenrecht“ von Filippo Ranieri (3. Aufl. 2009) sowie die Handbücher zum Deliktsrecht von Christian von Bar (1996/1999) und Cees von Dam (2006) bzw. zum Bereicherungsrecht von Peter Schlechtriem (2000/2001). Seine normativen Grundlagen findet der acquis commun dabei in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas, die insgesamt als eine gemeinsame Tradition begriffen werden können. Rechtsvergleichend zeigt sich das in strukturellen, teleologischen und dogmatischen Gemeinsamkeiten, wobei sich Unterschiede im Einzelnen aus einer historischen Perspektive häufig als Resultat zufälliger Entwicklungen erklären oder als divergierende Antworten auf ein ursprünglich gemeinsames Problem verstehen lassen.

Das Europäische Privatrecht war als ein „gelehrtes Recht“ von jeher durch das Bestreben nach wissenschaftlicher Systematisierung der einzelnen Normen geprägt. Diese Tradition hat neuerdings in systematisierend angelegten rechtsordnungsübergreifenden Regelwerken zum europäischen Privatrecht neue Aktualität gewonnen. Maßstäbe setzten hier die Principles of European Contract Law der sog. Lando-Kommission, die alsbald eine quasirechtliche Autorität erlangt haben. In den letzten Jahren ist eine Fülle vergleichbarer Regelwerke anderer europäischer Forschergruppen, wie der Study Group on a European Civil Code und der European Group on Tort Law (Principles of European Tort Law), hinzugekommen, die freilich noch nicht als gleichermaßen autoritativ gelten können. Insbesondere die Study Group versteht ihre Principles of European Law dabei zugleich als Entwürfe für ein Europäisches Zivilgesetzbuch. Allerdings ist zweifelhaft, inwieweit dies gegenwärtig politisch wünschenswert ist; wissenschaftlich wäre eine Kodifikation jedenfalls verfrüht.

3. Acquis communautaire

Einen gegenläufigen Ansatz wählen die Vertreter von acquis communautaire-Konzeptionen des Europäischen Privatrechts, die primär auf das positive Recht der Europäischen Union abstellen. Seit den 1980er Jahren ist die Europäische Union auch auf dem Gebiet des Privatrechts aktiv geworden, etwa 1985 mit der Produkthaftungsrichtlinie (RL 85/374) und der Haustürgeschäfts-RL (RL 85/577), 1986 mit der Handelsvertreter-RL (RL 86/653) und 1987 mit der Verbraucherkredit-RL (RL 87/102). Seit den 1990er Jahre haben diese Aktivitäten mit der Klausel-RL (RL 93/13) und der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) erheblich an Intensität gewonnen. Hinzu kommen privatrechtliche Aussagen in Richtlinien, die zwar nicht genuin privatrechtlich angelegt sind, jedoch möglicherweise auch für eine privatrechtliche Deutung offen stehen; ein Beispiel bietet die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29). Gleiches gilt für Teile des Primärrechts, insbesondere für die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht.

Während sich der acquis commun als eine Schöpfung der Wissenschaft nicht ohne Weiteres als geltendes Recht im Sinne einer Summe hoheitlicher Rechtsregeln verstehen lässt, können die Normtexte des acquis communautaire und die darauf bezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unproblematisch als das positive Privatrecht der Europäischen Union gelten. Gleichzeitig hat der acquis communautaire freilich nach wie vor einen fragmentarischen Charakter; er besteht aus punktuellen, gedanklich ursprünglich unverbundenen Regelungen spezieller Probleme. Zugleich tragen die meisten dieser Regeln einen instrumentellen, regulatorischen Charakter und stehen damit quer zum traditionell ausgleichsbezogenen Schuldrecht des acquis commun. Das Ziel der Regelungen des acquis communautaire besteht nämlich nicht lediglich in einem fairen Ausgleich gegenläufiger Parteiinteressen, sondern stets auch – oder sogar primär – in einer Förderung des Binnenmarktes, also in einer Stärkung der Position von Verbrauchern zur Motivation einer stärkeren Nachfrage (Beispiel: Haustürgeschäfts-RL) oder in einem Abbau wettbewerbsverzerrender Rechtsunterschiede (Beispiel: Produkthaftungs-RL [RL 85/374]).

Auch aus der Perspektive der Praxis ist der acquis communautaire heute von kaum zu überschätzender praktischer Bedeutung. Trotz seines im Ansatz fragmentarischen Charakters wird er dabei in der Wissenschaft zunehmend als ein geschlossenes Rechtssystem begriffen; das zeigt sich in ersten umfassenden Darstellungen des „Europäischen Vertragsrechts“ (Karl Riesenhuber, 2. Aufl. 2006), des „Gemeinschaftsprivatrechts“ (Bettina Heiderhoff, 2. Aufl. 2007) bzw. des „Europäischen Haftungsrechts“ (Wolfgang Wurmnest, 2003). Vor allem gibt es aber mit den Acquis Principles der Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) auch hier ein Normwerk in der Tradition der Lando-Prinzipien (Principles of European Contract Law), das auf eine regelförmig systematisierende Zusammenfassung des acquis communautaire zielt. Allerdings kann auch dieses Regelwerk einstweilen nicht eine gleiche quasirechtliche Autorität wie die Lando-Prinzipien beanspruchen. Denn angesichts des nach wie vor überaus fragmentarischen Charakters des acquis communautaire bedeutet die Verallgemeinerung einzelner Regeln stets eine weitreichende rechtspolitische Entscheidung, für die einer selbstkonstituierten Wissenschaftlergruppe die erforderliche politische Legitimation fehlt. Zudem ist zweifelhaft, wie weit die regulatorischen Einzelregeln des acquis communautaire ein vollständiges Vertragsrecht tragen.

4. Aufgaben und Ausblick

Keiner dieser beiden Ansätze bietet allein ein adäquates, vollständiges Bild des Europäischen Privatrechts. Offenkundig ist das für Darstellungen, die das Europäische Privatrecht auf den acquis commun reduzieren, das europäische Sekundärrecht also gänzlich ausblenden. Gleiches gilt aber auch umgekehrt für Konzeptionen, die allein auf den acquis communautaire abstellen, und zwar nicht nur aufgrund dessen fragmentarischen Charakters. Vor allem sind die regulatorischen Rechtsakte des Europäischen Gesetzgebers nämlich nur vor dem Hintergrund des acquis commun verständlich: Das in den nationalen Rechtsordnungen tradierte Privatrecht bildet sowohl für die Normgeber als auch für die Rechtsadressaten den selbstverständlichen hermeneutischen Hintergrund einzelner Aussagen, wie sie sich in den verschiedenen regulatorischen Richtlinien finden. Auch der Europäische Gerichtshof stützt seine privatrechtliche Judikatur deshalb nicht nur auf den acquis communautaire, sondern auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, also auf den acquis commun.

Das Europäische Privatrecht erschließt sich heute nur aus der Gesamtschau einer Vielzahl unterschiedlicher, gleichermaßen autoritativer Texte: Neben dem acquis communautaire sind das einerseits die nationalen Gesetze und die nationale Judikatur und andererseits die internationalen Regelwerke, wie die Principles of European Contract Law, die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts, oder das UN-Kaufrecht (Warenkauf, internationaler). Ein solcher Autoritätspluralismus macht spezifisch juristische Techniken erforderlich, die die Uneindeutigkeit und die Komplexität des gegenwärtigen Europäischen Privatrechts zu reduzieren vermögen. Insbesondere wird es in Zukunft darum gehen, den acquis commun mit dem acquis communautaire gedanklich in ein einheitliches Rechtssystem zu integrieren. Die Arbeiten an einem akademischen Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht bilden einen wichtigen Schritt in diese Richtung.

Angesichts dessen ist das Europäische Privatrecht inhaltlich nach wie vor nur in groben Konturen erkennbar. Das gilt insbesondere für Rechtsgebiete wie das Delikts- und Sachenrecht, die begrifflich und dogmatisch mehr durch Unterschiede als durch Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Hier gilt es überhaupt erst die rechtsordnungsübergreifenden Grundlagen für ein gemeinsames Verständnis zu legen, also ein adäquates Begriffsinstrumentarium zu formulieren, das eine rechtsordnungsunabhängige Diskussion der jeweiligen Sachfragen und Wertungsprobleme möglich macht, und das damit die Grundlage für einen weiterführenden Vergleich und eine konsens- und identitätsstiftende Diskussion der nationalen Regelungen bieten kann. Die Entwürfe der Study Group bieten Ansätze dazu, doch sind gerade hier auch gründlichere Einzelstudien unverzichtbar, die den einschlägigen Rechtsstoff ohne Rücksicht auf die Kompromisserfordernisse innerhalb einer internationalen Kommission in den Blick nehmen. Schließlich verlangen aber auch die grundlegenden politischen Fragen des Europäischen Privatrechts eine angemessene Antwort; angesichts der konzeptionellen Marktorientierung des acquis communautaire gehört dazu nicht zuletzt auch die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Europäischen Privatrecht.

Literatur

Reinhard Zimmermann, Konturen eines europäischen Vertragsrechts, Juristenzeitung 1995, 477 ff.; idem, Savignys Vermächtnis: Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, Juristische Blätter 1998, 273 ff.; Hans-W. Micklitz, Perspektiven eines europäischen Privatrechts: Ius commune praeter legem, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 253 ff.; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, 2003; Nils Jansen, Binnenmarkt, Privatrecht und europäische Identität, 2004; Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Private Law: a Manifesto, European Law Journal 10 (2004) 653 ff.; Reiner Schulze, Reinhard Zimmermann (Hg.), Europäisches Privatrecht: Basistexte, 3. Aufl. 2005; Thomas Eger, Hans-Bernhard Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007; Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group), Principles of the Existing EC Contract Law: Contract I, 2007; Nils Jansen, Reinhard Zimmermann, Restating the Acquis communautaire? A Critical Examination of the “Principles of the Existing EC Contract Law”, Modern Law Review 71 (2008) 505 ff.