Börsen und Bürgerliches Gesetzbuch: Unterschied zwischen den Seiten

Aus HWB-EuP 2009
(Unterschied zwischen Seiten)
K 1 Version importiert
 
de>Richter
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
Zeile 1: Zeile 1:
von ''[[Andreas M. Fleckner]]''
von ''[[Hans-Peter Haferkamp]]''
== 1. Funktion ==
Börsen veranstalten einen standardisierten Handel in vertretbaren Gegenständen und führen auf diese Weise Angebot und Nachfrage mit geringen Transaktionskosten zusammen. Besonders anschaulich und die öffentliche Wahrnehmung prägend ist der Handel in Gesellschaftsanteilen („Aktien“) und Schuldverschreibungen („Anleihen“).


Eng verbunden mit der Veranstaltung ist die Regulierung des Handels. Denn zur Standardisierung bedarf es Regeln über den Gegenstand und Ablauf des Handels sowie über die zu ihm zugelassenen Personen. Ebenfalls bedeutsam sind zwei weitere Funktionen der Börsen: die Verbreitung von Informationen über die gehandelten Gegenstände und, mittels der Etablierung von Mindeststandards, die Verbesserung ihrer Qualität (insbesondere bei Aktien und Anleihen: ''[[Corporate Governance]]''). Seit einigen Jahren verfolgen die Betreiber der meisten Börsen einen weiteren Zweck: die Erzielung von Gewinnen. Hierzu haben sich die Börsen bzw. ihre Betreiber in [[Aktiengesellschaft]]en umgewandelt, deren Aktien wiederum an der Börse notiert sind.
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ist die Deutsche Zivilrechtskodifikation.


Aus Sicht der Anbieter und Nachfrager von Kapital haben die Börsen eine Transformationsfunktion, indem sie die kurzfristige Anlage in langfristige Unternehmensbeteiligungen ermöglichen. Hierdurch steigert sich für beide Seiten die Attraktivität der Kapitalüberlassung. Die Kapitalgeber können ihre Investition indirekt jederzeit dadurch zurückerhalten, dass sie ihre Aktien oder Anleihen zum aktuellen Marktwert an der Börse veräußern, und bleiben damit flexibel. Die Kapitalnachfrager können wegen dieses Zweit- oder Sekundärmarktes die direkte Rückzahlung des Kapitals auf Zeit (Anleihen) oder auf Dauer (Aktien) ausschließen und erhalten Planungssicherheit.
== 1. Politische Ausgangslage ==
Seit den Freiheitskriegen war die Herbeiführung der Rechtseinheit eine Hauptforderung des liberalen Bürgertums. Vor der deutschen Reichseinheit im Jahr 1871 fehlte diesen Forderungen jedoch der politische Unterbau. Lediglich im Wechsel- (ADWO 1849) und [[Handelsrecht]] ([[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|ADHGB]] 1861) gelang die Herstellung weitgehender nationaler Rechtseinheit. Träger des nationalen Rechts war zunächst die [[Rechtswissenschaft]], die über eine am „heutigen“ [[römisches Recht|römischen Recht]] orientierte einheitliche Juristenausbildung und die Abschottung durch ein streng wissenschaftliches Verfahren Autonomie von den (territorialen) politischen Instanzen einforderte. Rechtsvereinheitlichend wirkten vor Inkrafttreten des BGB am 1.1.1900 auch die Rechtsprechung des [[Reichsoberhandelsgericht (mit Reichsgericht)|Reichsoberhandelsgerichts]] (seit 1869) und des Reichsgerichts (seit 1879).


== 2. Begriff ==
Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 sprach in Art. 4 Nr. 13 dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Obligationen- und [[Handelsrecht]] zu, nicht jedoch für das gesamte Zivilrecht. Politisch sah man im Bundesrat die Zivilrechtsvereinheitlichung anfangs nicht als vordringlich an und trieb zunächst die Vereinheitlichung des Straf- und Prozessrechts voran. Dies hing einerseits damit zusammen, dass man die Vereinheitlichung insbesondere des Erb- und Familienrechts für außerordentlich problematisch hielt. Andererseits bestand aber auch Uneinigkeit darüber, ob eine Privatrechtskodifikation ([[Kodifikation]]) überhaupt anzustreben sei, oder einzelne Spezialgesetze ausreichend seien. Erst 1873 einigte man sich im Bundesrat. Mit der nach den Antragstellern benannten ''lex Miquel/ Lasker'' (RGBl. 1873, 379) sprach der Reichstag dem Reich die Gesetzgebungskompetenz im Zivilrecht zu.
Die juristische Definition der Börse ist eines der Kernprobleme des Börsenrechts. Innerhalb der Marktveranstaltungen, die in der Praxis vorkommen, gibt es keine klare Grenze, an die eine gesetzliche Regulierung anknüpfen könnte, sondern es ist ein weites Spektrum mit fließenden Übergängen zu beobachten. Welche Handelsplätze in den Anwendungsbereich des Börsenrechts fallen sollen, ist deshalb eine Wertungsfrage.


Bis heute ist es keiner Rechtsordnung gelungen, eine überzeugende Definition der Börse zu finden. Zwar wurde das Problem früh erkannt, so dass es in manchen Jurisdiktionen eine lange Diskussion gibt (in Deutschland seit der berühmten Feenpalast-Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 26.11.1898, PrOVGE 34, 315). Aber gleichzeitig hat der technische Fortschritt viele der äußeren Unterscheidungsmerkmale, die zur Abgrenzung der Börsen von sonstigen Märkten entwickelt wurden, eingeebnet. Wurde früher auf die räumliche, zeitliche und sachliche Konzentration des Handels abgestellt, so unterscheidet sich der moderne außerbörsliche Handel in diesen Punkten nicht mehr vom Börsenhandel ([[Märkte für Finanzinstrumente]]). Um die genehmigten Börsen von den genehmigungsfähigen Handelsplätzen abzugrenzen, sollte zwischen einem formellen und einem materiellen Börsenbegriff unterschieden werden: Börsen im formellen Sinne sind Handelsplätze, die von den zuständigen staatlichen Stellen als Börse, ''recognised investment exchange ''oder ''marché réglementé d’instruments financiers ''etc. anerkannt sind. Börsen im materiellen Sinne sind Märkte, welche die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen, um als Börse genehmigt oder registriert zu werden.
== 2. Rechtseinheit statt ‑reform: Erste Kommission und Erster Entwurf ==
Am 28.2.1874 setzte der Bundesrat eine Vorkommission ein, die Plan und Methode der Gesetzgebungsarbeiten vorschlagen sollte. Damit wurden die politischen Parteien von der Vorbereitung des Gesetzes zunächst ausgeschlossen. Mitglieder der Vorkommission waren ''Levin Goldschmidt'', ''Franz Philipp von Kübel'', ''Anton von Weber'', ''Ludwig Ritter von Neumayr'' und ''Hermann von Schelling''. In ihrem vom Bundesrat gebilligten Kommissionsgutachten vom 15.4.1874 stellten sie der einzusetzenden Kommission die Aufgaben, (1) das gesamte im Reich geltende Privatrecht darzustellen, mit Rücksicht auf seine „Zweckmäßigkeit, innere Wahrheit und folgerichtige Durchführung“, (2) Abweichungen vom Gemeinen Recht kritisch zu hinterfragen, sowie (3) auf „richtige Formgebung und Anordnung“ besonderen Wert zu legen. Es ging also primär um Rechtseinheit auf Basis des gemeinen Rechts ([[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']]) und um Rechtstechnik. Dabei bestimmte die Konkurrenz der Einzelstaaten das Verfahren. Folglich orientierte sich die Zusammensetzung der Ersten Kommission zunächst an landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten: ''Reinhold Johow'' (Preußen), ''Gottlieb Planck'' (Preußen), ''Karl Kurlbaum'' (Preußen), ''Albert Gebhard'' (Baden), ''Franz Philipp von Kübel'' (Württemberg), ''Gottfried von Schmitt'' (Bayern), ''Gustav Derscheid'' (Rheinprovinz), ''Anton von Weber'' (Sachsen). Daneben berief man zwei bekannte Wissenschaftler, den Germanisten ''Paul von Roth'' und den Pandektisten ''Bernhard Windscheid'', der 1883 jedoch ausschied. Den Vorsitz übernahm der Präsident des Reichsoberhandelsgerichts ''Eduard Pape''. Beratungsgrundlage waren Teilvorlagen, die ''Gebhard ''für den [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]], ''Johow'' für das Sachenrecht, ''Planck ''für das Familienrecht und ''von Schmitt'' für das [[Erbrecht]] erstellten. Die Teilvorlage für das Schuldrecht blieb infolge des Todes ''von Kübels'' im Jahr 1884 unvollendet. Beratungsgrundlage im Schuldrecht wurde daher hilfsweise der Dresdner Entwurf eines Obligationenrechts (1866), den ''von Kübel'' maßgeblich miterarbeitet hatte. Ab 1881 wurden die Teilentwürfe in der Kommission beraten, wobei neben dem in seiner Wirksamkeit bisweilen überschätzten ''Windscheid'' vor allem ''Pape'' bestimmenden Einfluss nahm. Im Frühjahr 1888 wurde der Erste Entwurf publiziert. Da Protokolle der Beratungen nicht publiziert werden sollten, veröffentlichte man den Entwurf zusammen mit den Motiven, die die „Hilfsarbeiter“ der Kommission ausgearbeitet hatten. Die Kommission hat diese Motive nicht im Einzelnen überprüft und autorisiert, sodass ihr Quellenwert zweifelhaft ist.


Das neue deutsche Börsengesetz (16.7.2007) enthält erstmals eine Definition der Börse: „Börsen sind teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die nach Maßgabe dieses Gesetzes multilaterale Systeme regeln und überwachen, welche die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Wirtschaftsgütern und Rechten innerhalb des Systems nach festgelegten Bestimmungen in einer Weise zusammenbringen oder das Zusammenbringen fördern, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Handelsobjekte führt.“ (§ 2 Abs. 1). Die Begriffsbestimmung beschreibt zutreffend die Kernfunktion der Börsen, die Veranstaltung und Regulierung eines Marktes für vertretbare Gegenstände (s.o. 1.). Für die Rechtsanwendung bringt die Definition jedoch keine Vorteile, weil sie nicht zwischen formellem und materiellem Börsenbegriff unterscheidet, sondern die Rechtsfolgen der Genehmigung (z.B. Teilrechtsfähigkeit) mit ihren Voraussetzungen (z.B. Vertragsschluss innerhalb des Systems) vermengt (von den Entwurfsverfassern gesehen: BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1. 2007, 81).
== 3. Kritik am Ersten Entwurf ==
Die Erste Kommission hielt sich getreu an den ihr aufgegebenen Arbeitsplan und legte keine Reformkodifikation vor. Neben der starken Orientierung an den Lehren der Pandektistik ([[Pandektensystem]]) führte auch die Berücksichtigung der partikularen liberalen Sondergesetzgebung, die etwa in Preußen unter dem Justizminister ''Adolph Leonhardt'' seit 1868 vorangetrieben worden war, zu einer starken Betonung der Privatautonomie ([[Vertragsfreiheit]]) im Entwurf. Seit dem Ende der 1870er Jahre hatte sich das Umfeldklima jedoch geändert. Infolge der wirtschaftlichen Krisen hatte Bismarcks konservative Wende (1878/1879) die Bedeutung staatlicher Sozialpolitik in den Blick gerückt. Die Betonung der Privatautonomie im Entwurf wurde zu einem der zentralen Kritikpunkte in der nun einsetzenden Flut von über 700 vom Reichsjustizamt zusammengetragenen Kritiken am Ersten Entwurf. Vor allem ''Otto von Gierke'' forderte in wuchtiger und wirkungsreicher Rhetorik „einen Tropfen socialistischen Oeles“ in der Kodifikation. Er verfestigte das in den 1850er Jahren insbesondere von Nationalökonomen geprägte Bild vom „unsozialen“ [[römisches Recht|römischen Recht]]. Vielfache Kritik fand auch die hohe Technizität des Entwurfs, mit ausgeklügelter Verweistechnik und abstrakter Begrifflichkeit. Die alte Forderung nach „Volksthümlichkeit“ spiegelte einen Wandel der Sprachebenen: Hatte man vor 1871 nationales Recht ohne Staat konstruieren müssen und hierzu in einer sich autonom gerierenden Wissenschaft Halt gesucht, dekonstruierte man dogmatische Argumente nun als kaschierte Politik. An die Stelle der im Gemeinen Recht drängenden Suche nach Rechtssicherheit durch Wissenschaftlichkeit trat die Angst vor der „Gefängniszelle“ des BGB.


== 3. Geschichte ==
Mit dem Erscheinen des Ersten Entwurfs geriet das Gesetz auch in den Blick verschiedener Interessenverbände. Besonders über das Preußische Landes-Ökonomie-Kollegium nahmen landwirtschaftliche Interessenverbände Einfluss. Handel und Gewerbe artikulierten sich über die Handelskammern und den Handelstag. Der sozialkonservativ gefasste Familienrechtsentwurf ''Plancks'' fand seitens der erstarkenden Frauenbewegung Kritik. Die Uneinigkeit innerhalb dieser Interessengruppen ließ ihren Einfluss insgesamt aber gering ausfallen.
Die Bestimmung des Anfangs des Börsenwesens ist untrennbar mit der Frage verbunden, was die gegenüber Märkten und Messen charakteristischen Unterscheidungsmerkmale der Börsen sind.


Gemeinsame Handelstreffpunkte gibt es seit dem Beginn der Zivilisation, denn der Markt ist eine naheliegende Einrichtung des ''ζῷον πολιτικόν'' (''zóon politikón''). Aber selbst auf dem Höhepunkt der antiken Wirtschaft hat es keine Börsen, also keine Marktveranstaltungen mit standardisierten Handelsobjekten und Handelsabläufen gegeben. Noch heute weitverbreitete Aussagen gegenteiligen Inhalts beruhen auf einer unreflektierten Übernahme von Formulierungen aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, als der Begriff der Börse noch wenig typisiert war.
Die Kommission wurde insbesondere von ''Planck'' gegen die Vorwürfe verteidigt. Für das Familienrecht betonte er seinen sozialkonservativen Standpunkt. Mit Blick auf das Vermögensrecht machte er deutlich, dass mit der Betonung eines liberal formulierten Zivilgesetzbuches nicht ein Verzicht auf den Schutz des Schwächeren einhergehen solle. ''Planck'' verwies auf die Schwierigkeiten, Schwäche und Stärke gesetzestechnisch trennscharf zu formulieren. Mit seinem Hinweis auf die zudem bestehende Möglichkeit der Intervention durch Spezialgesetze machte er die politische Semantik deutlich, die der Kommission vorschwebte: Der Entwurf formulierte Privatautonomie als Ausgangspunkt und verwies Korrekturen auf Spezialgesetze. Demgegenüber löste etwa ''von Gierke'' diesen Freiheitsvorrang in einer Abwägungslösung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft auf. Hier wurden verschiedene Gesellschaftsentwürfe deutlich, die in einer Zivilrechtskodifikation als Verfassungsersatz abgesichert werden sollten.


Die Börsen als Veranstalter eines standardisierten Handels sind ein Kind der Neuzeit. Die erste „Gründungswelle“ ausgangs des Mittelalters bzw. eingangs der Frühneuzeit geht auf die Initiative der Händler zurück, etwa in Brügge (1409), Antwerpen (1460), Amsterdam (1530), Köln (1553), Hamburg (1558) oder Frankfurt am Main (1585). Die zweite Gruppe von Börsen wurde als Instrument der merkantilistischen Wirtschaftspolitik gegründet, namentlich in Paris (1724), Berlin (1739) und Wien (1771). Als drittes und letztes kam es als Ausdruck und Folge der Industrialisierung zur Bildung neuer Börsen, vor allem der ''London Stock Exchange'' (1773) und der ''New York Stock Exchange'' (1792).
== 4. Zweiter Entwurf und Zustandekommen des Gesetzes ==
Bei aller Kritik wurde die Tauglichkeit des Entwurfs als Arbeitsgrundlage für die Zivilrechtskodifikation überwiegend anerkannt. Die Steuerung des Gesetzgebungsverfahrens ging nun maßgeblich vom Reichsjustizamt aus, das auf die Besetzung der Zweiten Kommission, aber auch Form und Inhalt des Gesetzes starken Einfluss nahm. In den 25 Mitgliedern der Zweiten Kommission waren Reichsjustizamt und Bundesregierung, die großen Parteien (mit Ausnahme der Sozialdemokraten), die Großagrarier, der Handel, christliche Konfessionen und Judentum, die Nationalökonomie und die Rechtswissenschaft vertreten. Einflussreich waren neben dem Generalreferenten ''Planck'' die drei Reichskommissare ''Alexander Achilles'', ''Karl Heinrich Börner'' und ''Hermann Struckmann'' sowie der bayerische Regierungsvertreter ''Karl Jacubezky''. Mit dem ehemaligen Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Reichsamtes des Innern ''Robert Bosse'' war die stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Forderungen sichergestellt. In vielen Einzelbestimmungen wurde nun der Schutz des Schwächeren berücksichtigt, etwa in zusätzlichen Formvorschriften ([[Formerfordernisse]]), in Missbrauchsklauseln ([[Rechtsmissbrauch]]) (§§ 226, 826, 1353 Abs. 2, 1354 Abs. 2 BGB) oder der arbeitsschutzrechtlichen ([[Arbeitsschutz]]) Pioniervorschrift des späteren § 618 BGB. Wie stark der öffentliche Druck war, machte die Einfügung des Grundsatzes „Kauf bricht nicht Miete“ (§ 571 BGB) deutlich, obwohl angesichts der Praxis extrem kurzer Zeitmietverträge und vieler außerordentlicher Kündigungsrechte kaum praktische Bedeutung zu erwarten war. Daneben setzte die Kommission auf die bewährten Möglichkeiten der richterlichen Einzelfallkontrolle anhand unbestimmter Maßstäbe wie gute Sitten ([[Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen]]) (''boni mores'') oder [[Treu und Glauben]] (''bona fides'') sowie die begleitende Fortbildung des Rechts durch die [[Rechtswissenschaft]]. Mit dem Abzahlungsgesetz von 1894 wurde parallel der Weg der Sondergesetzgebung beschritten. Radikalere Reformen wurden vom Reichsjustizamt blockiert, weil man im dann zu erwartenden Parteienstreit das Projekt insgesamt gefährdet sah. Im Herbst 1895 wurde der überarbeitete Entwurf dem Bundesrat vorgelegt, dessen Justizausschuss einige rechtspolitisch heikle Fragen wie Vereinsrecht und Eherecht diskutierte und den Entwurf im Januar 1896 dem Reichstag überwies, der nach zweitägiger Generaldebatte die XII. Kommission mit Einzelfragen befasste. Von den 21 Abgeordneten stellte das Zentrum mit sechs Abgeordneten die größte Gruppe. Im Ergebnis wurden insbesondere Forderungen des Zentrums und der Sozialdemokraten eingearbeitet, so im Vereins-, [[Dienst(leistungs)vertrag|Dienstvertrag]]s- und Familienrecht. Erst durch einen auf das Vereins- und Eherecht bezogenen Kompromiss zwischen Preußen, den Nationalliberalen, dem Zentrum und der Reichspartei konnte das Gesetz am 1.7.1896 gegen die Stimmen der Sozialdemokraten verabschiedete werden. Das vom Bundesrat gebilligte Gesetz wurde am 24.8.1896 publiziert (RGBl. 1896, 195 ff.). 1897/1898 wurden das HGB, die Reichsjustizgesetze, die Grundbuchordnung, das Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit und das Zwangsversteigerungsgesetz angepasst. Das BGB trat am 1.1.1900 in Kraft.


== 4. Recht ==
== 5. Aufbau und Grundentscheidungen ==
Fast alle Vorschriften des Börsenrechts sind dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Sie betreffen die Erlaubnis zum Betreiben einer Börse, die Organisationsverfassung der Börsen, den Ablauf des Handels oder die Zulassung von Handelsgegenständen und Händlern. Genuin privatrechtliche Regelungen, wie sie im Mittelpunkt dieses Handbuches stehen, enthalten lediglich die Handelsbedingungen (Geschäftsbedingungen/ Börsenusancen), die von Börsenorganen oder börsennahen Kommission veröffentlicht werden.
Im Aufbau folgt das BGB dem auf ''Gustav Hugo'' und ''Georg Arnold Heise'' zurückgehenden [[Pandektensystem]], das sich im 19. Jahrhundert als Ordnungsschema der Pandektenlehrbücher durchgesetzt hatte. Der vorangestellte [[Allgemeiner Teil|Allgemeine Teil]] wurde in Anlehnung an die alte Institutionenanordnung nach Personen, Sachen, Rechtsgeschäften geordnet. Mit dem [[Rechtsgeschäft]] als Schlüsselbegriff wurde die zentrale Stellung der Privatautonomie ([[Vertragsfreiheit]]) hervorgehoben. Hinzu kam in § 1 die Herausstellung der Allgemeinen Rechtsfähigkeit. Abweichend vom Pandektensystem stellte die Erste Kommission das Schuldrecht vor das Sachenrecht. Darin sollte, neben gesetzgebungstechnischen Gründen, auch eine seit 1800 gewandelte Bedeutungshierarchie ausgedrückt werden. Sachenrecht hatte zu Beginn des Jahrhunderts mit seinem [[Eigentumsschutz]] die individualrechtsschützende Aufgabe des Zivilrechts betont. Nun trat mit der Freisetzung der Warenverkehrsgesellschaft die auf Rechtsveränderung abzielende Aufgabe des Schuldrechts in den Vordergrund. Sachenrecht erschien nun primär als Mittel der Kreditbeschaffung und wurde in eine dem Schuldrecht nachgeordnete Position geschoben.


=== a) Funktion des Börsenrechts ===
Im Vereinsrecht setzte sich erst nach langen Diskussionen das Normativsystem ([[Koalitions- und Vereinigungsfreiheit]]) durch. Das Schuldrecht stellt in § 242 Treu und Glauben (die ''bona fides'') und damit gleichermaßen Vertragstreuepflichten wie richterliche Einflussmöglichkeiten voran. Im [[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]] entschied man sich gegen das zunächst geplante französische Vorbild für ein System dreier kleiner Generalklauseln (§§ 823 Abs. 1, 2; 826) und lehnte damit eine Haftung für fahrlässig herbeigeführte Vermögensschäden ab. Die Haftung für Gehilfen wurde außerhalb von Rechtsgeschäften eingeschränkt (§ 831 BGB). Im Immobiliarrecht standen der Schutz des Rechtsverkehrs ([[Publizität]]) und die Kreditsicherung ([[Immobiliarsicherheiten (Eurohypothek)|Immobiliarsicherheiten]]) durch Real- und Personalkredit im Blickpunkt. Im Mobiliarsachenrecht übernahm das Gesetz vom [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]] den gutgläubigen Erwerb ([[Erwerb vom Nichtberechtigten]]) und stellte an die Ersitzung strenge Anforderungen. Im Familienrecht fanden sich etwa in erschwerten Scheidungsvoraussetzungen und der Schlechterstellung nichtehelicher Kinder sozialkonservative Züge. Andererseits wurde die Rechtsstellung der Frau verbessert. Im Erbrecht wurde der [[Testierfreiheit]] starker Raum gewährt. Viele Neuerungen wurden durch großzügige Übergangsregeln und Sonderreglungen im EGBGB abgemildert.
Aus der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Börsen erklärt sich das öffentliche Interesse am Börsenwesen. Dieses Interesse muss nicht notwendigerweise zum Erlass von Börsengesetzen führen. Denn politische Entscheidungsträger mit realistischer Selbsteinschätzung werden eher den Börsen als sich selbst zutrauen, eine sinnvolle Organisationsstruktur zu finden und sachgerechte Handelsregeln aufzustellen.


Die Skandale, die sich an den Börsen und in ihrem Umfeld in steter Regelmäßigkeit ereignen, haben in der Öffentlichkeit jedoch zu so deutlichen Forderungen nach einer Regulierung des Börsenwesens geführt, dass heute alle entwickelten Jurisdiktionen über ein umfangreiches Regelungsregime verfügen. Grundlage hierfür ist in Deutschland das Börsengesetz, im Vereinigten Königreich der achtzehnte Teil des ''Financial Services and Markets Act 2000'' und in Frankreich der zweite Titel des vierten Buches des ''Code monétaire et financier''.
== 6. Ein ungeliebtes Gesetzbuch ==
Das BGB galt, mit Ausnahme des Familienrechts, weitgehend unverändert im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und in der DDR (bis 1976). Vor dem Hintergrund dieser nachgewiesenen Anpassungsfähigkeit verwundert das klare rechtspolitische Urteil, das sein Bild im 20. Jahrhundert begleitete: Es blieb das Bild des „begriffsjuristischen“ (Begriffsjurisprudenz), „liberalistischen“, „unsozialen“, „individualistischen“ Gesetzbuches vorherrschend. Besonders die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen nach 1918 förderten irrationale und nationalistische Denkweisen und verstärkten den Widerwillen gegen ein rationales und liberales Zivilgesetz. Die Marktgesetze trafen nun auch den zuvor stabilisierenden Mittelstand und mobilisierten „soziale“ Forderungen in breiten Kreisen gegen das Gesetz. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Kritik am „undeutsch-römischen“ Gesetz zudem antisemitisch unterfüttert, indem, unter diffusem Rückgriff auf die Entstehung der justinianischen Kompilation in Ostrom, starke jüdische Prägungen des antiken Rechts behauptet wurden. Über Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920, der das [[römisches Recht|römische Recht]] durch ein „deutsches Gemeinrecht“ ersetzen wollte, zogen sich diese Vorwürfe in die scharfe Kritik, der das BGB während des Nationalsozialismus in inhaltlicher und aufbautechnischer Hinsicht ausgesetzt war. Die Versuche, das BGB durch Einzelgesetzgebung oder ein sog. Volksgesetzbuch zu ersetzen, hatten keinen Erfolg. Nach 1945 führte vor allem ''Franz Wieacker ''das Bild vom „unsozialen“, „formalistischen“ BGB wirkungsreich fort und sprach vom „spätgeborenen Kind der Pandektenwissenschaft und der … vom Liberalismus angeführten Bewegung seit 1848“, das in seinem „Sozialmodell“ das „besitzende Bürgertum“ bevorteilt habe. Das BGB blieb im 20. Jahrhundert ein ungeliebtes Gesetzbuch, wie noch 1996 bzw. 2000 die schwache Beachtung und wenig emphatische Würdigung seines hunjährigen Jubiläums zeigten.


=== b) Entwicklung des Börsenrechts ===
Nach 1949 übernahm das alsbald „drittwirkende“ Grundgesetz die „soziale“ Steuerung des Privatrechts. Die Vorwürfe gegen das BGB verloren damit zunehmend ihre praktische Relevanz. Im nun stärker historisierenden Blick fanden jedoch erst seit den 1980er Jahren viele rückprojizierende Zerrbilder zunehmend Widerspruch, der erst langsam über die engere Rechtsgeschichtsschreibung hinaus Aufmerksamkeit findet: Das BGB orientierte sich nicht an den Besitzbürgern, sondern an der rechtlich gleichen Freiheit aller Privatrechtssubjekte. Mit der Entscheidung für eine Betonung der Privatautonomie und für Korrekturen durch Sondergesetze sprach man sich lediglich für ein ''in dubio pro libertate'' aus, nicht für den „freien Fuchs im freien Hühnerstall“. Beachtung hat gefunden, dass auch ''Max Weber'' wie das Kommissionsmitglied ''Gottlieb Planck'' mit guten Gründen vor den Rationalitätsverlusten warnte, die einer Privatrechtsordnung drohen, die nicht Rechtsgleichheit, sondern Sonderinteressen zum Ausgangspunkt nimmt.  
Das Börsenrecht als abstrakt-generelle Regelung des Handels an der Börse (Börsenhandelsrecht) und der Organisation der Börse (Börsenorganisationsrecht) ist ein vergleichsweise junges Rechtsgebiet. Der ''[[Code de Commerce]] ''(15.9. 1807) enthielt in seinem Abschnitt ''des Bourses de commerce ''nur einige wenige börsenrechtliche Vorschriften mit geringer Regelungsrelevanz (Art. 71-73). Der Entwurf eines [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches]] (ADHGB) (12.3.1861) sah gar keine Bestimmungen über Börsen vor. Wegen vereinzelter Verweise auf den „Börsenpreis“ (z.B. in Art. 343, 353, 376 ADHGB) erließen aber einige deutsche Partikularstaaten Regelungen zur Errichtung, Genehmigung und Beaufsichtigung von Börsen (so Preußen in seinem Einführungsgesetz vom 24.6.1861, Art. 3). Erst das auf Reichsebene erlassene Börsengesetz (22.6.1896) führte ausgangs des 19. Jahrhunderts zu detaillierten Vorgaben. Noch später war die Entwicklung im Vereinigten Königreich, wo das Börsenwesen erst vor zwei Jahrzehnten gesetzlich geregelt wurde (''Financial Services Act 1986'').


Das Börsenrecht hat den Zenit seiner Bedeutung überschritten und wird heute nur noch als Teil des [[Kapitalmarktrecht]]s verstanden. Besonders anschaulich ist der Paradigmenwechsel in Deutschland: Bereits kurz nach seinem Inkrafttreten verlor das Börsengesetz den Abschnitt über den kommissionsrechtlichen Selbsteintritt 1900 an das Handelsgesetzbuch; die börsengesetzliche Regelung der ''ad hoc''-Publizität wurde bei der Einführung des Wertpapierhandelsgesetzes im Jahre 1994 aufgegeben; mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz wurde 2002 das Recht der Termingeschäfte und damit der seit Anbeginn umstrittenste Teil des Börsengesetzes in das Wertpapierhandelsgesetz überführt; letzter wichtiger Verlust sind die 2007 nicht ins neue Börsengesetz übernommenen Vorschriften über außerbörsliche Handelssysteme. Heute ist das Börsengesetz ein Rumpfgesetz, dessen Existenz sich allein historisch erklären lässt. Wie die deutsche Zukunft aussehen könnte, haben das Vereinigte Königreich und Frankreich bereits vorgezeichnet, indem sie den Betrieb von Börsen im ''Financial Services and Markets Act 2000 ''(sec. 285-313) bzw. im ''Code monétaire et financier ''(Art. L 421-426) als eine Finanzdienstleistung unter vielen regeln ([[Aufsicht über Finanzdienstleistungen]]).
Zudem erweist sich das überkommene Bild vielfach als stark überspitzt. Ein schrankenloser „Willensformalismus“ entsprach weder dem Konzept der Pandektistik, noch dem des BGB-Gesetzgebers. Es ging in grundrechtsloser Zeit um einen gesicherten Freiheitsraum gegen den Staat. Freiheit als Chance, nicht als Risiko, bestimmte den Blick. Mögliche Missbräuche wurden immer gesehen. Bewußt wurde, etwa über die bona fides, richterliche Einzelfallkorrektur zugelassen. Als die Zweite Kommission Wissenschaft und Rechtsprechung viel Freiraum gewährte, stand ihr überhaupt die überkommene Selbstverständlichkeit vor Augen, mit der die Justiz Zivilgesetze bereits vor 1900 dem Einzelfall und auch überkommenen Rechtsprechungstraditionen unterworfen hatte. Ganz im Sinne der BGB-Verfasser erwies sich die Rechtsprechung von Anfang an als aktiver Gestaltungsfaktor des Privatrechts. Dies wurde lange unter dem historiographischen Bild einer „Materialisierung“ (erst) seit Weimar verschüttet. Vergessen wurde daneben das Kommissionskonzept eines Zusammenspiels zwischen liberaler Kernkodifikation und korrigierenden Sondergesetzen gleichermaßen wie die Tatsache, wie sehr vor allem die Zweite Kommission eben doch oft neuartige Schutzvorschriften aufnahm. Auch wenn insgesamt eine radikale sozialpolitische Reform durch das BGB vermieden wurde, an der das Projekt wahrscheinlich auch im Parteienstreit gescheitert wäre, leitete doch bereits die Zweite Kommission einen Wandel in der Gesetzgebungspolitik hin zur staatlichen Intervention ein. Insofern kann man das BGB durchaus als „erste moderne sozialpolitisch beeinflusste Kodifikation“ (''Werner Schubert'') bezeichnen.


== 5. Rechtsvereinheitlichung ==
== 7. Das BGB und die Entwicklung des Bürgerlichen Rechts im 20. Jahrhundert ==
Die europäische Rechtsvereinheitlichung ist im [[Kapitalmarktrecht]] weit fortgeschritten; es gibt kaum deutsches Kapitalmarktrecht, das keine europäische Grundlage hat. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Börsenrecht, das auf europäischer Ebene lediglich in ausgewählten Fragen geregelt wird.
Während vor 1933 nur 29 Paragrafen des BGB verändert worden waren, kam es im Nationalsozialismus bereits zu knapp 300 Gesetzesänderungen im BGB, vor allem im Familien- und Erbrecht. Die wandelnden Leitbilder im Familienrecht haben inzwischen zur einer fast völligen Umgestaltung des 4. Buchs des BGB geführt. Die Privatautonomie sah sich im 20. Jahrhundert weitreichender Staatsintervention ausgesetzt. Im Arbeitsrecht verloren die Regelungen des Dienstvertrages durch eine Fülle von Sondergesetzen an Bedeutung. Im Mietrecht traten an die Seite vieler korrigierender Sondergesetze nach 1945 auch stärker Eingriffe in den BGB-Wortlaut selbst. Primär auf Einflüsse der [[Europäische Union|EU]] lassen sich die vielfältigen Verbraucherschutznormen zurückführen, die 2001, zusammen mit der von der Rechtsprechung entwickelten Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, im Rahmen einer großen Reform des BGB-Schuldrechts weitgehend in das Gesetz integriert wurden.  


=== a) Vereinheitlichung des Börsenrechts im weiteren Sinne ===
Nach 1933 kam es in Deutschland zur Vorherrschaft der (erst nach 1945 sog.) Wertungsjurisprudenz, die das Gesetz anhand einer höherstufigen – zu diesem Zeitpunkt „völkischen“ – Rechtsordnung uminterpretierte. Die hierfür verwendeten Generalklauseln des BGB (§§ 138, 157, 242, 826 BGB) wurden auch nach 1949 dazu genutzt, das BGB nun am Grundgesetz (Theorie der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte) und anderen Leitwerten (z.B. Vertrauensschutz) auszurichten. An die Stelle älterer dogmatischer Schlusstechniken treten seitdem immer stärker abwägende Methoden, die konkurrierende Prinzipien erst am zu entscheidenden Einzelfall hierarchisieren und sich so bindender dogmatischer Rationalisierung entziehen. Das deutsche Zivilrecht der Gegenwart wird daher zunehmend vom Richterrecht geprägt.
Zum Börsenrecht im weiteren Sinne, das nach heutigem Verständnis Kapitalmarktrecht darstellt, gab es vier zentrale Richtlinien:
 
a) die RL 79/279 vom 5.3.1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse (sog. Börsenzulassungs-RL);
 
b) die RL 80/390 vom 17.3.1980 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, die Kontrolle und die Verbreitung des Prospekts, der für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zu veröffentlichen ist (sog. Börsenzulassungsprospekt-RL);
 
c) die RL 82/121 vom 15.2.1982 über regelmäßige Informationen, die von Gesellschaften zu veröffentlichen sind, deren Aktien zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zugelassen sind (sog. Zwischenberichts-RL); und
 
d) die RL 88/627 vom 12.12.1988 über die bei Erwerb und Veräußerung einer bedeutenden Beteiligung an einer börsennotierten Gesellschaft zu veröffentlichenden Informationen (damals sog. Transparenz-RL).
 
Die vier Richtlinien wurden anfangs des Jahrzehnts in der RL 2001/34 vom 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen zusammengefasst (hier sog. Börsennotierungs-RL). Diese Richtlinie wurde zwischenzeitlich mit der RL 2004/109 vom 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind (sog. Transparenz-RL), wesentlich geändert.
 
Ziel all dieser Rechtsakte ist es, die Transparenz an den europäischen Kapitalmärkten zu erhöhen und so die Rahmenbedingungen für das Entstehen eines europäischen Kapitalmarktes (Wertpapier-/Finanzmarktes) zu verbessern ([[Kapitalmarktrecht]]). Aus politischen Gründen sind die Märkte freilich vor einer Mindestharmonisierung des Kapitalmarktrechts und seiner Durchsetzung geöffnet worden, ist also der zweite Schritt vor dem ersten vollzogen worden, indem die Mitgliedstaaten zur Zulassung andernorts anerkannter Finanzinstrumente gezwungen wurden ([[Europäischer Pass]]).
 
Der Sicherstellung einer marktgerechten Preisbildung an den Börsen dient die RL 2003/6 vom 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (sog. Marktmissbrauchs-RL), welche die RL 89/592 vom 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte (sog. Insider-RL) abgelöst hat ([[Insidergeschäft]]; [[Marktmanipulation]]).
 
=== b) Vereinheitlichung des Börsenrechts im engeren Sinne ===
Die bisher genannten Richtlinien betreffen das Umfeld des Börsenhandels, insbesondere die gehandelten Finanzinstrumente, aber nicht die Verfassung der Börsen selbst. Vorgaben für ihre Organisation und Struktur enthält die RL 2004/39 vom 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente (sog. Finanzmarkt-RL; auch im deutschsprachigen Raum nach der englischen Bezeichnung verbreitet als „MiFID“ abgekürzt). Nach einer Dekade löste sie die RL 93/22 vom 10.5. 1993 über Wertpapierdienstleistungen (sog. Wertpapierdienstleistungs-RL) ab (näher: [[Märkte für Finanzinstrumente]]). Die Finanzmarkt-RL (zuletzt geändert durch die RL 2007/44 vom 5.9.2007) wird durch eine Verordnung (VO 1287/2006 vom 10.8.2006) und eine Richtlinie (RL 2006/73 vom 10.8.2006) ergänzt.
 
Ausgangspunkt der Vorschriften der Finanzmarkt-RL ist der Begriff des „geregelten Marktes“ (Art. 4(1) Nr. 14), der über die Richtlinie hinaus ein zentraler Anknüpfungspunkt des Europäischen Kapitalmarktrechts ist, namentlich in der Marktmissbrauchs-RL (Art. 9(1)), in der Prospekt-RL (RL 2003/71 vom 4.11.2003, Art. 1(1)), in der Transparenz-RL (Art. 1(1)), in der Übernahme-RL (RL 2004/25 vom 21.4.2004, Art. 1(1)) und in der Aktionärsrechte-RL (RL 2007/36 vom 11.7.2007, Art. 1(1)). Im Dritten Titel enthält die Finanzmarkt-RL Vorschriften über geregelte Märkte (Art. 36-47), die im weiteren Verlauf um Bestimmungen zur behördlichen Aufsicht ergänzt werden (insb. Art. 48-55). Die Mitgliedstaaten dürfen nur solche Handelssysteme als geregelte Märkte zulassen, welche den Anforderungen der Finanzmarkt-RL genügen (Art. 36(1)). Entsprechend finden sich im novellierten deutschen Börsengesetz unzählige Neuerungen, die in der Begründung des zugehörigen Entwurfs (BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1.2007) mit den Vorgaben der Finanzmarkt-RL erklärt werden; auf den knapp elf Seiten der Bundestagsdrucksache (79-89) wird nicht weniger als 91 mal das Wort „Finanzmarktrichtlinie“ verwendet.
 
Der deutsche Gesetzgeber hat den Begriff des „geregelten Marktes“ nicht übernommen, sondern spricht statt dessen vom „organisierten Markt“ (legaldefiniert in § 2 Abs. 5 WpHG). Hiermit sollte eine Verwechselung mit dem vor zwei Jahrzehnten (Gesetz vom 16.12.1986, Art. 1) eingeführten „geregelten Markt“ als zweitem Börsensegment neben dem amtlichen Markt (damals: amtliche Notierung) vermieden werden. Das novellierte deutsche Börsengesetz hat den geregelten Markt und den amtlichen Markt nunmehr zusammengefasst und nennt das öffentlich reglementierte Marktsegment an einem organisierten Markt „regulierter Markt“.
 
== 6. Aktuelle Herausforderungen ==
Versteckt in den zahlreichen Einzelvorgaben der Finanzmarkt-RL wird unter der Überschrift „Organisatorische Anforderungen“ die derzeit größte Herausforderung der Börsenorganisation angesprochen: die Vermeidung von „Interessenkonflikten zwischen dem geregelten Markt, seinen Eigentümern oder seinem Betreiber und dem einwandfreien Funktionieren des geregelten Marktes“ (Art. 39(a)).
 
Hintergrund dieser [[Interessenkonflikte]] ist eine radikale tatsächliche Veränderung des Börsenwesens: die Umwandlung der Börsen von gildenartig verfassten, staatsnahen Vereinen in gewinnorientierte, international agierende [[Aktiengesellschaft]]en, deren Aktien selbst börsennotiert und breit im Publikum gestreut sind (''demutualization''). In Europa ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten, so dass heute alle wichtigen Börsen bzw. ihre Betreiber selbst börsennotiert sind. Eine regulatorische Herausforderung bereitet diese Entwicklung deshalb, weil die Gewinnorientierung der Börsen Anlass zu der Befürchtung gibt, dass sie sich bei der Wahrnehmung von Aufsichtsbefugnissen an deren finanziellen Auswirkungen orientieren könnten. Etwa könnten Marktbetreiber versucht sein, Bereiche stärker zu regulieren, in denen signifikante Strafen verhängt werden können, bzw. Gebiete zu vernachlässigen, in denen solche „Aufsichtserträge“ nicht möglich sind. Außerdem besteht die Gefahr, dass Börsen Wettbewerber strenger regulieren als verbundene Unternehmen oder sonst nahestehende Institutionen.
 
Bislang sind die Interessenkonflikte in keiner der führenden Jurisdiktionen zufriedenstellend gelöst worden. In Deutschland beschränkt sich das Börsengesetz darauf, den Börsenbetreiber zu verpflichten, zur Identifizierung und Vermeidung von Interessenkonflikten „Vorkehrungen zu treffen“ (§ 5 Abs. 4 Nr. 1). Im Vereinigten Königreich enthält das Handbuch der Aufsichtsbehörde einige konkrete Vorgaben zur Bewältigung der Interessenkonflikte (''FSA Handbook'', REC 2.5.10-2.5.16). Weniger deutlich sind die Regeln der französischen Aufsicht (''Règlement Général de l’Autorité des Marchés Financiers'', Art. 512-3-Art. 512-6); knapp wie das deutsche Börsengesetz ist der ''Code monétaire et financier'' (Art. L. 421-11 Abs. 1 Nr. 1).
 
== 7. Ausblick ==
Im Börsenrecht ist die europäische Rechtsvereinheitlichung weniger weit fortgeschritten als im übrigen Kapitalmarktrecht. Lange Zeit konzentrierten sich die Richtlinien auf die Verbesserung der Informationen über die an den Börsen gehandelten Finanzinstrumente. Erst mit der Finanzmarkt-RL wurden den Börsen bedeutsame organisatorische Vorgaben gemacht. Hiermit scheint die Entwicklung vorerst zu einem gewissen Abschluss gekommen zu sein: Nach dem Weißbuch (5.12.2005) der Europäischen Kommission zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005-2010 sind keine neuen Vorschriften über geregelte Märkte zu erwarten; im Vordergrund stehe die „dynamische Konsolidierung“. Die Erfahrung lässt allerdings vermuten, dass der ''status quo ''noch nicht das Ende der Rechtsentwicklung ist. Denn es wird auch in Zukunft zu bedeutenden tatsächlichen Änderungen im Börsenwesen kommen, auf welche die politischen Entscheidungsträger zur eigenen und öffentlichen Beruhigung mit neuen Regelungen reagieren werden. Nicht gesagt ist damit freilich, dass es neue ''börsen''rechtliche Vorschriften geben wird; wahrscheinlicher ist, dass das Börsenrecht im Recht der Finanzdienstleistungen aufgeht.


==Literatur==
==Literatur==
''Gunnar Schuster'', Die internationale Anwendung des Börsenrechts, 1996; ''Klaus J. Hopt'', ''Bernd Rudolph'', ''Harald Baum'' (Hg.), Börsenreform, 1997; ''Ruben Lee'', What is an exchange?, 1998; ''Siegfried Kümpel'', ''Horst Hammen'', Börsenrecht, 2. Aufl. 2003; ''Andreas M. Fleckner'', Stock Exchanges at the Crossroads, Fordham Law Review 74 (2006) 2541 ff.; ''Christoph Kumpan'', Die Regulierung außerbörslicher Wertpapierhandelssysteme im deutschen, europäischen und US-amerikanischen Recht, 2006; ''Michael Blair'', ''George Walker'' (Hg.), Financial Markets and Exchanges Law, 2007; ''Stavros Gadinis'', ''Howell E. Jackson'', Markets as Regulators: A Survey, Southern California Law Review 80 (2007) 1239 ff.; ''Alain Couret'', ''Hervé Le Nabasque'', Droit financier, 2008; ''Andreas M. Fleckner'','' Klaus J. Hopt'', Entwicklung des Börsenrechts, in: Handelskammer Hamburg (Hg.), Die Hamburger Börse 1558-2008, 2008, 249 ff.
''Franz Wieacker'', Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953; ''Rainer Schröder'', Abschaffung oder Reform des Erbrechts, 1981; ''Werner Schubert'', Das bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 1986, 11 ff.; ''Michael John'', Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany, 1989; ''Hans Schulte-Nölke'', Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1995; ''Thomas Vormbaum'' (Hg.), Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl. 1997; ''Dieter Schwab'', Das BGB und seine Kritiker, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000) 325 ff.; ''Tilman Repgen'', Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; ''Mathias Schmoeckel'', ''Joachim Rückert'', ''Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, Bd. 2, 2007; ''Rüdiger Hansel'', Jurisprudenz und Nationalökonomie, 2006.


==Quellen==
==Quellen==
Auswahl: ''Code de Commerce'' vom 10.-15.9.1807, Bulletin des lois No. 164, 161&nbsp;ff.; Entwurf eines allgemeinen deutschen Handelsgesetz-Buchs vom 12.3.1861: [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch]] (ADHGB); Einführungsgesetz zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch vom 24.6.1861, PreußGS 449&nbsp;ff. Börsengesetz vom 22.6.1896, RGBl. 157&nbsp;ff. ''Financial Services Act 1986''<nowiki> vom 7.11.1986, 1986 ch. 60. Gesetz zur Einführung eines neuen Marktabschnitts an den Wertpapierbörsen und zur Durchführung der Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 5. März 1979, vom 17. März 1980 und vom 15.2.1982 zur Koordinierung börsenrechtlicher Vorschriften (Börsenzulassungs-Gesetz) vom 16.12.1986, BGBl. I 2478&nbsp;ff. Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz) vom 21.6.2002, BGBl. I 2010&nbsp;ff. Weißbuch der Europäischen Kommission zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005-2010 vom 5.12.2005, abrufbar unter</nowiki> http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/white_paper/white_paper_de.pdf. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz), BR-Drucks. 833/06 vom 8.12.2006 = BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1.2007.
''Werner Schubert'' (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines BGB, 1980-1986; ''idem'', ''Horst Heinrich Jakobs'', Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 1978; Motive zu dem Entwurf eines BGB für das deutsche Reich, 6 Bde., 1888; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des BGB, 6 Bde., 1897/99; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB, 6 Bde., 1890/1891; Zusammenstellung der Äußerungen der Bundesregierung zu dem Entwurf eine BGB, 1891; ''Georg Maas'', Bibliographie des Bürgerlichen Rechts, 1899; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, IV.&nbsp;Session 1895/1897, 704&nbsp;ff., 2716&nbsp;ff., 3059&nbsp;ff., 1896; ''Benno Mugdan'', Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 5 Bde., 1899; weitere Quellen bei ''Georg Maas'', Bibliographie der amtlichen Materialien zum BGB, 1897; sämtliche Gesetzesänderungen 1900-2005 in ''Tilman Repgen'','' Hans Schulte-Nölke'','' Hans-Wolfgang Strätz'', BGB-Synopse 1896-2005, 2005.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Exchanges]]
[[en:Bürgerliches_Gesetzbuch_(BGB)]]

Version vom 8. September 2021, 12:06 Uhr

von Hans-Peter Haferkamp

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ist die Deutsche Zivilrechtskodifikation.

1. Politische Ausgangslage

Seit den Freiheitskriegen war die Herbeiführung der Rechtseinheit eine Hauptforderung des liberalen Bürgertums. Vor der deutschen Reichseinheit im Jahr 1871 fehlte diesen Forderungen jedoch der politische Unterbau. Lediglich im Wechsel- (ADWO 1849) und Handelsrecht (ADHGB 1861) gelang die Herstellung weitgehender nationaler Rechtseinheit. Träger des nationalen Rechts war zunächst die Rechtswissenschaft, die über eine am „heutigen“ römischen Recht orientierte einheitliche Juristenausbildung und die Abschottung durch ein streng wissenschaftliches Verfahren Autonomie von den (territorialen) politischen Instanzen einforderte. Rechtsvereinheitlichend wirkten vor Inkrafttreten des BGB am 1.1.1900 auch die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts (seit 1869) und des Reichsgerichts (seit 1879).

Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 sprach in Art. 4 Nr. 13 dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Obligationen- und Handelsrecht zu, nicht jedoch für das gesamte Zivilrecht. Politisch sah man im Bundesrat die Zivilrechtsvereinheitlichung anfangs nicht als vordringlich an und trieb zunächst die Vereinheitlichung des Straf- und Prozessrechts voran. Dies hing einerseits damit zusammen, dass man die Vereinheitlichung insbesondere des Erb- und Familienrechts für außerordentlich problematisch hielt. Andererseits bestand aber auch Uneinigkeit darüber, ob eine Privatrechtskodifikation (Kodifikation) überhaupt anzustreben sei, oder einzelne Spezialgesetze ausreichend seien. Erst 1873 einigte man sich im Bundesrat. Mit der nach den Antragstellern benannten lex Miquel/ Lasker (RGBl. 1873, 379) sprach der Reichstag dem Reich die Gesetzgebungskompetenz im Zivilrecht zu.

2. Rechtseinheit statt ‑reform: Erste Kommission und Erster Entwurf

Am 28.2.1874 setzte der Bundesrat eine Vorkommission ein, die Plan und Methode der Gesetzgebungsarbeiten vorschlagen sollte. Damit wurden die politischen Parteien von der Vorbereitung des Gesetzes zunächst ausgeschlossen. Mitglieder der Vorkommission waren Levin Goldschmidt, Franz Philipp von Kübel, Anton von Weber, Ludwig Ritter von Neumayr und Hermann von Schelling. In ihrem vom Bundesrat gebilligten Kommissionsgutachten vom 15.4.1874 stellten sie der einzusetzenden Kommission die Aufgaben, (1) das gesamte im Reich geltende Privatrecht darzustellen, mit Rücksicht auf seine „Zweckmäßigkeit, innere Wahrheit und folgerichtige Durchführung“, (2) Abweichungen vom Gemeinen Recht kritisch zu hinterfragen, sowie (3) auf „richtige Formgebung und Anordnung“ besonderen Wert zu legen. Es ging also primär um Rechtseinheit auf Basis des gemeinen Rechts (ius commune) und um Rechtstechnik. Dabei bestimmte die Konkurrenz der Einzelstaaten das Verfahren. Folglich orientierte sich die Zusammensetzung der Ersten Kommission zunächst an landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten: Reinhold Johow (Preußen), Gottlieb Planck (Preußen), Karl Kurlbaum (Preußen), Albert Gebhard (Baden), Franz Philipp von Kübel (Württemberg), Gottfried von Schmitt (Bayern), Gustav Derscheid (Rheinprovinz), Anton von Weber (Sachsen). Daneben berief man zwei bekannte Wissenschaftler, den Germanisten Paul von Roth und den Pandektisten Bernhard Windscheid, der 1883 jedoch ausschied. Den Vorsitz übernahm der Präsident des Reichsoberhandelsgerichts Eduard Pape. Beratungsgrundlage waren Teilvorlagen, die Gebhard für den Allgemeinen Teil, Johow für das Sachenrecht, Planck für das Familienrecht und von Schmitt für das Erbrecht erstellten. Die Teilvorlage für das Schuldrecht blieb infolge des Todes von Kübels im Jahr 1884 unvollendet. Beratungsgrundlage im Schuldrecht wurde daher hilfsweise der Dresdner Entwurf eines Obligationenrechts (1866), den von Kübel maßgeblich miterarbeitet hatte. Ab 1881 wurden die Teilentwürfe in der Kommission beraten, wobei neben dem in seiner Wirksamkeit bisweilen überschätzten Windscheid vor allem Pape bestimmenden Einfluss nahm. Im Frühjahr 1888 wurde der Erste Entwurf publiziert. Da Protokolle der Beratungen nicht publiziert werden sollten, veröffentlichte man den Entwurf zusammen mit den Motiven, die die „Hilfsarbeiter“ der Kommission ausgearbeitet hatten. Die Kommission hat diese Motive nicht im Einzelnen überprüft und autorisiert, sodass ihr Quellenwert zweifelhaft ist.

3. Kritik am Ersten Entwurf

Die Erste Kommission hielt sich getreu an den ihr aufgegebenen Arbeitsplan und legte keine Reformkodifikation vor. Neben der starken Orientierung an den Lehren der Pandektistik (Pandektensystem) führte auch die Berücksichtigung der partikularen liberalen Sondergesetzgebung, die etwa in Preußen unter dem Justizminister Adolph Leonhardt seit 1868 vorangetrieben worden war, zu einer starken Betonung der Privatautonomie (Vertragsfreiheit) im Entwurf. Seit dem Ende der 1870er Jahre hatte sich das Umfeldklima jedoch geändert. Infolge der wirtschaftlichen Krisen hatte Bismarcks konservative Wende (1878/1879) die Bedeutung staatlicher Sozialpolitik in den Blick gerückt. Die Betonung der Privatautonomie im Entwurf wurde zu einem der zentralen Kritikpunkte in der nun einsetzenden Flut von über 700 vom Reichsjustizamt zusammengetragenen Kritiken am Ersten Entwurf. Vor allem Otto von Gierke forderte in wuchtiger und wirkungsreicher Rhetorik „einen Tropfen socialistischen Oeles“ in der Kodifikation. Er verfestigte das in den 1850er Jahren insbesondere von Nationalökonomen geprägte Bild vom „unsozialen“ römischen Recht. Vielfache Kritik fand auch die hohe Technizität des Entwurfs, mit ausgeklügelter Verweistechnik und abstrakter Begrifflichkeit. Die alte Forderung nach „Volksthümlichkeit“ spiegelte einen Wandel der Sprachebenen: Hatte man vor 1871 nationales Recht ohne Staat konstruieren müssen und hierzu in einer sich autonom gerierenden Wissenschaft Halt gesucht, dekonstruierte man dogmatische Argumente nun als kaschierte Politik. An die Stelle der im Gemeinen Recht drängenden Suche nach Rechtssicherheit durch Wissenschaftlichkeit trat die Angst vor der „Gefängniszelle“ des BGB.

Mit dem Erscheinen des Ersten Entwurfs geriet das Gesetz auch in den Blick verschiedener Interessenverbände. Besonders über das Preußische Landes-Ökonomie-Kollegium nahmen landwirtschaftliche Interessenverbände Einfluss. Handel und Gewerbe artikulierten sich über die Handelskammern und den Handelstag. Der sozialkonservativ gefasste Familienrechtsentwurf Plancks fand seitens der erstarkenden Frauenbewegung Kritik. Die Uneinigkeit innerhalb dieser Interessengruppen ließ ihren Einfluss insgesamt aber gering ausfallen.

Die Kommission wurde insbesondere von Planck gegen die Vorwürfe verteidigt. Für das Familienrecht betonte er seinen sozialkonservativen Standpunkt. Mit Blick auf das Vermögensrecht machte er deutlich, dass mit der Betonung eines liberal formulierten Zivilgesetzbuches nicht ein Verzicht auf den Schutz des Schwächeren einhergehen solle. Planck verwies auf die Schwierigkeiten, Schwäche und Stärke gesetzestechnisch trennscharf zu formulieren. Mit seinem Hinweis auf die zudem bestehende Möglichkeit der Intervention durch Spezialgesetze machte er die politische Semantik deutlich, die der Kommission vorschwebte: Der Entwurf formulierte Privatautonomie als Ausgangspunkt und verwies Korrekturen auf Spezialgesetze. Demgegenüber löste etwa von Gierke diesen Freiheitsvorrang in einer Abwägungslösung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft auf. Hier wurden verschiedene Gesellschaftsentwürfe deutlich, die in einer Zivilrechtskodifikation als Verfassungsersatz abgesichert werden sollten.

4. Zweiter Entwurf und Zustandekommen des Gesetzes

Bei aller Kritik wurde die Tauglichkeit des Entwurfs als Arbeitsgrundlage für die Zivilrechtskodifikation überwiegend anerkannt. Die Steuerung des Gesetzgebungsverfahrens ging nun maßgeblich vom Reichsjustizamt aus, das auf die Besetzung der Zweiten Kommission, aber auch Form und Inhalt des Gesetzes starken Einfluss nahm. In den 25 Mitgliedern der Zweiten Kommission waren Reichsjustizamt und Bundesregierung, die großen Parteien (mit Ausnahme der Sozialdemokraten), die Großagrarier, der Handel, christliche Konfessionen und Judentum, die Nationalökonomie und die Rechtswissenschaft vertreten. Einflussreich waren neben dem Generalreferenten Planck die drei Reichskommissare Alexander Achilles, Karl Heinrich Börner und Hermann Struckmann sowie der bayerische Regierungsvertreter Karl Jacubezky. Mit dem ehemaligen Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Reichsamtes des Innern Robert Bosse war die stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Forderungen sichergestellt. In vielen Einzelbestimmungen wurde nun der Schutz des Schwächeren berücksichtigt, etwa in zusätzlichen Formvorschriften (Formerfordernisse), in Missbrauchsklauseln (Rechtsmissbrauch) (§§ 226, 826, 1353 Abs. 2, 1354 Abs. 2 BGB) oder der arbeitsschutzrechtlichen (Arbeitsschutz) Pioniervorschrift des späteren § 618 BGB. Wie stark der öffentliche Druck war, machte die Einfügung des Grundsatzes „Kauf bricht nicht Miete“ (§ 571 BGB) deutlich, obwohl angesichts der Praxis extrem kurzer Zeitmietverträge und vieler außerordentlicher Kündigungsrechte kaum praktische Bedeutung zu erwarten war. Daneben setzte die Kommission auf die bewährten Möglichkeiten der richterlichen Einzelfallkontrolle anhand unbestimmter Maßstäbe wie gute Sitten (Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen) (boni mores) oder Treu und Glauben (bona fides) sowie die begleitende Fortbildung des Rechts durch die Rechtswissenschaft. Mit dem Abzahlungsgesetz von 1894 wurde parallel der Weg der Sondergesetzgebung beschritten. Radikalere Reformen wurden vom Reichsjustizamt blockiert, weil man im dann zu erwartenden Parteienstreit das Projekt insgesamt gefährdet sah. Im Herbst 1895 wurde der überarbeitete Entwurf dem Bundesrat vorgelegt, dessen Justizausschuss einige rechtspolitisch heikle Fragen wie Vereinsrecht und Eherecht diskutierte und den Entwurf im Januar 1896 dem Reichstag überwies, der nach zweitägiger Generaldebatte die XII. Kommission mit Einzelfragen befasste. Von den 21 Abgeordneten stellte das Zentrum mit sechs Abgeordneten die größte Gruppe. Im Ergebnis wurden insbesondere Forderungen des Zentrums und der Sozialdemokraten eingearbeitet, so im Vereins-, Dienstvertrags- und Familienrecht. Erst durch einen auf das Vereins- und Eherecht bezogenen Kompromiss zwischen Preußen, den Nationalliberalen, dem Zentrum und der Reichspartei konnte das Gesetz am 1.7.1896 gegen die Stimmen der Sozialdemokraten verabschiedete werden. Das vom Bundesrat gebilligte Gesetz wurde am 24.8.1896 publiziert (RGBl. 1896, 195 ff.). 1897/1898 wurden das HGB, die Reichsjustizgesetze, die Grundbuchordnung, das Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit und das Zwangsversteigerungsgesetz angepasst. Das BGB trat am 1.1.1900 in Kraft.

5. Aufbau und Grundentscheidungen

Im Aufbau folgt das BGB dem auf Gustav Hugo und Georg Arnold Heise zurückgehenden Pandektensystem, das sich im 19. Jahrhundert als Ordnungsschema der Pandektenlehrbücher durchgesetzt hatte. Der vorangestellte Allgemeine Teil wurde in Anlehnung an die alte Institutionenanordnung nach Personen, Sachen, Rechtsgeschäften geordnet. Mit dem Rechtsgeschäft als Schlüsselbegriff wurde die zentrale Stellung der Privatautonomie (Vertragsfreiheit) hervorgehoben. Hinzu kam in § 1 die Herausstellung der Allgemeinen Rechtsfähigkeit. Abweichend vom Pandektensystem stellte die Erste Kommission das Schuldrecht vor das Sachenrecht. Darin sollte, neben gesetzgebungstechnischen Gründen, auch eine seit 1800 gewandelte Bedeutungshierarchie ausgedrückt werden. Sachenrecht hatte zu Beginn des Jahrhunderts mit seinem Eigentumsschutz die individualrechtsschützende Aufgabe des Zivilrechts betont. Nun trat mit der Freisetzung der Warenverkehrsgesellschaft die auf Rechtsveränderung abzielende Aufgabe des Schuldrechts in den Vordergrund. Sachenrecht erschien nun primär als Mittel der Kreditbeschaffung und wurde in eine dem Schuldrecht nachgeordnete Position geschoben.

Im Vereinsrecht setzte sich erst nach langen Diskussionen das Normativsystem (Koalitions- und Vereinigungsfreiheit) durch. Das Schuldrecht stellt in § 242 Treu und Glauben (die bona fides) und damit gleichermaßen Vertragstreuepflichten wie richterliche Einflussmöglichkeiten voran. Im Deliktsrecht entschied man sich gegen das zunächst geplante französische Vorbild für ein System dreier kleiner Generalklauseln (§§ 823 Abs. 1, 2; 826) und lehnte damit eine Haftung für fahrlässig herbeigeführte Vermögensschäden ab. Die Haftung für Gehilfen wurde außerhalb von Rechtsgeschäften eingeschränkt (§ 831 BGB). Im Immobiliarrecht standen der Schutz des Rechtsverkehrs (Publizität) und die Kreditsicherung (Immobiliarsicherheiten) durch Real- und Personalkredit im Blickpunkt. Im Mobiliarsachenrecht übernahm das Gesetz vom |ADHGB den gutgläubigen Erwerb (Erwerb vom Nichtberechtigten) und stellte an die Ersitzung strenge Anforderungen. Im Familienrecht fanden sich etwa in erschwerten Scheidungsvoraussetzungen und der Schlechterstellung nichtehelicher Kinder sozialkonservative Züge. Andererseits wurde die Rechtsstellung der Frau verbessert. Im Erbrecht wurde der Testierfreiheit starker Raum gewährt. Viele Neuerungen wurden durch großzügige Übergangsregeln und Sonderreglungen im EGBGB abgemildert.

6. Ein ungeliebtes Gesetzbuch

Das BGB galt, mit Ausnahme des Familienrechts, weitgehend unverändert im Kaiserreich, in Weimar, während des Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und in der DDR (bis 1976). Vor dem Hintergrund dieser nachgewiesenen Anpassungsfähigkeit verwundert das klare rechtspolitische Urteil, das sein Bild im 20. Jahrhundert begleitete: Es blieb das Bild des „begriffsjuristischen“ (Begriffsjurisprudenz), „liberalistischen“, „unsozialen“, „individualistischen“ Gesetzbuches vorherrschend. Besonders die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen nach 1918 förderten irrationale und nationalistische Denkweisen und verstärkten den Widerwillen gegen ein rationales und liberales Zivilgesetz. Die Marktgesetze trafen nun auch den zuvor stabilisierenden Mittelstand und mobilisierten „soziale“ Forderungen in breiten Kreisen gegen das Gesetz. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Kritik am „undeutsch-römischen“ Gesetz zudem antisemitisch unterfüttert, indem, unter diffusem Rückgriff auf die Entstehung der justinianischen Kompilation in Ostrom, starke jüdische Prägungen des antiken Rechts behauptet wurden. Über Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920, der das römische Recht durch ein „deutsches Gemeinrecht“ ersetzen wollte, zogen sich diese Vorwürfe in die scharfe Kritik, der das BGB während des Nationalsozialismus in inhaltlicher und aufbautechnischer Hinsicht ausgesetzt war. Die Versuche, das BGB durch Einzelgesetzgebung oder ein sog. Volksgesetzbuch zu ersetzen, hatten keinen Erfolg. Nach 1945 führte vor allem Franz Wieacker das Bild vom „unsozialen“, „formalistischen“ BGB wirkungsreich fort und sprach vom „spätgeborenen Kind der Pandektenwissenschaft und der … vom Liberalismus angeführten Bewegung seit 1848“, das in seinem „Sozialmodell“ das „besitzende Bürgertum“ bevorteilt habe. Das BGB blieb im 20. Jahrhundert ein ungeliebtes Gesetzbuch, wie noch 1996 bzw. 2000 die schwache Beachtung und wenig emphatische Würdigung seines hunjährigen Jubiläums zeigten.

Nach 1949 übernahm das alsbald „drittwirkende“ Grundgesetz die „soziale“ Steuerung des Privatrechts. Die Vorwürfe gegen das BGB verloren damit zunehmend ihre praktische Relevanz. Im nun stärker historisierenden Blick fanden jedoch erst seit den 1980er Jahren viele rückprojizierende Zerrbilder zunehmend Widerspruch, der erst langsam über die engere Rechtsgeschichtsschreibung hinaus Aufmerksamkeit findet: Das BGB orientierte sich nicht an den Besitzbürgern, sondern an der rechtlich gleichen Freiheit aller Privatrechtssubjekte. Mit der Entscheidung für eine Betonung der Privatautonomie und für Korrekturen durch Sondergesetze sprach man sich lediglich für ein in dubio pro libertate aus, nicht für den „freien Fuchs im freien Hühnerstall“. Beachtung hat gefunden, dass auch Max Weber wie das Kommissionsmitglied Gottlieb Planck mit guten Gründen vor den Rationalitätsverlusten warnte, die einer Privatrechtsordnung drohen, die nicht Rechtsgleichheit, sondern Sonderinteressen zum Ausgangspunkt nimmt.

Zudem erweist sich das überkommene Bild vielfach als stark überspitzt. Ein schrankenloser „Willensformalismus“ entsprach weder dem Konzept der Pandektistik, noch dem des BGB-Gesetzgebers. Es ging in grundrechtsloser Zeit um einen gesicherten Freiheitsraum gegen den Staat. Freiheit als Chance, nicht als Risiko, bestimmte den Blick. Mögliche Missbräuche wurden immer gesehen. Bewußt wurde, etwa über die bona fides, richterliche Einzelfallkorrektur zugelassen. Als die Zweite Kommission Wissenschaft und Rechtsprechung viel Freiraum gewährte, stand ihr überhaupt die überkommene Selbstverständlichkeit vor Augen, mit der die Justiz Zivilgesetze bereits vor 1900 dem Einzelfall und auch überkommenen Rechtsprechungstraditionen unterworfen hatte. Ganz im Sinne der BGB-Verfasser erwies sich die Rechtsprechung von Anfang an als aktiver Gestaltungsfaktor des Privatrechts. Dies wurde lange unter dem historiographischen Bild einer „Materialisierung“ (erst) seit Weimar verschüttet. Vergessen wurde daneben das Kommissionskonzept eines Zusammenspiels zwischen liberaler Kernkodifikation und korrigierenden Sondergesetzen gleichermaßen wie die Tatsache, wie sehr vor allem die Zweite Kommission eben doch oft neuartige Schutzvorschriften aufnahm. Auch wenn insgesamt eine radikale sozialpolitische Reform durch das BGB vermieden wurde, an der das Projekt wahrscheinlich auch im Parteienstreit gescheitert wäre, leitete doch bereits die Zweite Kommission einen Wandel in der Gesetzgebungspolitik hin zur staatlichen Intervention ein. Insofern kann man das BGB durchaus als „erste moderne sozialpolitisch beeinflusste Kodifikation“ (Werner Schubert) bezeichnen.

7. Das BGB und die Entwicklung des Bürgerlichen Rechts im 20. Jahrhundert

Während vor 1933 nur 29 Paragrafen des BGB verändert worden waren, kam es im Nationalsozialismus bereits zu knapp 300 Gesetzesänderungen im BGB, vor allem im Familien- und Erbrecht. Die wandelnden Leitbilder im Familienrecht haben inzwischen zur einer fast völligen Umgestaltung des 4. Buchs des BGB geführt. Die Privatautonomie sah sich im 20. Jahrhundert weitreichender Staatsintervention ausgesetzt. Im Arbeitsrecht verloren die Regelungen des Dienstvertrages durch eine Fülle von Sondergesetzen an Bedeutung. Im Mietrecht traten an die Seite vieler korrigierender Sondergesetze nach 1945 auch stärker Eingriffe in den BGB-Wortlaut selbst. Primär auf Einflüsse der EU lassen sich die vielfältigen Verbraucherschutznormen zurückführen, die 2001, zusammen mit der von der Rechtsprechung entwickelten Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, im Rahmen einer großen Reform des BGB-Schuldrechts weitgehend in das Gesetz integriert wurden.

Nach 1933 kam es in Deutschland zur Vorherrschaft der (erst nach 1945 sog.) Wertungsjurisprudenz, die das Gesetz anhand einer höherstufigen – zu diesem Zeitpunkt „völkischen“ – Rechtsordnung uminterpretierte. Die hierfür verwendeten Generalklauseln des BGB (§§ 138, 157, 242, 826 BGB) wurden auch nach 1949 dazu genutzt, das BGB nun am Grundgesetz (Theorie der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte) und anderen Leitwerten (z.B. Vertrauensschutz) auszurichten. An die Stelle älterer dogmatischer Schlusstechniken treten seitdem immer stärker abwägende Methoden, die konkurrierende Prinzipien erst am zu entscheidenden Einzelfall hierarchisieren und sich so bindender dogmatischer Rationalisierung entziehen. Das deutsche Zivilrecht der Gegenwart wird daher zunehmend vom Richterrecht geprägt.

Literatur

Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953; Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts, 1981; Werner Schubert, Das bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 1986, 11 ff.; Michael John, Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany, 1989; Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1995; Thomas Vormbaum (Hg.), Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl. 1997; Dieter Schwab, Das BGB und seine Kritiker, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000) 325 ff.; Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, Bd. 2, 2007; Rüdiger Hansel, Jurisprudenz und Nationalökonomie, 2006.

Quellen

Werner Schubert (Hg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines BGB, 1980-1986; idem, Horst Heinrich Jakobs, Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, 1978; Motive zu dem Entwurf eines BGB für das deutsche Reich, 6 Bde., 1888; Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des BGB, 6 Bde., 1897/99; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB, 6 Bde., 1890/1891; Zusammenstellung der Äußerungen der Bundesregierung zu dem Entwurf eine BGB, 1891; Georg Maas, Bibliographie des Bürgerlichen Rechts, 1899; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, IV. Session 1895/1897, 704 ff., 2716 ff., 3059 ff., 1896; Benno Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 5 Bde., 1899; weitere Quellen bei Georg Maas, Bibliographie der amtlichen Materialien zum BGB, 1897; sämtliche Gesetzesänderungen 1900-2005 in Tilman Repgen, Hans Schulte-Nölke, Hans-Wolfgang Strätz, BGB-Synopse 1896-2005, 2005.