Europäischer Pass und Europäisches Arbeitsrecht: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Jan von Hein]]''
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== 1. Einführung ==
== 1. Gegenstand und Zweck ==
Im Gegensatz zu den USA verfügt die EU über keine Behörde auf föderaler bzw. supranationaler Ebene, welche die [[Aufsicht über Finanzdienstleistungen]] (Banken-, Wertpapier- und Versicherungsaufsicht) wahrnimmt. Eine Kumulation aufsichtsrechtlicher Anforderungen und unnötige Doppelprüfungen durch die Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten führen aber ebenso wie Aufsichtslücken zu Ineffizienzen und behindern den Aufbau eines echten [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]]s im Finanzsektor. Da die Schaffung einer einheitlichen europäischen Aufsichtsbehörde politisch gegenwärtig unrealistisch ist, müssen in der gegebenen dezentralen Aufsichtsstruktur die inhaltlichen Kriterien so weit vereinheitlicht werden, dass die Anbieter grundsätzlich nur der Aufsicht durch ihren Herkunftsmitgliedstaat unterworfen werden, aber ihre Produkte gleichwohl gemeinschaftsweit anbieten können. Dies ist die Grundidee des „Europäischen Passes“ auf den verschiedenen Gebieten des Finanzsektors für Prospektemittenten, Finanzinstitute, sonstige Zahlungsdienstleister, Verwaltungsgesellschaften, Versicherer und bei Übernahmeangeboten. Nachdem zunächst ein Ansatz der Mindestharmonisierung und wechselseitigen Anerkennung verfolgt worden war, ist man in jüngerer Zeit zu einer Vollharmonisierung übergegangen. Exemplarisch hierfür steht die Prospekt-RL (RL 2003/71). Im Einzelnen bestehen aber Unterschiede zwischen den Europäischen Pässen auf den verschiedenen Gebieten. Als besonders schwierig hat sich die Schaffung eines funktionsfähigen Europäischen Passes im Investmentrecht erwiesen.
Der Begriff des europäischen Arbeitsrechts beschreibt die arbeitsrechtlichen Regelungen des Primär- und Sekundärrechts der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]] als Teil der [[Europäische Union|Europäischen Union]]. Ein umfassendes und einheitliches Arbeitsrecht gibt es auf europäischer Ebene nicht, sondern eine Vielzahl von Einzelregelungen. Diese Regelungen treten neben bzw. über die Gesamtheit der arbeitsrechtlichen Regelungen in den einzelnen europäischen Ländern.  


== 2. Wertpapierprospekte ==
Das europäische Arbeitsrecht ist abzugrenzen zum einen vom internationalen [[Arbeitsrecht, internationales|Arbeitsrecht]], dem Kollisionsrecht für unterschiedliche nationale Arbeitsvertragsstatute, und zum anderen vom Arbeitsvölkerrecht, das auf multinationalen Vereinbarungen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950), der Europäischen Sozial-Charta (1961), der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989), der Charta der Grundrechte (2000) und Übereinkommen der ''[[International Labour Organization]]'' (ILO), beruht.  
=== a) Vollharmonisierung ===
Der Europäische Pass bildet das Herzstück der Prospekt-RL. Diese Richtlinie weicht von dem zuvor verfolgten Konzept einer Mindestharmonisierung, verbunden mit einer wechselseitigen Anerkennung, ab. Infolge der Ausnutzung der verbliebenen Regelungsspielräume durch die Mitgliedstaaten war es unter dem nur in Mindestanforderungen harmonisierten Regime nicht gelungen, grenzüberschreitende Emissionen mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand durchzuführen, wodurch die Schaffung eines integrierten europäischen Kapitalmarkts erheblich behindert wurde. Bei der Prospekt-RL handelt es sich stattdessen um eine Maßnahme der Vollharmonisierung, um eine echte Freizügigkeit von Prospekten innerhalb der EU zu erreichen. Jüngste empirische Erhebungen bestätigen die große Akzeptanz des „Europäischen Passes“ unter den Marktteilnehmern.


=== b) Gemeinschaftsweite Geltung ===
Die Ziele des europäischen Arbeitsrechts sind teilweise kodifiziert, teilweise ergeben sie sich durch Auslegung. Die Hauptziele des europäischen Arbeitsrechts, die auch in Art. 136(1) EG/ 151(1) AEUV niedergelegt sind, bestehen darin, (i) Freizügigkeit zu gewährleisten, (ii) Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und (iii) einen sozialen Mindeststandard für Arbeitnehmer zu sichern.
Art. 17 Prospekt-RL regelt die gemeinschaftsweite Geltung im Herkunftsmitgliedstaat gebilligter Prospekte (in Deutschland siehe §§ 17, 18 WpPG). Nach Art. 17(1)1 Prospekt-RL setzt das öffentliche Angebot eines Wertpapiers oder dessen Zulassung an einem geregelten Markt in einem oder mehreren Mitgliedstaaten oder in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat lediglich voraus, dass die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats nach dem in Art. 18 Prospekt-RL vorgesehenen Verfahren unterrichtet („notifiziert“) wird. In diesem Fall ist der vom Herkunftsmitgliedstaat gebilligte Prospekt einschließlich etwaiger Nachträge in beliebig vielen Aufnahmemitgliedstaaten für ein öffentliches Angebot oder für die Zulassung zum Handel gültig. Den zuständigen Behörden der Aufnahmemitgliedstaaten ist es ausdrücklich untersagt, für diesen Prospekt erneut ein Billigungs- oder Verwaltungsverfahren durchzuführen (Art. 17(1)2 Prospekt-RL).


=== c) Herkunftsmitgliedstaat ===
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Der Herkunftsmitgliedstaat ist bei der Emission von „Dividendenwerten“ i.S.d. Art. 2(1)(b) Prospekt-RL (in erster Linie Aktien und sog. ''depositary receipts'') durch Emittenten, die ihren Sitz innerhalb der EU (bzw. des EWR) haben, der Mitgliedstaat, in dem der jeweilige Emittent seinen (statutarischen) Sitz hat (Art. 2(1)(m)(i) Prospekt-RL). Weitere Anforderungen an den Sitzstaat (z.B. die Entfaltung einer tatsächlichen geschäftlichen Tätigkeit) werden, im Gegensatz etwa zur Richtlinie über Zahlungsdienste ([[Überweisungsverkehr (grenzüberschreitender)]]), nicht aufgestellt. Für sonstige übertragbare Wertpapiere („Nichtdividendenwerte“ i.S.d. Art. 2(1)(c) Prospekt-RL) statuiert Art. 2(1)(m)(ii) Prospekt-RL unter dort näher bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht des Emittenten, des Anbieters oder der die Zulassung beantragenden Person. In diesem Fall kann außer für den Sitzstaat des Emittenten für denjenigen Staat optiert werden, in dem die Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind oder zugelassen werden sollen bzw. für den Mitgliedstaat, in dem die Wertpapiere öffentlich angeboten werden.
Das Arbeitsrecht gewinnt innerhalb der Europäischen Union kontinuierlich an Bedeutung und umfasst mittlerweile alle wesentlichen Regelungsbereiche. Die Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts ist durch die Anstrengungen des Europäischen Gesetzgebers um Rechtsvereinheitlichung und Harmonisierung der Wirtschafts- und Wettbewerbsbedingungen stetig gestiegen und befindet sich im Stadium kontinuierlicher Weiterentwicklung.


Einzelheiten des Notifizierungsverfahrens sind in Art. 18 Prospekt-RL geregelt. Demnach übermittelt die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaates den zuständigen Behörden der Aufnahmemitgliedstaaten grundsätzlich innerhalb von drei Arbeitstagen nach einem entsprechenden Ersuchen des Emittenten eine sog. Billigungsbescheinigung sowie eine Kopie des Prospekts. Gegebenenfalls ist eine Übersetzung der Zusammenfassung des Prospektinhalts (Art. 5(2) Prospekt-RL) beizufügen.
Die Europäische Gemeinschaft war zu ihrem Beginn eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine Sozial- und Arbeitspolitik war nicht vorgesehen. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (''EWG'') im Jahre 1957 verfolgte vorrangig wirtschaftliche Ziele, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes stand im Vordergrund. Das Arbeitsrecht nahm in den Anfängen der Gemeinschaft keinen hohen Stellenwert ein. Der Vertrag normierte die [[Arbeitnehmerfreizügigkeit]] als Grundvoraussetzung für Wettbewerbsfreiheit der Unternehmer, Art. 49 EWG (heute Art. 39 EG/45 AEUV). Gleiches galt für die [[Niederlassungsfreiheit|Niederlassungs-]] und [[Dienstleistungsfreiheit]], Art. 52 und 59 EWG (heute Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV). Der Gründungsvertrag enthielt ferner in Art. 119 EWGV (heute Art. 141 EG/157 AEUV) die Bestimmung der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen.  


=== d) Vorsichtsmaßnahmen ===
In den 1970er und 1980er Jahren geriet die europäische Rechtsetzung zunächst ins Stocken. Die Europäische Gemeinschaft begann aber in Reaktion auf Ölkrise, Konjunkturrückgang und Massenarbeitslosigkeit einen Mindestschutz für Arbeitnehmer einzuführen. Neben die Wettbewerbsfunktion trat eine soziale Zielsetzung des europäischen Arbeitsrechts, die in dem vom Rat der EG beschlossenen Sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1974 zum Ausdruck kam. Zunächst wurden Richtlinien zu [[Massenentlassung von Arbeitnehmern]], zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beim [[Betriebsübergang]] und zur Absicherung der Arbeitnehmer in der Insolvenz des Arbeitgebers erlassen. In den achtziger Jahren folgten Regelungen zur Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Arbeitsverhältnis.  
Das Prinzip der gemeinschaftsweiten Geltung gebilligter Prospekte lässt die Befugnisse der Behörden des Aufnahmemitgliedstaates unberührt, unter den engen Voraussetzungen des Art. 23 Prospekt-RL in subsidiärer Kompetenz Vorsichtsmaßnahmen zu treffen (Art. 17(1)1 Prospekt-RL). Stellt die Behörde des Aufnahmemitgliedstaates Unregelmäßigkeiten oder Pflichtverletzungen fest, hat sie zunächst die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates zu informieren (Art. 23(1) Prospekt-RL). Nur wenn der Emittent bzw. das die Platzierung betreuende Finanzinstitut die im Herkunftsmitgliedstaat angeordneten Maßnahmen missachtet oder diese sich als ungeeignet erweisen, darf die Behörde des Aufnahmemitgliedstaates – wiederum nach vorheriger Unterrichtung der Herkunftsbehörde – alle für den Anlegerschutz erforderlichen Maßnahmen ergreifen (Art. 23(2) Prospekt-RL).


=== e) Sprache ===
Das zunächst die Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht hemmende Einstimmigkeitserfordernis wurde durch die mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 neu eingeführten Art. 100a und 118a EGV (nunmehr Art. 95 und 138 EG/114 und 154 AEUV) teilweise zugunsten einer qualifizierten Mehrheit eingeschränkt. 1989 wurde in Straßburg die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte verabschiedet, auf deren Grundlage die Richtlinie über die Unterrichtung des Arbeitnehmers über die Arbeitsbedingungen und die Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung erlassen wurden.  
Die Frage, in welcher Sprache ein Prospekt abzufassen ist, hat zentrale Bedeutung für die praktische Durchführung grenzüberschreitender Emissionen. Näheres regelt Art. 19 Prospekt-RL. Die Vorschrift differenziert zwischen drei Konstellationen, die besonders für Aktienemissionen relevant sind; für bestimmte Nichtdividendenwerte gilt darüber hinaus eine Spezialregelung in Art. 19(4) Prospekt-RL.


(a) Im einfachsten Fall wird ein Wertpapier nur im Herkunftsmitgliedstaat öffentlich angeboten oder nur dort die Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt beantragt. In diesem Fall ist der Prospekt in einer von der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats anerkannten Sprache zu erstellen (Art. 19(1) Prospekt-RL).
Der Vertrag von Maastricht von 1992, der zur Gründung der Europäischen Union führte, enthielt ein klares Bekenntnis der Mitgliedstaaten zur Förderung des sozialen Fortschritts. Der Vertrag und sein Abkommen über die Sozialpolitik schufen neue Zuständigkeiten und bislang unbekannte Formen der arbeitsrechtlichen Rechtsetzung, insbesondere den sog. Sozialen Dialog, demgemäß die [[Europäische Kommission]] vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die europäischen Sozialpartner anhören muss (Art. 138(2)-(4) EG/ 154(2)-(4) AEUV). Gemäß Art. 137(3) EG/153(3) AEUV kann ein Mitgliedstaat den nationalen Sozialpartnern auf deren gemeinsamen Antrag die Umsetzung von Richtlinien überlassen, die aufgrund der Kompetenzzuweisung nach Art. 137(4) EG/153(4) AEUV ergangen sind. Die Sozialpartner können auf europäischer Ebene im Bereich der Sozialpolitik auch Vereinbarungen schließen, die dann vom Rat mit der hierfür erforderlichen Mehrheit in Kraft gesetzt werden. Hierauf beruhen die Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (RL 96/34), die Befristungs-RL (RL 90/70) und die Teilzeit-RL (RL 97/81). Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerverbände sind auf europäischer Ebene mittlerweile durch eigene Organisationen (EGB, CEEP und UNICE) vertreten.


(b) In der zweiten Variante fallen der oder die Staaten, in denen das Wertpapier öffentlich angeboten bzw. auf einem geregelten Markt zugelassen wird, einerseits, und der Herkunftsmitgliedstaat anderseits, auseinander. In diesem Fall ist der Emittent nicht gezwungen, den Prospekt in die Sprachen aller Aufnahmemitgliedstaaten zu übersetzen; vielmehr darf er sich „einer in internationalen Finanzkreisen gebräuchlichen Sprache“ bedienen (Art. 19(2) Prospekt-RL). Mit dieser diplomatischen Verklausulierung ist natürlich in der Sache die englische Sprache gemeint. Die zuständigen Behörden der jeweiligen Aufnahmemitgliedstaaten dürfen allerdings eine Übersetzung der nach Art. 5(2) Prospekt-RL vorgeschriebenen Zusammenfassung des Prospektinhalts verlangen (Art. 19(2)2 Prospekt-RL). Soweit es um die Prüfung des Prospekts durch die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates geht, hat der Emittent die Wahl, ob er sich einer von dieser anerkannten Sprache oder des Englischen bedient.
Mit Abschluss des Vertrags von Amsterdam im Jahre 1997 wurde das Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik in das Kapitel „Sozialvorschriften“ (Art. 136-145 EG/151-161 AEUV) des neuen EG-Vertrages eingegliedert. Seitdem wurden zahlreiche Regelungen auf allen Gebieten des Arbeitsrechts getroffen. Das Arbeitsrecht hat sich damit neben anderen traditionellen Rechtsgebieten wie z.B. dem Kartell- und Zollrecht als eigenständiger Gegenstand europäischer Normsetzung etabliert. Der Vertrag von Nizza (2001) hat hingegen in arbeitsrechtlicher Hinsicht wenige Neuerungen gebracht. Der bisher nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Vertrag von Lissabon (2007) würde der EU eine neue, einheitliche Struktur geben und die Charta der Grundrechte ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]) zum rechtsverbindlichen Teil des Primärrechts machen ([[Europäische Verfassung]]).


(c) Drittens werden Konstellationen erfasst, in denen das Wertpapier sowohl im Herkunftsmitgliedstaat als auch in einem oder mehreren anderen Staaten emittiert wird (Art. 19(3) Prospekt-RL). In diesem Fall muss der Prospekt in einer von der Behörde des Herkunftsmitgliedstaates akzeptierten Sprache abgefasst sein. Darüber hinaus hat der Emittent dieselben Wahlmöglichkeiten (Sprachen der Aufnahmemitgliedstaaten oder Englisch) wie in der zweiten Variante.
== 3. Regelungsstrukturen des europäischen Arbeitsrechts ==
Die wesentlichen Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts sind das Primär- und Sekundärrecht, das Richterrecht und die Normsetzung durch die Sozialpartner.  


=== f) Emittenten aus Drittstaaten ===
Das Primärrecht umfasst in erster Linie die bereits genannten Gründungsverträge, insbesondere den EG-Vertrag und die Protokolle. Art. 39 EG/45 AEUV und Art. 141 EG/157 AEUV, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Entgeltgleichheit von Mann und Frau regeln, gelten unmittelbar und zwingend in den Mitgliedstaaten. Ebenfalls unmittelbar anwendbar sind die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV, als europäische Grundfreiheiten, deren Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele der Gemeinschaft ist ([[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)]]).
Besonderheiten sind schließlich für Emittenten aus Drittstaaten zu beachten. Auch diese kommen vorbehaltlich einer Äquivalenzprüfung in den Genuss des Europäischen Passes. Da diese Emittenten ihren Sitz nicht in der EU haben, muss für sie ein Herkunftsmitgliedstaat auf dem Gebiet der Gemeinschaft definiert werden. Drittstaatsemittenten von Aktien oder anderen Dividendenwerten haben insoweit die Wahl zwischen dem Mitgliedstaat, in dem die Wertpapiere erstmals nach dem Inkrafttreten der Prospekt-RL öffentlich angeboten werden sollen, und dem Mitgliedstaat, in dem der erste Antrag auf Zulassung der Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt gestellt wird (Art. 2(1)(m)(iii) Prospekt-RL). Für Nichtdividendenwerte gilt auch gegenüber Drittstaatenemittenten die in Art. 2(1)(m)(ii) Prospekt-RL getroffene Optionsmöglichkeit, weil insoweit nicht nach dem Sitz des Emittenten unterschieden wird. Die zuständige Behörde des auf diese Weise bestimmten Herkunftsmitgliedstaates kann einen nach den Rechtsvorschriften eines Drittstaates erstellten Prospekt billigen, wenn dieser nach international anerkannten Standards, insbesondere den Transparenzstandards der IOSCO, erstellt wurde und wenn die Informationspflichten den Anforderungen der Prospekt-RL gleichwertig sind (Art. 20(1) Prospekt-RL). Zur größeren Rechtssicherheit kann die Gleichwertigkeit in diesem Sinne von der Kommission offiziell festgestellt werden (Art. 20(3) Prospekt-RL). Für die Freizügigkeit des Prospekts gelten sodann die oben beschriebenen Art. 17-19 Prospekt-RL auch zugunsten von Drittstaatsemittenten (Art. 20(2) Prospekt-RL). Diese Erweiterung des Europäischen Passes kommt insbesondere Emittenten aus den USA zugute.


== 3. Bankenaufsicht → [[Aufsicht über Finanzdienstleistungen]] ==
Der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] (EuGH) hat im Rahmen der Rechtsfortbildung außerdem allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelt, die ebenfalls auf der Ebene des Primärrechts anzusiedeln sind und unmittelbar gelten, so z.B. das Gebot der [[Verhältnismäßigkeit]], der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot des Rechtsmissbrauchs.  
== 4. MiFID (RL 2004/39) → [[Märkte für Finanzinstrumente]] ==
== 5. Zahlungsverkehr → [[Überweisungsverkehr (grenzüberschreitender)]] ==
== 6. Investmentrecht ==
Der Europäische Pass im Investmentrecht bildet den Gegenstand einer aktuellen Reformdiskussion, die gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist. Bereits die erste Fassung der OGAW-RL (RL 85/611) sah einen Europäischen Pass für richtlinienkonforme Investmentprodukte vor, verfolgte also einen vertriebsbezogenen Ansatz (sog. Produktpass). Mit der Neufassung der Richtlinie im Jahre 2002 kam ein weiterer Europäischer Pass hinzu, der die Kapitalanlagegesellschaften selbst erfasst, sofern sie ein OGAW-konformes Sondervermögen verwalten (Art. 6-6c der konsolidierten OGAW-RL; in Deutschland §§ 12, 13 InvG).


Art. 6 OGAW-RL ermöglicht es einer Verwaltungsgesellschaft, die über eine Zulassung für das Investmentgeschäft verfügt, ihre Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten durch die Errichtung einer Zweigniederlassung oder im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs zu erbringen, ohne dass die Aufnahmemitgliedstaaten hieran weitere Bedingungen wie etwa die Aufbringung eines Dotationskapitals knüpfen dürfen. Voraussetzung für die Errichtung einer Zweigniederlassung oder die erstmalige Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat ist aber wiederum die Notifizierung der Behörden des Aufnahmemitgliedstaates durch die Behörden des Herkunftsmitgliedstaates (zu Einzelheiten siehe Art. 6a, 6b OGAW-RL). Der Europäische Pass gemäß Art. 6 ff. OGAW-RL hat sich jedoch nach einhelliger Ansicht als Misserfolg erwiesen. Zum einen erfasst er nicht alle Typen von Fonds; solche in vertraglicher Form sind ausgenommen. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen dem Produktpass und dem Pass für Anbieter unklar geregelt, sodass der Vertrieb ausländischer Investmentanteile bislang nur bei Innehabung beider Pässe erfolgen kann. Der am 16.7.2008 vorgelegte Entwurf für eine erneute Revision der OGAW-RL (2008/0153 (COD)) hat sich das Ziel gesetzt, den Pass für Verwaltungsgesellschaften effizienter und praxisgerechter auszugestalten, ohne den hohen Standard des Anlegerschutzes zu beeinträchtigen. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag am 13.1.2009 mit Änderungen in erster Lesung angenommen (P6_TA-PROV(2009)0012).
Das vom Primärrecht abgeleitete Sekundärrecht ist dem Primärrecht nachrangig und muss sich hinsichtlich seiner Gültigkeit an diesem messen lassen. Das europäische Arbeitsrecht wird durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5(1) EG/ersetzt durch Art. 5(1), (2) EU (2007), im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) bestimmt: Der europäische Gesetzgeber ist nur zuständig, wenn ihn die europäischen Verträge hierzu ermächtigen. Grundlage der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung sind Art. 136 ff. EG/151 ff. AEUV, die Kompetenzen für die Arbeitsumwelt, die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherung, die Mitbestimmung, die Chancengleichheit von Männern und Frauen, den Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorsehen. Von der Rechtsangleichung ausgenommen sind gemäß Art. 137(5) EG/153(5) AEUV das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht. Im kollektiven Arbeitsrecht sind die Regelungskompetenzen daher stark begrenzt. Zugleich darf die Gemeinschaft nach dem Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 EG/ersetzt durch Art. 5 EU (2007)) nur tätig werden, sofern und soweit die verfolgten Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfüllt und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.  


== 7. Übernahmerecht ==
Im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts greifen als Rechtsgrundlage sowohl [[Richtlinie]]n als auch [[Verordnung]]en. Unmittelbar und zwingend wirkende Verordnungen sind im europäischen Arbeitsrecht allerdings eher selten (z.B. die Arbeitnehmerfreizügigkeits-VO [VO 1612/68]).  
Die Übernahme-RL (RL 2004/25) überträgt das Konzept des Europäischen Passes auf die für eine Übernahme zu erstellende Angebotsunterlage (Art. 6(2)(II) Übernahme-RL; in Deutschland § 11a WpÜG). Die Billigung einer Angebotsunterlage durch die zuständige Aufsichtsstelle bewirkt, dass die Unterlage, vorbehaltlich einer gegebenenfalls erforderlichen Übersetzung, in allen anderen Mitgliedstaaten, an deren Märkten die Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel zugelassen sind, anerkannt werden muss. Eine erneute Billigung durch die Aufsichtsstellen der betreffenden Mitgliedstaaten ist nicht erforderlich. Diese Behörden dürfen nur unter engen Voraussetzungen die Aufnahme zusätzlicher Angaben in die Angebotsunterlage verlangen, nämlich wenn diese spezifische Erfordernisse des Marktes, an dem die Wertpapiere notiert sind, bestimmte einzuhaltende Förmlichkeiten oder die steuerliche Behandlung der den Aktionären angebotenen Gegenleistung betreffen.


Bei dem Europäischen Pass im Übernahmerecht ist jedoch die von der Prospekt-RL abweichende Verteilung der Aufsichtszuständigkeit zu beachten: Während nach der Prospekt-RL auch bei der Platzierung von Wertpapieren außerhalb des Sitzstaates die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates zuständig bleibt, sieht Art. 4(2) der Übernahme-RL eine gespaltene Zuständigkeit vor und weist Fragen des Angebotsvorgangs und der Angebotsunterlage ohnehin der Aufsicht des Marktstaates zu, wenn die Wertpapiere der Zielgesellschaft nicht auch in deren Sitzstaat zugelassen sind ([[Kapitalmarktrecht, internationales]]). Der Europäische Pass hat im Übernahmerecht daher v.a. Bedeutung bei einer Zulassung der Wertpapiere in mehreren Mitgliedstaaten außerhalb des Sitzstaates (Art. 4(2)(b)(II) Übernahme-RL).
Häufiger sind'' ''Richtlinien,'' ''die die nationale Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts respektieren. Die für Richtlinien nur ausnahmsweise zu bejahende Möglichkeit einer unmittelbaren Bindungswirkung (sog. Drittwirkung), die voraussetzt, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, die Richtlinie nicht oder unzulänglich umgesetzt wurde und die betreffende Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist (EuGH Rs. 9/70 – ''Grad/Finanzamt Traunstein'', Slg. 1970, 825), hat gerade für das Arbeitsrecht Bedeutung erlangt. Grundsätzlich ist auch im Bereich des Arbeitsrechts davon auszugehen, dass Richtlinien keinesfalls eine horizontale (Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien), sondern allenfalls eine vertikale Drittwirkung (Verhältnis Staat-Bürger) zukommen kann (EuGH Rs. 152/84 – ''Marshall'', Slg. 1986, I-723; EuGH Rs. C-91/92 – ''Faccini Dori'', Slg. 1994, I-3325). Bei verspäteter Umsetzung ist der Mitgliedstaat den Bürgern zum Ersatz eventueller Schäden verpflichtet (EuGH Rs. C-6/90 – ''Francovich'','' ''Slg. 1991, I-5357). Eine gewisse Durchbrechung dieses Grundsatzes bedeutet allerdings die ''Mangold''-Entscheidung des EuGH (Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981), in der das Gericht im Ergebnis eine unmittelbare horizontale Drittwirkung einer Richtlinie (bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist!) annahm. Der EuGH gelangte zu diesem Ergebnis allerdings über einen Kunstgriff, da er das Verbot der Diskriminierung des Alters als einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts postulierte und so die deutsche Regelung in § 14 Abs. 3 TzBfG für europarechtswidrig erklärte.


== 8. Versicherungsaufsicht → [[Versicherungsaufsichtsrecht]] ==
Die Schwerpunkte der Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht lassen sich aufgliedern in (1) Personenverkehrsfreiheiten, (2) Gleichbehandlung (Antidiskriminierung), (3) Individualarbeitsrecht und (4) Kollektives Arbeitsrecht. Diese Regelungsbereiche spiegeln sich in den zahlreichen, bisher auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts ergangenen Richtlinien wider, die u.a. die Gleichbehandlung von Mann und Frau (RL 75/117, RL 2002/73, umgesetzt in §§ 611a und 611b BGB und im AGG, ab 15.8.2009 teilweise neugefasst in RL 2006/54), die Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft und die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf bzgl. der Merkmale Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung (RL 2000/43, 2000/78, umgesetzt im AGG), den Betriebsübergang (RL 2001/23/EG, umgesetzt in § 613a BGB), die Massenentlassung (RL 98/59, umgesetzt in § 17 KSchG), die Befristung/Teilzeit (RL 91/383, RL 97/81, RL 1999/70, umgesetzt im TzBfG), die Arbeitnehmerüberlassung (RL 91/383), die Entsendung von Arbeitnehmern (RL 96/71, umgesetzt im AEntG), den Nachweis der Arbeitsbedingungen (RL 91/533, umgesetzt im NachwG), die Arbeitszeit (RL 2003/88, umgesetzt im ArbZG), den Datenschutz (RL 95/46, umgesetzt im BDSG), die Einrichtung eines [[Europäischer Betriebsrat|Europäischen Betriebsrat]]s (RL 94/45, umgesetzt im EBRG), die Arbeitnehmermitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (RL 2001/86, umgesetzt im SEBG) regeln.
== 9. Zusammenfassung und Ausblick ==
 
Eine Gesamtschau der Europäischen Pässe ergibt ein gemischtes Bild: Dem erfolgreichen Modell der Prospekt-RL auf der einen Seite des Spektrums stehen auf der anderen Seite die bislang unbefriedigenden Versuche zur Einführung eines Passes für Verwaltungsgesellschaften im Investmentrecht gegenüber. Dazwischen sind die leidlich funktionierenden Pässe im Bankaufsichts- und sonstigen Wertpapierrecht (MiFID) zu nennen. Wünschenswert wäre es, wenn die Kommission oder CESR sich zwischen den zahlreichen Reformmaßnahmen an einzelnen Richtlinien Zeit für eine Studie nähme, die den ''acquis'' auf dem Gebiet des Europäischen Passes systematisch erfasst, um in Zukunft zu insgesamt kohärenteren Regelungen zu gelangen. Ob es auf Dauer gelingen wird, mit Hilfe des Europäischen Passes der Errichtung einer supranationalen Aufsichtsbehörde auf den genannten Gebieten zu entgehen, bleibt abzuwarten.
Ebenfalls zu den Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts zu zählen ist das europäische Richterrecht. Bei der Ausformung der Grundprinzipien des europäischen Arbeitsrechts kommt dem EuGH (Art. 220 ff. EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007), 251 ff. AEUV) als Motor der Integration sogar besondere Bedeutung zu. Der EuGH hat eine Vielzahl von für die Arbeitsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten richtungsweisenden Entscheidungen gefällt. So ist etwa die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte zu den Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs auf der Grundlage mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH Rs. C-392/92 – ''Christel Schmidt'', Slg. 1994, I-1311; EuGH Rs. C-13/95 – ''Ayse Süzen'', Slg. 1997, I-1259; EuGH Rs. C-340/01 – ''Abler'', Slg. 2004, I-14023; EuGH'' ''Rs. C-466/07 – ''Klarenberg'', NZA 2009, 251 ff.) neu ausgerichtet worden. Die aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) resultierende Pflicht der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zwingt dazu, die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien auszurichten. Gleiches gilt für das Arbeitszeitrecht. Hier mussten aufgrund der Vorgaben des EuGH insbesondere nationale Regelungen zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft reformiert werden (EuGH Rs. C-303/98, Slg. I 2000, 7963). Die nationalen Gerichte können dem EuGH Fragen zur Auslegung des Vertrages oder einer Richtlinie zur ''Vorabentscheidung'' vorlegen (Art. 234(1), (2) EG/267(1), (2) AEUV). Das vorlegende Gericht ist dann an die Entscheidung des EuGH gebunden. Bei Unvereinbarkeit mit dem europäischen Recht kann der EuGH nationale Arbeitsrechtsgesetze für unanwendbar erklären kann.
 
== 4. Perspektiven der Vereinheitlichung ==
Das europäische Gemeinschaftsrecht verfügt auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bis heute über kein einheitliches Gesetz, sondern umfasst punktuelle und fragmentarische Regelungen. Das Erfordernis der Umsetzung von Richtlinien im nationalen Recht führt zu teilweise sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen desselben Rechtsbereiches. So wirkt sich etwa der durch das europäische Recht vorgeschriebene Arbeitnehmerschutzes nach einem Betriebsübergang in Mitgliedstaaten, die keinen derart rigiden Kündigungsschutz kennen, wie dies in Deutschland der Fall ist, deutlich schwächer aus. Wesentliche Rechtsbegriffe, wie z.B. diejenigen des Arbeitnehmers, des Arbeitgebers und des Betriebs sind im europäischen Arbeitsrecht uneinheitlich geregelt, allgemeingültige Legaldefinitionen fehlen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht in Europa kann daher nicht gesprochen werden.
 
Dennoch gibt es heute kaum noch weiße Flecken im europäischen arbeitsrechtlichen Regelungsgefüge. Das europäische Arbeitsrecht hat sich zu einem eigenständigen Rechtsgebiet fortentwickelt. Parallel zu der Entwicklung der Europäischen Union von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Sozialunion ist auch im Bereich des europäischen Arbeitsrechts eine stetige Zuständigkeitsverlagerung von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union zu beobachten. Die europäischen Vorgaben tragen entscheidend dazu bei, dass die Kernbereiche des Arbeitsrechts in den Mitgliedstaaten zunehmend einander angenähert werden, auch wenn die europäische Herkunft der nationalen Normen aufgrund der nötigen Umsetzung verschleiert wird. Die Zahl der existierenden Richtlinien ist in den letzten Jahren derart angestiegen, dass die Staaten in wesentlichen Grundfragen ihrer Arbeits- und Sozialpolitik festgelegt sind. Auch der EuGH stellt mittlerweile Grundprinzipien für die nationale Arbeitsrechtsordnung auf. Das europäische Arbeitsrecht verändert damit nicht nur das nationale Arbeitsrecht, sondern wirkt sich unmittelbar auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse, ihren Inhalt und ihre Gestaltung aus. Die Regelungsdichte trägt zu einer fortschreitenden Rechtsharmonisierung bei. Insgesamt gesehen ist es angesichts der Vielzahl der europarechtlichen Normen verschiedenster Regelungsbereiche und Rangebenen immer schwieriger geworden, das rechtliche und praktische Zusammenwirken dieser Normen und ihre Relevanz für das nationale Arbeitsrecht exakt nachzuvollziehen.
 
Die Europäisierung des Arbeitsrechts schreitet somit unaufhaltsam fort; das nationale Arbeitsrecht wird mehr und mehr durch die Vorgaben des Europarechts determiniert. Diese Entwicklung wird in den Mitgliedstaaten nicht durchgehend positiv bewertet. Der Eingriff des EuGH in die innerstaatlichen Rechtsordnungen wird von Teilen insbesondere des deutschen Schrifttums sehr kritisch gesehen, teilweise wird dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung oder zumindest eine Missachtung der natio-nalen Rechtsordnungen vorgeworfen; von einer „Schwarzen Serie“ des EuGH war die Rede. In der Tat hat der EuGH in mehreren Urteilen der jüngeren Zeit massive Eingriffe in nationales Recht vorgenommen. Auf Kritik stießen neben der bereits zitierten ''Mangold''-Entscheidung des EuGH, in der der Gerichtshof „aus dem Nichts“ einen neuen primärrechtlichen Grundsatz entwickelte, die Urteile zu den Rechtssachen ''Junk'' (Rs. C-188/03, Slg. 2005, I-885), ''Paletta'' (Rs. C-206/94, Slg. 1996, I-2357) und ''Christel Schmidt'' (Rs. C-392/92, Slg. 1994, I-1311) sowie jüngst das ''Klarenberg''-Urteil (Rs. C-466/07, NZA 2009, 251 ff.). Von Rechtswissenschaftlern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kontrovers diskutiert wurde das von der Kommission am 22.11.2006 vorgelegte Grünbuch „Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (KOM(2006) 708 endg.), das unter dem Schlagwort „Flexicurity“ die Weiterentwicklung des europäischen Arbeitsrechts unter Berücksichtigung sowohl der Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber als auch der Sicherheitsinteressen der Arbeitnehmer vorantreiben sollte. Die Bestrebung, sog. ''Non''-Standardverträge und atypische Arbeitsverhältnisse wieder dem Schutzkreis des Arbeitsrechts zu unterstellen, wurde kritisiert, weil es die bestehenden rigiden Rahmenbedingungen, die den Anstoß zu dieser Flucht in die prekären Arbeitsverhältnisse gegeben hätten, zu wenig berücksichtige. Das Grünbuch wurde mittlerweile von der Kommission zurückgestellt. Aufgrund der erheblichen Unterschiede, die der Sozialschutz in den einzelnen Mitgliedstaaten aufweist, ist das Ziel, arbeitsrechtliche „Minimumstandards“ zu verankern, auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Ein denkbarer erster Schritt könnte es jedoch sein, arbeitsrechtliche Grundbegriffe, etwa diejenigen des Arbeitnehmers und der arbeitnehmerähnlichen Person, einheitlich zu definieren.


==Literatur==
==Literatur==
''Eva Lomnicka'','' ''The Home Country Control Principle in the Financial Services Directives and the Case Law, European Business Law Review 2000, 324 ff.; ''Christoph Crüwell'', Die europäische Prospektrichtlinie, AG 2003, 243 ff.; ''Dorothee Fischer-Appelt'', ''Thomas Werlen'', The EU Prospectus Directive: Content of the Unified European Prospectus Regime and Comparison with US Securities Laws, La Revue Européenne de Droit Bancaire et Financier (EUREDIA) 2004, 379 ff.; ''Peter Kindler'', ''Hendrik Horstmann'', Die EU-Übernahmerichtlinie: Ein „europäischer“ Kompromiss, Deutsches Steuerrecht 2004, 866 ff.; ''Johannes Köndgen'','' Christian Schmies'', Die Neuordnung des deutschen Investmentrechts, Zeitschrift für Wirtschaft- und Bankrecht, Sonderbeilage 1/2004; ''Christoph Sandberger'', Die EU-Prospektrichtlinie: „Europäischer Pass für Emittenten“, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2004, 297 ff.; ''Jürgen F. Baur'', Investmentgeschäft- und Vertrieb, in: Heinz-Dieter Assmann, Rolf A. Schütze (Hg.), Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 20 Rn. 370 f.; ''Eilís Ferran'', Cross-border Offers of Securities in the EU: The ''Standard Life ''Flotation, European Company and Financial Law Review 4 (2007) 461 ff.; ''Peter Mattil'', ''Florian Möslein'', Die Sprache des Emissionsprospekts, Zeitschrift für Wirtschaft und Bankrecht 2007, 819 ff.; ''Walburga Kullmann'', ''Jürgen Metzger'', Der Bericht der Expertengruppe „Europäische Wertpapiermärkte“ (ESME) zur Richtlinie 2003/71/EG („Prospektrichtlinie“), Zeitschrift für Wirtschaft- und Bankrecht 2008, 1292 ff.
''Günter Hirsch'','' ''Die europäische Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof: Eine wechselvolle Beziehung, Recht der Arbeit 1999, 48&nbsp;ff.''<nowiki>; Hellmut Wißmann</nowiki>'','' ''Arbeitsrecht und Europarecht, Recht der Arbeit 1999, 152&nbsp;ff.; ''Dieter Krimphove'','' ''Europäisches Arbeitsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2001; ''Peter Hanau'','' Heinz-Dietrich Steinmeyer'','' Rolf Wank'', Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; ''Robert Rebhahn'', Ziele und Probleme der Arbeitsrechtsvergleichung in Europa, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 10 (2002) 436&nbsp;ff.''<nowiki>; Catherine Barnard</nowiki>'', EC Employment Law, 3.&nbsp;Aufl. 2006; ''Maximilian Fuchs'','' Franz Marhold'','' ''Europäisches Arbeitsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2006; ''Martin Henssler'','' Axel Braun'', Arbeitsrecht in Europa, 2.&nbsp;Aufl. 2007; ''Gregor Thüsing'', Europäisches Arbeitsrecht, 2008; ''Roger Blanpain'', European Labour Law, 11.&nbsp;Aufl. 2008.


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Version vom 28. September 2021, 16:36 Uhr

von Martin Henssler

1. Gegenstand und Zweck

Der Begriff des europäischen Arbeitsrechts beschreibt die arbeitsrechtlichen Regelungen des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Gemeinschaft als Teil der Europäischen Union. Ein umfassendes und einheitliches Arbeitsrecht gibt es auf europäischer Ebene nicht, sondern eine Vielzahl von Einzelregelungen. Diese Regelungen treten neben bzw. über die Gesamtheit der arbeitsrechtlichen Regelungen in den einzelnen europäischen Ländern.

Das europäische Arbeitsrecht ist abzugrenzen zum einen vom internationalen Arbeitsrecht, dem Kollisionsrecht für unterschiedliche nationale Arbeitsvertragsstatute, und zum anderen vom Arbeitsvölkerrecht, das auf multinationalen Vereinbarungen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950), der Europäischen Sozial-Charta (1961), der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989), der Charta der Grundrechte (2000) und Übereinkommen der International Labour Organization (ILO), beruht.

Die Ziele des europäischen Arbeitsrechts sind teilweise kodifiziert, teilweise ergeben sie sich durch Auslegung. Die Hauptziele des europäischen Arbeitsrechts, die auch in Art. 136(1) EG/ 151(1) AEUV niedergelegt sind, bestehen darin, (i) Freizügigkeit zu gewährleisten, (ii) Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und (iii) einen sozialen Mindeststandard für Arbeitnehmer zu sichern.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Das Arbeitsrecht gewinnt innerhalb der Europäischen Union kontinuierlich an Bedeutung und umfasst mittlerweile alle wesentlichen Regelungsbereiche. Die Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts ist durch die Anstrengungen des Europäischen Gesetzgebers um Rechtsvereinheitlichung und Harmonisierung der Wirtschafts- und Wettbewerbsbedingungen stetig gestiegen und befindet sich im Stadium kontinuierlicher Weiterentwicklung.

Die Europäische Gemeinschaft war zu ihrem Beginn eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine Sozial- und Arbeitspolitik war nicht vorgesehen. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 verfolgte vorrangig wirtschaftliche Ziele, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes stand im Vordergrund. Das Arbeitsrecht nahm in den Anfängen der Gemeinschaft keinen hohen Stellenwert ein. Der Vertrag normierte die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundvoraussetzung für Wettbewerbsfreiheit der Unternehmer, Art. 49 EWG (heute Art. 39 EG/45 AEUV). Gleiches galt für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Art. 52 und 59 EWG (heute Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV). Der Gründungsvertrag enthielt ferner in Art. 119 EWGV (heute Art. 141 EG/157 AEUV) die Bestimmung der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen.

In den 1970er und 1980er Jahren geriet die europäische Rechtsetzung zunächst ins Stocken. Die Europäische Gemeinschaft begann aber in Reaktion auf Ölkrise, Konjunkturrückgang und Massenarbeitslosigkeit einen Mindestschutz für Arbeitnehmer einzuführen. Neben die Wettbewerbsfunktion trat eine soziale Zielsetzung des europäischen Arbeitsrechts, die in dem vom Rat der EG beschlossenen Sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1974 zum Ausdruck kam. Zunächst wurden Richtlinien zu Massenentlassung von Arbeitnehmern, zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beim Betriebsübergang und zur Absicherung der Arbeitnehmer in der Insolvenz des Arbeitgebers erlassen. In den achtziger Jahren folgten Regelungen zur Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Arbeitsverhältnis.

Das zunächst die Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht hemmende Einstimmigkeitserfordernis wurde durch die mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 neu eingeführten Art. 100a und 118a EGV (nunmehr Art. 95 und 138 EG/114 und 154 AEUV) teilweise zugunsten einer qualifizierten Mehrheit eingeschränkt. 1989 wurde in Straßburg die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte verabschiedet, auf deren Grundlage die Richtlinie über die Unterrichtung des Arbeitnehmers über die Arbeitsbedingungen und die Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung erlassen wurden.

Der Vertrag von Maastricht von 1992, der zur Gründung der Europäischen Union führte, enthielt ein klares Bekenntnis der Mitgliedstaaten zur Förderung des sozialen Fortschritts. Der Vertrag und sein Abkommen über die Sozialpolitik schufen neue Zuständigkeiten und bislang unbekannte Formen der arbeitsrechtlichen Rechtsetzung, insbesondere den sog. Sozialen Dialog, demgemäß die Europäische Kommission vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die europäischen Sozialpartner anhören muss (Art. 138(2)-(4) EG/ 154(2)-(4) AEUV). Gemäß Art. 137(3) EG/153(3) AEUV kann ein Mitgliedstaat den nationalen Sozialpartnern auf deren gemeinsamen Antrag die Umsetzung von Richtlinien überlassen, die aufgrund der Kompetenzzuweisung nach Art. 137(4) EG/153(4) AEUV ergangen sind. Die Sozialpartner können auf europäischer Ebene im Bereich der Sozialpolitik auch Vereinbarungen schließen, die dann vom Rat mit der hierfür erforderlichen Mehrheit in Kraft gesetzt werden. Hierauf beruhen die Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub (RL 96/34), die Befristungs-RL (RL 90/70) und die Teilzeit-RL (RL 97/81). Sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerverbände sind auf europäischer Ebene mittlerweile durch eigene Organisationen (EGB, CEEP und UNICE) vertreten.

Mit Abschluss des Vertrags von Amsterdam im Jahre 1997 wurde das Maastrichter Abkommen über die Sozialpolitik in das Kapitel „Sozialvorschriften“ (Art. 136-145 EG/151-161 AEUV) des neuen EG-Vertrages eingegliedert. Seitdem wurden zahlreiche Regelungen auf allen Gebieten des Arbeitsrechts getroffen. Das Arbeitsrecht hat sich damit neben anderen traditionellen Rechtsgebieten wie z.B. dem Kartell- und Zollrecht als eigenständiger Gegenstand europäischer Normsetzung etabliert. Der Vertrag von Nizza (2001) hat hingegen in arbeitsrechtlicher Hinsicht wenige Neuerungen gebracht. Der bisher nicht von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Vertrag von Lissabon (2007) würde der EU eine neue, einheitliche Struktur geben und die Charta der Grundrechte (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) zum rechtsverbindlichen Teil des Primärrechts machen (Europäische Verfassung).

3. Regelungsstrukturen des europäischen Arbeitsrechts

Die wesentlichen Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts sind das Primär- und Sekundärrecht, das Richterrecht und die Normsetzung durch die Sozialpartner.

Das Primärrecht umfasst in erster Linie die bereits genannten Gründungsverträge, insbesondere den EG-Vertrag und die Protokolle. Art. 39 EG/45 AEUV und Art. 141 EG/157 AEUV, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Entgeltgleichheit von Mann und Frau regeln, gelten unmittelbar und zwingend in den Mitgliedstaaten. Ebenfalls unmittelbar anwendbar sind die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Art. 43 und 49 EG/49 und 56 AEUV, als europäische Grundfreiheiten, deren Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele der Gemeinschaft ist (Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)).

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Rahmen der Rechtsfortbildung außerdem allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelt, die ebenfalls auf der Ebene des Primärrechts anzusiedeln sind und unmittelbar gelten, so z.B. das Gebot der Verhältnismäßigkeit, der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot des Rechtsmissbrauchs.

Das vom Primärrecht abgeleitete Sekundärrecht ist dem Primärrecht nachrangig und muss sich hinsichtlich seiner Gültigkeit an diesem messen lassen. Das europäische Arbeitsrecht wird durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5(1) EG/ersetzt durch Art. 5(1), (2) EU (2007), im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) bestimmt: Der europäische Gesetzgeber ist nur zuständig, wenn ihn die europäischen Verträge hierzu ermächtigen. Grundlage der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung sind Art. 136 ff. EG/151 ff. AEUV, die Kompetenzen für die Arbeitsumwelt, die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherung, die Mitbestimmung, die Chancengleichheit von Männern und Frauen, den Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorsehen. Von der Rechtsangleichung ausgenommen sind gemäß Art. 137(5) EG/153(5) AEUV das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht. Im kollektiven Arbeitsrecht sind die Regelungskompetenzen daher stark begrenzt. Zugleich darf die Gemeinschaft nach dem Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 EG/ersetzt durch Art. 5 EU (2007)) nur tätig werden, sofern und soweit die verfolgten Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfüllt und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts greifen als Rechtsgrundlage sowohl Richtlinien als auch Verordnungen. Unmittelbar und zwingend wirkende Verordnungen sind im europäischen Arbeitsrecht allerdings eher selten (z.B. die Arbeitnehmerfreizügigkeits-VO [VO 1612/68]).

Häufiger sind Richtlinien, die die nationale Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts respektieren. Die für Richtlinien nur ausnahmsweise zu bejahende Möglichkeit einer unmittelbaren Bindungswirkung (sog. Drittwirkung), die voraussetzt, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, die Richtlinie nicht oder unzulänglich umgesetzt wurde und die betreffende Richtlinienbestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist (EuGH Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825), hat gerade für das Arbeitsrecht Bedeutung erlangt. Grundsätzlich ist auch im Bereich des Arbeitsrechts davon auszugehen, dass Richtlinien keinesfalls eine horizontale (Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien), sondern allenfalls eine vertikale Drittwirkung (Verhältnis Staat-Bürger) zukommen kann (EuGH Rs. 152/84 – Marshall, Slg. 1986, I-723; EuGH Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325). Bei verspäteter Umsetzung ist der Mitgliedstaat den Bürgern zum Ersatz eventueller Schäden verpflichtet (EuGH Rs. C-6/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357). Eine gewisse Durchbrechung dieses Grundsatzes bedeutet allerdings die Mangold-Entscheidung des EuGH (Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981), in der das Gericht im Ergebnis eine unmittelbare horizontale Drittwirkung einer Richtlinie (bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist!) annahm. Der EuGH gelangte zu diesem Ergebnis allerdings über einen Kunstgriff, da er das Verbot der Diskriminierung des Alters als einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts postulierte und so die deutsche Regelung in § 14 Abs. 3 TzBfG für europarechtswidrig erklärte.

Die Schwerpunkte der Rechtsetzung im europäischen Arbeitsrecht lassen sich aufgliedern in (1) Personenverkehrsfreiheiten, (2) Gleichbehandlung (Antidiskriminierung), (3) Individualarbeitsrecht und (4) Kollektives Arbeitsrecht. Diese Regelungsbereiche spiegeln sich in den zahlreichen, bisher auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts ergangenen Richtlinien wider, die u.a. die Gleichbehandlung von Mann und Frau (RL 75/117, RL 2002/73, umgesetzt in §§ 611a und 611b BGB und im AGG, ab 15.8.2009 teilweise neugefasst in RL 2006/54), die Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft und die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf bzgl. der Merkmale Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung (RL 2000/43, 2000/78, umgesetzt im AGG), den Betriebsübergang (RL 2001/23/EG, umgesetzt in § 613a BGB), die Massenentlassung (RL 98/59, umgesetzt in § 17 KSchG), die Befristung/Teilzeit (RL 91/383, RL 97/81, RL 1999/70, umgesetzt im TzBfG), die Arbeitnehmerüberlassung (RL 91/383), die Entsendung von Arbeitnehmern (RL 96/71, umgesetzt im AEntG), den Nachweis der Arbeitsbedingungen (RL 91/533, umgesetzt im NachwG), die Arbeitszeit (RL 2003/88, umgesetzt im ArbZG), den Datenschutz (RL 95/46, umgesetzt im BDSG), die Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats (RL 94/45, umgesetzt im EBRG), die Arbeitnehmermitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (RL 2001/86, umgesetzt im SEBG) regeln.

Ebenfalls zu den Rechtsquellen des europäischen Arbeitsrechts zu zählen ist das europäische Richterrecht. Bei der Ausformung der Grundprinzipien des europäischen Arbeitsrechts kommt dem EuGH (Art. 220 ff. EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007), 251 ff. AEUV) als Motor der Integration sogar besondere Bedeutung zu. Der EuGH hat eine Vielzahl von für die Arbeitsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten richtungsweisenden Entscheidungen gefällt. So ist etwa die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte zu den Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs auf der Grundlage mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH Rs. C-392/92 – Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311; EuGH Rs. C-13/95 – Ayse Süzen, Slg. 1997, I-1259; EuGH Rs. C-340/01 – Abler, Slg. 2004, I-14023; EuGH Rs. C-466/07 – Klarenberg, NZA 2009, 251 ff.) neu ausgerichtet worden. Die aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007)) resultierende Pflicht der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zwingt dazu, die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien auszurichten. Gleiches gilt für das Arbeitszeitrecht. Hier mussten aufgrund der Vorgaben des EuGH insbesondere nationale Regelungen zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft reformiert werden (EuGH Rs. C-303/98, Slg. I 2000, 7963). Die nationalen Gerichte können dem EuGH Fragen zur Auslegung des Vertrages oder einer Richtlinie zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 234(1), (2) EG/267(1), (2) AEUV). Das vorlegende Gericht ist dann an die Entscheidung des EuGH gebunden. Bei Unvereinbarkeit mit dem europäischen Recht kann der EuGH nationale Arbeitsrechtsgesetze für unanwendbar erklären kann.

4. Perspektiven der Vereinheitlichung

Das europäische Gemeinschaftsrecht verfügt auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bis heute über kein einheitliches Gesetz, sondern umfasst punktuelle und fragmentarische Regelungen. Das Erfordernis der Umsetzung von Richtlinien im nationalen Recht führt zu teilweise sehr unterschiedlichen nationalen Regelungen desselben Rechtsbereiches. So wirkt sich etwa der durch das europäische Recht vorgeschriebene Arbeitnehmerschutzes nach einem Betriebsübergang in Mitgliedstaaten, die keinen derart rigiden Kündigungsschutz kennen, wie dies in Deutschland der Fall ist, deutlich schwächer aus. Wesentliche Rechtsbegriffe, wie z.B. diejenigen des Arbeitnehmers, des Arbeitgebers und des Betriebs sind im europäischen Arbeitsrecht uneinheitlich geregelt, allgemeingültige Legaldefinitionen fehlen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht in Europa kann daher nicht gesprochen werden.

Dennoch gibt es heute kaum noch weiße Flecken im europäischen arbeitsrechtlichen Regelungsgefüge. Das europäische Arbeitsrecht hat sich zu einem eigenständigen Rechtsgebiet fortentwickelt. Parallel zu der Entwicklung der Europäischen Union von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Sozialunion ist auch im Bereich des europäischen Arbeitsrechts eine stetige Zuständigkeitsverlagerung von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Union zu beobachten. Die europäischen Vorgaben tragen entscheidend dazu bei, dass die Kernbereiche des Arbeitsrechts in den Mitgliedstaaten zunehmend einander angenähert werden, auch wenn die europäische Herkunft der nationalen Normen aufgrund der nötigen Umsetzung verschleiert wird. Die Zahl der existierenden Richtlinien ist in den letzten Jahren derart angestiegen, dass die Staaten in wesentlichen Grundfragen ihrer Arbeits- und Sozialpolitik festgelegt sind. Auch der EuGH stellt mittlerweile Grundprinzipien für die nationale Arbeitsrechtsordnung auf. Das europäische Arbeitsrecht verändert damit nicht nur das nationale Arbeitsrecht, sondern wirkt sich unmittelbar auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse, ihren Inhalt und ihre Gestaltung aus. Die Regelungsdichte trägt zu einer fortschreitenden Rechtsharmonisierung bei. Insgesamt gesehen ist es angesichts der Vielzahl der europarechtlichen Normen verschiedenster Regelungsbereiche und Rangebenen immer schwieriger geworden, das rechtliche und praktische Zusammenwirken dieser Normen und ihre Relevanz für das nationale Arbeitsrecht exakt nachzuvollziehen.

Die Europäisierung des Arbeitsrechts schreitet somit unaufhaltsam fort; das nationale Arbeitsrecht wird mehr und mehr durch die Vorgaben des Europarechts determiniert. Diese Entwicklung wird in den Mitgliedstaaten nicht durchgehend positiv bewertet. Der Eingriff des EuGH in die innerstaatlichen Rechtsordnungen wird von Teilen insbesondere des deutschen Schrifttums sehr kritisch gesehen, teilweise wird dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung oder zumindest eine Missachtung der natio-nalen Rechtsordnungen vorgeworfen; von einer „Schwarzen Serie“ des EuGH war die Rede. In der Tat hat der EuGH in mehreren Urteilen der jüngeren Zeit massive Eingriffe in nationales Recht vorgenommen. Auf Kritik stießen neben der bereits zitierten Mangold-Entscheidung des EuGH, in der der Gerichtshof „aus dem Nichts“ einen neuen primärrechtlichen Grundsatz entwickelte, die Urteile zu den Rechtssachen Junk (Rs. C-188/03, Slg. 2005, I-885), Paletta (Rs. C-206/94, Slg. 1996, I-2357) und Christel Schmidt (Rs. C-392/92, Slg. 1994, I-1311) sowie jüngst das Klarenberg-Urteil (Rs. C-466/07, NZA 2009, 251 ff.). Von Rechtswissenschaftlern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kontrovers diskutiert wurde das von der Kommission am 22.11.2006 vorgelegte Grünbuch „Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (KOM(2006) 708 endg.), das unter dem Schlagwort „Flexicurity“ die Weiterentwicklung des europäischen Arbeitsrechts unter Berücksichtigung sowohl der Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber als auch der Sicherheitsinteressen der Arbeitnehmer vorantreiben sollte. Die Bestrebung, sog. Non-Standardverträge und atypische Arbeitsverhältnisse wieder dem Schutzkreis des Arbeitsrechts zu unterstellen, wurde kritisiert, weil es die bestehenden rigiden Rahmenbedingungen, die den Anstoß zu dieser Flucht in die prekären Arbeitsverhältnisse gegeben hätten, zu wenig berücksichtige. Das Grünbuch wurde mittlerweile von der Kommission zurückgestellt. Aufgrund der erheblichen Unterschiede, die der Sozialschutz in den einzelnen Mitgliedstaaten aufweist, ist das Ziel, arbeitsrechtliche „Minimumstandards“ zu verankern, auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Ein denkbarer erster Schritt könnte es jedoch sein, arbeitsrechtliche Grundbegriffe, etwa diejenigen des Arbeitnehmers und der arbeitnehmerähnlichen Person, einheitlich zu definieren.

Literatur

Günter Hirsch, Die europäische Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof: Eine wechselvolle Beziehung, Recht der Arbeit 1999, 48 ff.; Hellmut Wißmann, Arbeitsrecht und Europarecht, Recht der Arbeit 1999, 152 ff.; Dieter Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001; Peter Hanau, Heinz-Dietrich Steinmeyer, Rolf Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; Robert Rebhahn, Ziele und Probleme der Arbeitsrechtsvergleichung in Europa, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 10 (2002) 436 ff.; Catherine Barnard, EC Employment Law, 3. Aufl. 2006; Maximilian Fuchs, Franz Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2006; Martin Henssler, Axel Braun, Arbeitsrecht in Europa, 2. Aufl. 2007; Gregor Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2008; Roger Blanpain, European Labour Law, 11. Aufl. 2008.