Europäisches Arbeitsrecht

Aus HWB-EuP 2009

von Martin Henssler

1. Gegenstand und Zweck

Der Begriff des europäischen Arbeitsrechts beschreibt die arbeitsrechtlichen Regelungen des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Gemeinschaft als Teil der Europäischen Union. Ein umfassendes und einheitliches Arbeitsrecht gibt es auf europäischer Ebene nicht, sondern eine Vielzahl von Einzelregelungen. Diese Regelungen treten neben bzw. über die Gesamtheit der arbeitsrechtlichen Regelungen in den einzelnen europäischen Ländern.

Das europäische Arbeitsrecht ist abzugrenzen zum einen vom internationalen Arbeitsrecht, dem Kollisionsrecht für unterschiedliche nationale Arbeitsvertragsstatute, und zum anderen vom Arbeitsvölkerrecht, das auf multinationalen Vereinbarungen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950), der Europäischen Sozial-Charta (1961), der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989), der Charta der Grundrechte (2000) und Übereinkommen der International Labour Organization (ILO), beruht.

Die Ziele des europäischen Arbeitsrechts sind teilweise kodifiziert, teilweise ergeben sie sich durch Auslegung. Die Hauptziele des europäischen Arbeitsrechts, die auch in Art. 136(1) EG/ 151(1) AEUV niedergelegt sind, bestehen darin, (i) Freizügigkeit zu gewährleisten, (ii) Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und (iii) einen sozialen Mindeststandard für Arbeitnehmer zu sichern.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Das Arbeitsrecht gewinnt innerhalb der Europäischen Union kontinuierlich an Bedeutung und umfasst mittlerweile alle wesentlichen Regelungsbereiche. Die Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts ist durch die Anstrengungen des Europäischen Gesetzgebers um Rechtsvereinheitlichung und Harmonisierung der Wirtschafts- und Wettbewerbsbedingungen stetig gestiegen und befindet sich im Stadium kontinuierlicher Weiterentwicklung.

Die Europäische Gemeinschaft war zu ihrem Beginn eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine Sozial- und Arbeitspolitik war nicht vorgesehen. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 verfolgte vorrangig wirtschaftliche Ziele, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes stand im Vordergrund. Das Arbeitsrecht nahm in den Anfängen der Gemeinschaft keinen hohen Stellenwert ein. Der Vertrag normierte die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundvoraussetzung für Wettbewerbsfreiheit der Unternehmer, Art. 49 EWG (heute Art. 39 EG/45 AEUV). Gleiches galt für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Art. 52 und 59 EWG (heute Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV). Der Gründungsvertrag enthielt ferner in Art. 119 EWGV (heute Art. 141 EG/157 AEUV) die Bestimmung der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen.

In den 1970er und 1980er Jahren geriet die europäische Rechtsetzung zunächst ins Stocken. Die Europäische Gemeinschaft begann aber in Reaktion auf Ölkrise, Konjunkturrückgang und Massenarbeitslosigkeit einen Mindestschutz für Arbeitnehmer einzuführen. Neben die Wettbewerbsfunktion trat eine soziale Zielsetzung des europäischen Arbeitsrechts, die in dem vom Rat der EG beschlossenen Sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1974 zum Ausdruck kam. Zunächst wurden Richtlinien zu Massenentlassung von Arbeitnehmern, zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beim Betriebsübergang und zur Absicherung der Arbeitnehmer in der Insolvenz des Arbeitgebers erlassen. In den achtziger Jahren folgten Regelungen zur Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Arbeitsverhältnis.

Das zunächst die Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht hemmende Einstimmigkeitserfordernis wurde durch die mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 neu eingeführten Art. 100a und 118a EGV (nunmehr Art. 95 und 138 EG/114 und 154 AEUV) teilweise zugunsten einer qualifizierten Mehrheit eingeschränkt. 1989 wurde in Straßburg die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte verabschiedet, auf deren Grundlage die Richtlinie über die Unterrichtung des Arbeitnehmers über die Arbeitsbedingungen und die Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung erlassen wurden.

Der Vertrag von Maastricht von 1992, der zur Gründung der Europäischen Union führte, enthielt ein klares Bekenntnis der Mitgliedstaaten zur Förderung des sozialen Fortschritts. Der Vertrag und sein Abkommen über die Sozialpolitik schufen neue Zuständigkeiten und bislang unbekannte Formen der arbeitsrechtlichen Rechtsetzung, insbesondere den sog. Sozialen Dialog, demgemäß die Europäische Kommission vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die europäischen Sozialpartner anhören muss (Art. 138(2)-(4) EG/ 154(2)-(4) AEUV). Gemäß Art. 137(3) EG/153(3) AEUV kann ein Mitgliedstaat den nationalen Sozialpartnern auf deren gemeinsamen Antrag die Umsetzung von Richtlinien überlassen, die aufgrund der Kompetenzzuweisung nach Art. 137(4) EG/153(4) AEUV ergangen sind. Die Sozialpartner können auf europäischer Ebene im Bereich der Sozialpolitik auch Vereinbarungen schließen, die dann vom Rat mit der hierfür erforderlichen Mehrheit in Kraft gesetzt werden. Hierauf beruhen die Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (RL 96/34), die Befristungs-RL (RL 90/70) und die Teilzeit-RL (RL 97/81). Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerverbände sind auf europäischer Ebene mittlerweile durch eigene Organisationen (EGB, CEEP und UNICE) vertreten.

Mit Abschluss des Vertrags von Amsterdam im Jahre 1997 wurde das Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik in das Kapitel „Sozialvorschriften“ (Art. 136-145 EG/151-161 AEUV) des neuen EG-Vertrages eingegliedert. Seitdem wurden zahlreiche Regelungen auf allen Gebieten des Arbeitsrechts getroffen. Das Arbeitsrecht hat sich damit neben anderen traditionellen Rechtsgebieten wie z.B. dem Kartell- und Zollrecht als eigenständiger Gegenstand europäischer Normsetzung etabliert. Der Vertrag von Nizza (2001) hat hingegen in arbeitsrechtlicher Hinsicht wenige Neuerungen gebracht. Der bisher nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Vertrag von Lissabon (2007) würde der EU eine neue, einheitliche Struktur geben und die Charta der Grundrechte (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) zum rechtsverbindlichen Teil des Primärrechts machen (Europäische Verfassung).

3. Regelungsstrukturen des europäischen Arbeitsrechts

Die wesentlichen Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts sind das Primär- und Sekundärrecht, das Richterrecht und die Normsetzung durch die Sozialpartner.

Das Primärrecht umfasst in erster Linie die bereits genannten Gründungsverträge, insbesondere den EG-Vertrag und die Protokolle. Art. 39 EG/45 AEUV und Art. 141 EG/157 AEUV, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Entgeltgleichheit von Mann und Frau regeln, gelten unmittelbar und zwingend in den Mitgliedstaaten. Ebenfalls unmittelbar anwendbar sind die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV, als europäische Grundfreiheiten, deren Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele der Gemeinschaft ist (Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)).

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Rahmen der Rechtsfortbildung außerdem allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelt, die ebenfalls auf der Ebene des Primärrechts anzusiedeln sind und unmittelbar gelten, so z.B. das Gebot der Verhältnismäßigkeit, der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot des Rechtsmissbrauchs.

Das vom Primärrecht abgeleitete Sekundärrecht ist dem Primärrecht nachrangig und muss sich hinsichtlich seiner Gültigkeit an diesem messen lassen. Das europäische Arbeitsrecht wird durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5(1) EG/ersetzt durch Art. 5(1), (2) EU (2007), im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) bestimmt: Der europäische Gesetzgeber ist nur zuständig, wenn ihn die europäischen Verträge hierzu ermächtigen. Grundlage der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung sind Art. 136 ff. EG/151 ff. AEUV, die Kompetenzen für die Arbeitsumwelt, die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherung, die Mitbestimmung, die Chancengleichheit von Männern und Frauen, den Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorsehen. Von der Rechtsangleichung ausgenommen sind gemäß Art. 137(5) EG/153(5) AEUV das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht. Im kollektiven Arbeitsrecht sind die Regelungskompetenzen daher stark begrenzt. Zugleich darf die Gemeinschaft nach dem Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 EG/ersetzt durch Art. 5 EU (2007)) nur tätig werden, sofern und soweit die verfolgten Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfüllt und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts greifen als Rechtsgrundlage sowohl Richtlinien als auch Verordnungen. Unmittelbar und zwingend wirkende Verordnungen sind im europäischen Arbeitsrecht allerdings eher selten (z.B. die Arbeitnehmerfreizügigkeits-VO [VO 1612/68]).

Häufiger sind Richtlinien, die die nationale Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts respektieren. Die für Richtlinien nur ausnahmsweise zu bejahende Möglichkeit einer unmittelbaren Bindungswirkung (sog. Drittwirkung), die voraussetzt, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, die Richtlinie nicht oder unzulänglich umgesetzt wurde und die betreffende Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist (EuGH Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825), hat gerade für das Arbeitsrecht Bedeutung erlangt. Grundsätzlich ist auch im Bereich des Arbeitsrechts davon auszugehen, dass Richtlinien keinesfalls eine horizontale (Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien), sondern allenfalls eine vertikale Drittwirkung (Verhältnis Staat-Bürger) zukommen kann (EuGH Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, I-723; EuGH Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325). Bei verspäteter Umsetzung ist der Mitgliedstaat den Bürgern zum Ersatz eventueller Schäden verpflichtet (EuGH Rs. C-6/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357). Eine gewisse Durchbrechung dieses Grundsatzes bedeutet allerdings die Mangold-Entscheidung des EuGH (Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981), in der das Gericht im Ergebnis eine unmittelbare horizontale Drittwirkung einer Richtlinie (bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist!) annahm. Der EuGH gelangte zu diesem Ergebnis allerdings über einen Kunstgriff, da er das Verbot der Diskriminierung des Alters als einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts postulierte und so die deutsche Regelung in § 14 Abs. 3 TzBfG für europarechtswidrig erklärte.

Die Schwerpunkte der Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht lassen sich aufgliedern in (1) Personenverkehrsfreiheiten, (2) Gleichbehandlung (Antidiskriminierung), (3) Individualarbeitsrecht und (4) Kollektives Arbeitsrecht. Diese Regelungsbereiche spiegeln sich in den zahlreichen, bisher auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts ergangenen Richtlinien wider, die u.a. die Gleichbehandlung von Mann und Frau (RL 75/117, RL 2002/73, umgesetzt in §§ 611a und 611b BGB und im AGG, ab 15.8.2009 teilweise neugefasst in RL 2006/54), die Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft und die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf bzgl. der Merkmale Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung (RL 2000/43, 2000/78, umgesetzt im AGG), den Betriebsübergang (RL 2001/23/EG, umgesetzt in § 613a BGB), die Massenentlassung (RL 98/59, umgesetzt in § 17 KSchG), die Befristung/Teilzeit (RL 91/383, RL 97/81, RL 1999/70, umgesetzt im TzBfG), die Arbeitnehmerüberlassung (RL 91/383), die Entsendung von Arbeitnehmern (RL 96/71, umgesetzt im AEntG), den Nachweis der Arbeitsbedingungen (RL 91/533, umgesetzt im NachwG), die Arbeitszeit (RL 2003/88, umgesetzt im ArbZG), den Datenschutz (RL 95/46, umgesetzt im BDSG), die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats (RL 94/45, umgesetzt im EBRG), die Arbeitnehmermitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (RL 2001/86, umgesetzt im SEBG) regeln.

Ebenfalls zu den Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts zu zählen ist das europäische Richterrecht. Bei der Ausformung der Grundprinzipien des europäischen Arbeitsrechts kommt dem EuGH (Art. 220 ff. EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007), 251 ff. AEUV) als Motor der Integration sogar besondere Bedeutung zu. Der EuGH hat eine Vielzahl von für die Arbeitsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten richtungsweisenden Entscheidungen gefällt. So ist etwa die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte zu den Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs auf der Grundlage mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311; EuGH Rs. C-13/95 – Ayse Süzen, Slg. 1997, I-1259; EuGH Rs. C-340/01 – Abler, Slg. 2004, I-14023; EuGH Rs. C-466/07 – Klarenberg, NZA 2009, 251 ff.) neu ausgerichtet worden. Die aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) resultierende Pflicht der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zwingt dazu, die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien auszurichten. Gleiches gilt für das Arbeitszeitrecht. Hier mussten aufgrund der Vorgaben des EuGH insbesondere nationale Regelungen zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft reformiert werden (EuGH Rs. C-303/98, Slg. I 2000, 7963). Die nationalen Gerichte können dem EuGH Fragen zur Auslegung des Vertrages oder einer Richtlinie zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 234(1), (2) EG/267(1), (2) AEUV). Das vorlegende Gericht ist dann an die Entscheidung des EuGH gebunden. Bei Unvereinbarkeit mit dem europäischen Recht kann der EuGH nationale Arbeitsrechtsgesetze für unanwendbar erklären kann.

4. Perspektiven der Vereinheitlichung

Das europäische Gemeinschaftsrecht verfügt auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bis heute über kein einheitliches Gesetz, sondern umfasst punktuelle und fragmentarische Regelungen. Das Erfordernis der Umsetzung von Richtlinien im nationalen Recht führt zu teilweise sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen desselben Rechtsbereiches. So wirkt sich etwa der durch das europäische Recht vorgeschriebene Arbeitnehmerschutzes nach einem Betriebsübergang in Mitgliedstaaten, die keinen derart rigiden Kündigungsschutz kennen, wie dies in Deutschland der Fall ist, deutlich schwächer aus. Wesentliche Rechtsbegriffe, wie z.B. diejenigen des Arbeitnehmers, des Arbeitgebers und des Betriebs sind im europäischen Arbeitsrecht uneinheitlich geregelt, allgemeingültige Legaldefinitionen fehlen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht in Europa kann daher nicht gesprochen werden.

Dennoch gibt es heute kaum noch weiße Flecken im europäischen arbeitsrechtlichen Regelungsgefüge. Das europäische Arbeitsrecht hat sich zu einem eigenständigen Rechtsgebiet fortentwickelt. Parallel zu der Entwicklung der Europäischen Union von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Sozialunion ist auch im Bereich des europäischen Arbeitsrechts eine stetige Zuständigkeitsverlagerung von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union zu beobachten. Die europäischen Vorgaben tragen entscheidend dazu bei, dass die Kernbereiche des Arbeitsrechts in den Mitgliedstaaten zunehmend einander angenähert werden, auch wenn die europäische Herkunft der nationalen Normen aufgrund der nötigen Umsetzung verschleiert wird. Die Zahl der existierenden Richtlinien ist in den letzten Jahren derart angestiegen, dass die Staaten in wesentlichen Grundfragen ihrer Arbeits- und Sozialpolitik festgelegt sind. Auch der EuGH stellt mittlerweile Grundprinzipien für die nationale Arbeitsrechtsordnung auf. Das europäische Arbeitsrecht verändert damit nicht nur das nationale Arbeitsrecht, sondern wirkt sich unmittelbar auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse, ihren Inhalt und ihre Gestaltung aus. Die Regelungsdichte trägt zu einer fortschreitenden Rechtsharmonisierung bei. Insgesamt gesehen ist es angesichts der Vielzahl der europarechtlichen Normen verschiedenster Regelungsbereiche und Rangebenen immer schwieriger geworden, das rechtliche und praktische Zusammenwirken dieser Normen und ihre Relevanz für das nationale Arbeitsrecht exakt nachzuvollziehen.

Die Europäisierung des Arbeitsrechts schreitet somit unaufhaltsam fort; das nationale Arbeitsrecht wird mehr und mehr durch die Vorgaben des Europarechts determiniert. Diese Entwicklung wird in den Mitgliedstaaten nicht durchgehend positiv bewertet. Der Eingriff des EuGH in die innerstaatlichen Rechtsordnungen wird von Teilen insbesondere des deutschen Schrifttums sehr kritisch gesehen, teilweise wird dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung oder zumindest eine Missachtung der natio-nalen Rechtsordnungen vorgeworfen; von einer „Schwarzen Serie“ des EuGH war die Rede. In der Tat hat der EuGH in mehreren Urteilen der jüngeren Zeit massive Eingriffe in nationales Recht vorgenommen. Auf Kritik stießen neben der bereits zitierten Mangold-Entscheidung des EuGH, in der der Gerichtshof „aus dem Nichts“ einen neuen primärrechtlichen Grundsatz entwickelte, die Urteile zu den Rechtssachen Junk (Rs. C-188/03, Slg. 2005, I-885), Paletta (Rs. C-206/94, Slg. 1996, I-2357) und Christel Schmidt (Rs. C-392/92, Slg. 1994, I-1311) sowie jüngst das Klarenberg-Urteil (Rs. C-466/07, NZA 2009, 251 ff.). Von Rechtswissenschaftlern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kontrovers diskutiert wurde das von der Kommission am 22.11.2006 vorgelegte Grünbuch „Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (KOM(2006) 708 endg.), das unter dem Schlagwort „Flexicurity“ die Weiterentwicklung des europäischen Arbeitsrechts unter Berücksichtigung sowohl der Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber als auch der Sicherheitsinteressen der Arbeitnehmer vorantreiben sollte. Die Bestrebung, sog. Non-Standardverträge und atypische Arbeitsverhältnisse wieder dem Schutzkreis des Arbeitsrechts zu unterstellen, wurde kritisiert, weil es die bestehenden rigiden Rahmenbedingungen, die den Anstoß zu dieser Flucht in die prekären Arbeitsverhältnisse gegeben hätten, zu wenig berücksichtige. Das Grünbuch wurde mittlerweile von der Kommission zurückgestellt. Aufgrund der erheblichen Unterschiede, die der Sozialschutz in den einzelnen Mitgliedstaaten aufweist, ist das Ziel, arbeitsrechtliche „Minimumstandards“ zu verankern, auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Ein denkbarer erster Schritt könnte es jedoch sein, arbeitsrechtliche Grundbegriffe, etwa diejenigen des Arbeitnehmers und der arbeitnehmerähnlichen Person, einheitlich zu definieren.

Literatur

Günter Hirsch, Die europäische Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof: Eine wechselvolle Beziehung, Recht der Arbeit 1999, 48 ff.; Hellmut Wißmann, Arbeitsrecht und Europarecht, Recht der Arbeit 1999, 152 ff.; Dieter Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001; Peter Hanau, Heinz-Dietrich Steinmeyer, Rolf Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; Robert Rebhahn, Ziele und Probleme der Arbeitsrechtsvergleichung in Europa, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 10 (2002) 436 ff.; Catherine Barnard, EC Employment Law, 3. Aufl. 2006; Maximilian Fuchs, Franz Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2006; Martin Henssler, Axel Braun, Arbeitsrecht in Europa, 2. Aufl. 2007; Gregor Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2008; Roger Blanpain, European Labour Law, 11. Aufl. 2008.

Abgerufen von Europäisches Arbeitsrecht – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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