Rechtsvergleichung

Aus HWB-EuP 2009
Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (1 Version importiert)

von Ralf Michaels

1. Begriff und Zweck

Rechtsvergleichung beschäftigt sich, wie der Begriff im Deutschen klarer ausdrückt als in anderen Sprachen (comparative law, droit comparé) mit dem Verhältnis von Rechten. Makrovergleichung beschäftigt sich mit ganzen Rechtsordnungen; Mikrovergleichung betrifft spezielle Institute oder auch spezielle Probleme. Rechtsvergleichung geht damit weiter als die oft als „bloße Auslandsrechtskunde“ abgetane Information über ausländisches Recht. Allerdings darf der Unterschied nicht übertrieben werden. Erstens ist gute Kenntnis des ausländischen Rechts unabdingbare Voraussetzung jeder Rechtsvergleichung. Zweitens hat auch die Auslandsrechtskunde notwendig ein vergleichendes Element: Weil der Rechtsvergleicher regelmäßig aus der Perspektive (und auch oft für die Perspektive) einer bestimmten Rechtsordnung auf eine andere schaut, wird das fremde Recht regelmäßig ganz automatisch im Verhältnis zum eigenen Recht verstanden und erklärt.

Der eigentliche Vergleich von Rechtsordnungen, also die Erkenntnis, Erklärung und Bewertung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, ist nur einer mehrerer Schwerpunkte heutiger Rechtsvergleichung als Diszpiplin. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft den Einfluss zwischen Rechtsordnungen, insbesondere die Rezeption einzelner Rechtsinstitute oder auch ganzer Rechtsordnungen. Auf Europa bezogen, umfasst das einerseits den Einfluss auf das europäische Privatrecht durch verschiedene Rechtsordnungen (etwa römisches Recht, die Rechte der Mitgliedstaaten, Recht nichteuropäischer Staaten), andererseits die Ausstrahlungen des europäischen Privatrechts auf außereuropäische Rechtsordnungen. Ein dritter Schwerpunkt der Rechtsvergleichung, der Anfang des 20. Jahrhunderts viel behandelt wurde und heute wieder im Aufschwung ist, liegt im Verständnis der Rechtsvergleichung als allgemeiner Rechtslehre, also als derjenigen Disziplin, die die verschiedenen Rechtsordnungen in ihrer Gesamtheit und ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen versucht, ohne dabei notwendig die bestehenden Unterschiede zu leugnen oder aufzuheben.

Verschiedene Zwecke werden der Rechtsvergleichung zuerkannt: Sie soll die nationale Gesetzgebung inspirieren, Richtern bei der Auslegung schwieriger Fragen helfen und die Grundlage für die Vereinheitlichung oder Harmonisierung des Rechts legen – oder auch einfach nur der Erkenntnis dienen und das Bewusstsein erweitern, insbesondere in der Juristenausbildung. All dies sind indes Zwecke, die Rechtswissenschaft immer erfüllen soll. So gesehen ist Rechtsvergleichung nur eine spezielle Form allgemeiner Rechtswissenschaft oder, andersherum, vollständige Rechtswissenschaft (und mit Einschränkungen Rechtspraxis) muss eine vergleichende Komponente beinhalten.

2. Methode

In jüngster Zeit werden verstärkt die methodischen und theoretischen Grundlagen der Rechtsvergleichung diskutiert, ohne dass sich bislang ein Konsens herausgebildet hätte oder die Diskussion wesentlichen Einfluss auf die praktische Rechtsvergleichung ausübte. Im Wesentlichen lassen sich zwei Methoden unterscheiden, funktionale und kulturelle Rechtsvergleichung.

Die funktionale Rechtsvergleichung, popularisiert vor allem durch Konrad Zweigert und Hein Kötz, geht davon aus, dass die Funktion des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher Probleme liegt und alle Gesellschaften im wesentlichen mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Vergleichbar sind demnach Rechtsinstitute, die die gleiche Funktion erfüllen, selbst wenn sie dogmatisch ganz unterschiedlich ausgestaltet werden; sie sind damit funktionsäquivalent. So kann etwa die common law-Figur der consideration mit Formerfordernissen des deutschen Rechts verglichen werden, weil beide die gleichen Funktionen erfüllen: Warnung vor überstürztem Vertragsschluss und Bestätigung der Seriosität eines Vertragsversprechens (Seriositätsindizien). Die Beziehung von Rechtsnormen auf Probleme soll es auch ermöglichen, das bessere Recht zu bestimmen und auf dieser Grundlage gegebenenfalls nationales Recht zu verbessern oder internationales Einheitsrecht zu schaffen.

Die hier so genannte kulturelle Rechtsvergleichung dagegen (manchmal auch als comparative legal studies oder comparative legal cultures bezeichnet) lehnt die Reduzierung des Rechts auf seine Funktion ab und versteht stattdessen das nationale Recht als Ausdruck und Ausprägung der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft (Rechtskultur). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Mentalität, die sich in einer Rechtsordnung ausdrückt und die letztlich nicht für Beobachter völlig erklärbar, sondern nur durch Teilnehmer erspürbar sein soll. Weil Kulturen als unüberbrückbar unterschiedlich angesehen werden (insbesondere soll das für den Gegensatz zwischen civil und common law gelten) und die Eigenständigkeit verschiedener Kulturen schützenswert sei, wendet sich die kulturelle Rechtsvergleichung meist sowohl gegen die vergleichende Bewertung als auch gegen die Vereinheitlichung des Rechts; sie fordert Toleranz gegenüber dem fremden Recht und der Differenz an sich.

Die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen sind kleiner, als die teilweise heftige Diskussion es erscheinen lässt. Beide Ansätze wenden sich dagegen, die Analyse auf Rechtsregeln (black letter law) zu beschränken, und suchen stattdessen nach der Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Beide Ansätze lassen die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bestehen – auch die funktionale Rechtsvergleichung postuliert als Vermutung nicht, wie oft behauptet wird, die Identität zwischen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern die Funktionsäquivalenz, also die Gleichheit in der Problemlösung bei Verschiedenheit im Lösungsweg. Diese Verschiedenheit lässt sich durchaus sinnvoll mit Rechtskultur bezeichnen. Diese Einsicht wird neuerdings für den Versuch genutzt, Rechtskultur und Funktionsäquivalenz unter dem Aspekt des rechtlichen Paradigmas zusammenzubringen. Paradigma bezeichnet dabei die Art und Weise, mit der rechtsordnungsspezifisch (kulturell) über rechtliche Probleme nachgedacht wird bzw. diese (funktionsäquivalent) gelöst werden.

3. Entwicklung

Rechtsvergleichung im weiteren Sinne gibt es, seit es Recht gibt. Im engeren Sinne freilich wurde Rechtsvergleichung erst möglich, als man unterschiedliche Rechtsordnungen strikt zu trennen begann, also insbesondere mit dem Aufkommen des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Solange sich die Gesetzgeber in Europa mit Rechtsetzung im Privatrecht zurückhielten, wurden Privatrechtswissenschaft und ‑praxis nicht auf explizit vergleichender Grundlage betrieben, sondern innerhalb des gemeinsamen Rahmens von ius commune, lex mercatoria oder Naturrecht. Der häufige Bezug auf ausländische Autoritäten bedeutete hier nicht die Vergleichung verschiedener Rechtsordnungen sondern die Verwendung von Stimmen zum als gemeinsam verstandenen Recht.

Erst seit dem 19. Jahrhundert, als das Privatrecht in den kontinentaleuropäischen Staaten kodifiziert und damit nationalisiert wurde (Kodifikation), entwickelte sich die moderne europäische Rechtsvergleichung. Rechtsvergleichende Zeitschriften entstanden, rechtsvergleichende Gesellschaften wurden gegründet, die bezeichnenderweise national waren, denn der Hauptzweck der Rechtsvergleichung lag lange in der Inspiration für staatliche Gesetzgebung. Gleichzeitig erlebte die Rechtsvergleichung eine doppelte Beschränkung, die bis heute weitgehend anhält. Erstens konzentrierte man sich wesentlich auf Europa. Frühere Kolonien (mit Ausnahme der USA) wurden als nicht genügend eigenständig angesehen und weitgehend vernachlässigt; nicht europäisch geprägte Rechtsordnungen insbesondere in Asien, Afrika und im Pazifik wurden aus der Rechtsvergleichung ausgegliedert und der neu entstehenden Rechtsethnologie zugeschlagen. Zweitens konzentrierte sich die Rechtsvergleichung ganz wesentlich auf das Privatrecht, das als unpolitisch angesehen wurde und daher als einziger Teilbereich des Rechts für eine streng rechtswissenschaftliche Vergleichung geeignet schien. Ein Hauptfokus der Rechtsvergleichung war dabei lange Zeit der Gesetzesvergleich insbesondere zwischen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die in verschiedene Rechtskreise aufgeteilt wurden (Rechtskreislehre). Der Vergleich zwischen kontinentaleuropäischem civil law (das den von Frankreich geprägten romanistischen und den von Deutschland beeinflussten germanistischen Rechtskreis umfasste) und englischem common law, das unkodifiziert war und traditionell stärker auf Fallrecht und induktiver Methode beruhte, stellte dagegen vor erhebliche Herausforderungen.

Seit dem ersten rechtsvergleichenden Weltkongress 1900 in Paris (der etwas willkürlich als Geburtsstunde moderner Rechtsvergleichung angesehen wird) hat die wissenschaftliche Rechtsvergleichung Fortschritte gemacht. Die Rechtsvergleichung geht nun über den Text von Rechtsregeln hinaus und vergleicht das law in action; das erleichtert den Vergleich zwischen civil und common law. Zudem zielt man nun stärker auf die Erarbeitung eines gemeinsamen supranationalen Rechts – wenn schon nicht auf weltweiter, so doch auf europäischer Ebene. Im 20. Jahrhundert haben sich verstärkt internationale Arbeitsgruppen gebildet, die diese Vereinheitlichung vorantreiben, sei es auf politischer oder auf rechtswissenschaftlicher Basis. Die doppelte Beschränkung des 19. Jahrhunderts auf Europa und auf als unpolitisch angesehenes Privatrecht wirkt aber fort. Nur so lässt sich erklären, dass es lange umstritten blieb, ob man westliches mit sozialistischem Recht sinnvoll vergleichen könne. Auch blieb das Privatrechtsverständnis der Rechtsvergleichung lange im Ideal des 19. Jahrhunderts verhaftet; die Wandlungen des Privatrechts im 20. Jahrhundert (Konstitutionalisierung, Materialisierung, Privatrecht als regulatives Instrument) werden noch heute häufig entweder ignoriert oder als Verfälschungen eines Privatrechtsideals abgelehnt. Aus diesem Grunde ist die Verbindung zwischen dem apolitischen Privatrecht der klassischen Rechtsvergleichung und dem regulativen Privatrechtsverständnis des Gemeinschaftsrechts bis heute unvollkommen.

4. Europäische Privatrechtswissenschaft

Die europäische Privatrechtswissenschaft ist aus der Rechtsvergleichung entstanden, geht aber mittlerweile über diese hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Forderungen nach einem europaweiten auf rechtsvergleichender Grundlage zu erstellenden Privatrecht. Etwa seit Anfang der 1990er Jahre sind solche Stimmen intensiver geworden; man erstrebt ein europäisch-einheitliches Privatrecht, das entweder mithilfe der durch funktionale Rechtsvergleichung gefundenen Gemeinsamkeiten oder auf Grundlage des alten oder eines neu zu schaffenden ius commune zu erreichen ist. Seitdem hat die innereuropäische Rechtsvergleichung in Lehre und Wissenschaft mehr Beachtung erhalten. Rechtsvergleichende Lehrbücher zum europäischen Privatrecht, teilweise in Form von casebooks mit Primärtexten aus dem jeweiligen Recht, ermöglichen Studenten den Zugang zu anderen Rechts-ordnungen. Größere rechtswissenschaftliche Untersuchungen zu rechtsdogmatischen Fragen enthalten regelmäßig einen rechtsvergleichenden Teil; explizit rechtsvergleichende Projekte sind höher geschätzt als früher. Schließlich ist auch die internationale Zusammenarbeit angestiegen (teilweise durch Fördergelder der EU). Es gibt mehrere neue rechtsvergleichend-/‌europäischrechtliche Zeitschriften. Vor allem arbeiten verschiedene internationale Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Zielen explizit rechtsvergleichend an einem Europäischen Privatrecht.

Unter den verschiedenen Projekten ist die Rechtsvergleichung am wichtigsten für das common core-Projekt, das aufgrund detaillierter rechtsvergleichender Fallstudien Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen europäischen Rechtsordnungen erarbeitet und weitgehend ohne eigene Wertungen darstellt. Andere Gruppen wie die Lando-Komission (Principles of European Contract Law) und die daraus hervorgegangene Study Group on a European Civil Code sowie die European Group on Tort Law (Principles of European Tort Law) verbinden rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit normativer Suche nach der besten Lösung (Restatements). Für Projekte der Gemeinschaft, die ein stärker regulatives Privatrechtsverständnis haben, gleich ob sie stärker ein liberal-marktbezogenes oder ein ausgleichend-soziales Privatrecht bevorzugen, ist die Vergleichung der regelmäßig weniger regulativen Privatrechte der Mitgliedstaaten oft weniger wichtig als der Zusammenhang zum Gemeinschaftsrecht. Insgesamt ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von mehreren Elementen europäischer Privatrechtswissenschaft; weder als Grundlage noch als Legitimation ist sie allein ausreichend.

Ähnliches gilt unter Gegnern einer europäisierten Privatrechtswissenschaft. Lange Zeit waren Rechtsvergleicher fast geschlossen für eine europäisierte Privatrechtswissenschaft; Widerstand kam nur von auf nationales Recht beschränkten Wissenschaftlern. Inzwischen gibt es auch Rechtsvergleicher, die ein notwendig national geprägtes Rechtsverständnis als Argument gegen europäisierte Privatrechtswissenschaft anführen, und andere, die eine europäische Diskussion befürworten, nicht aber eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung. Die lange Zeit als fast notwendig angesehene Verbindung zwischen Rechtsvergleichung und ‑vereinheitlichung wird so gelockert, was neue Freiheiten für beide Seiten erzeugt.

Ob und wie Unterschiede durch Vereinheitlichung überwunden werden sollen, lässt sich nur mit Argumenten beurteilen, die der rechtsvergleichenden Analyse selbst nur beschränkt entnommen werden können. Eben deshalb ist die Rechtsvergleichung für die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts zwar nötig aber allein unzureichend. Denn das Europäische Privatrecht muss die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen überwinden oder zumindest verarbeiten, und es muss nicht nur die Rolle des Rechts in der Gesellschaft bestimmen, sondern zuallererst Rechtsregeln und eine europäische Rechtsdogmatik erarbeiten.

5. Europäische Rechtsetzung

Für Institutionen der Europäischen Union ist rechtsvergleichende Arbeit aus mehreren Gründen wesentlich. Schon die Frage, ob die EU überhaupt tätig werden soll und darf, hat regelmäßig eine rechtsvergleichende Komponente. Ob etwa Rechtsunterschiede bestehen, die den europäischen Binnenmarkt behindern, ob das nationale Recht gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zur Regelung unzureichend ist; all das lässt sich im Grunde ohne rechtsvergleichende Untersuchung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen nicht bestimmen. Freilich werden die eigentlich vom EG-Vertrag geforderten empirischen Untersuchungen insoweit nur sehr selten umfassend geleistet; oft sind Binnenmarktrelevanz und Notwendigkeit der Regelung auf europäischer Ebene bloße unsubstantiierte Behauptungen.

Beschließt die EU, eine Regelung zu erlassen, so ist sie allerdings stärker auf rechtsvergleichende Vorarbeiten angewiesen als es bei der Rechtsetzung im Einzelstaat der Fall ist. Wenn die EU neue Regelungsbereiche erschließt, fehlt es ihr insoweit oft an einer eigenen Rechtstradition, an die sie anschließen kann; sie muss schon deshalb auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten zurückgreifen oder sich an den Erfahrungen nichteuropäischer Rechtssysteme orientieren. Dem Erlass gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gehen häufig umfangreiche rechtsvergleichende Vorarbeiten voraus, die, wenn sie intern erarbeitet werden, bedauerlicherweise nicht veröffentlicht werden. Für größere Projekte werden oft Wissenschaftler außerhalb der EU-Institutionen mit solchen Vorarbeiten betraut.

Schließlich ist Rechtsvergleichung auch in der Implementationsphase wesentlich. Weil das Gemeinschaftsrecht das mitgliedstaatliche Recht nicht einfach ersetzt, sondern auf komplexe Weise mit ihm verzahnt ist, setzen die erfolgreiche Implementierung des Gemeinschaftsrechts und deren in Art. 211 EGV/‌17 AEUV geforderte Überwachung ein gutes Verständnis der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung voraus, und zwar im Vergleich sowohl mit anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch mit dem Gemeinschaftsrecht selbst.

6. Europäische Rechtsprechung

Rechtsvergleichung ist wichtig auch beim Europäischen Gerichtshof, obwohl dieser auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt ist und zur korrekten Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht Stellung nimmt. Ob etwa die Anwendung mitgliedstaatlicher Regelungen dadurch die Grundfreiheiten verletzen, dass sie Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Anforderungen ihres Heimatrechts zusätzliche Belastungen auferlegen, kann oft nur im Vergleich der betroffenen Rechtsordnungen ermittelt werden. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts erfolgt zwar grundsätzlich autonom. Das schließt aber nur den unmittelbaren Rückgriff auf das Recht eines einzelnen Mitgliedstaats aus, nicht notwendig aber den auf die rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Unbestreitbar erforderlich ist die „wertende“ Rechtsvergleichung zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Daneben wird die Rechtsvergleichung auch zur Ausfüllung von Lücken im Gemeinschaftsrecht herangezogen, wo die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen übereinstimmen oder zumindest eine dominante Tendenz erkennen lassen. Das kann problematisch werden, insofern es die Kompetenzordnung des Gemeinschaftsrechts zu untergraben droht. Wo das Gemeinschaftsrecht eigene Ziele gerade im Widerspruch zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verfolgt, ist der Rückgriff wohl ausgeschlossen.

Beim EuGH übernimmt hauptsächlich der Generalanwalt die rechtsvergleichende Vorarbeit, wenn auch mit starken Unterschieden in Umfang und Qualität. Der EuGH kann aber auch die Parteien, insbesondere die Kommission, zu rechtsvergleichender Vorarbeit auffordern; er erarbeitet zudem interne, unveröffentlichte, rechtsvergleichende Studien.

Keine echte Rechtsvergleichung ist es, wenn mitgliedstaatliche oder europäische Gerichte sich auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten berufen (was sie nicht immer genügend tun), denn dabei handelt es sich um Diskussion innerhalb ein und derselben Rechtsordnung. Anders ist es bei der rechtsvergleichenden Interpretation des innerstaatlichen Rechts; diese kann langfristig zur Konvergenz eines gemeineuropäischen Privatrechts führen.

7. Ausblick

Insgesamt emanzipiert sich die europäische Privatrechtswissenschaft zur Zeit von der Rechtsvergleichung in ähnlicher Weise, wie sich das Europarecht vor längerem vom Völkerrecht und dem nationalen Verfassungsrecht emanzipiert hat. Nun, da ein erheblicher Kenntnisstand in der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung erreicht ist, ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von vielen Momenten des Europäischen Privatrechts. Sollte ein Gemeinsamer Referenzrahmen oder gar ein Europäisches Zivilgesetzbuch Erfolg haben, so können diese Texte nicht nur auf Rechtsvergleichung beruhen, sondern müssen auch aus anderen Gründen überzeugen. Dass damit die Bedeutung der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung relativiert wird, hilft dem Europäischen Privatrecht, sich stärker auch auf seine normativen Ziele und seine Verbindung zur Gemeinschaft und ihrem sonstigen Recht zu konzentrieren. Gleichzeitig hilft es der europäischen Rechtsvergleichung dabei, wieder verstärkt auch andere Fragen als die der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung ins Auge zu fassen. In dem Maße, in dem das Europäische Privatrecht sich von der Rechtsvergleichung emanzipiert, ist auch zu hoffen, dass die Rechtsvergleichung sich wieder stärker anderen Materien als dem Privatrecht zuwendet und dass der Vergleich mit außereuropäischen Rechtsordnungen, der über lange Zeit stark in den Hintergrund getreten ist, umfassender betrieben wird.

Literatur

International Encyclopedia of Comparative Law (IECL), 1967 ff.; Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Aufl. 1996; Mathias Reimann, The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 671 ff.; Pierre Legrand, Roderick Munday (Hg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, 2003; François R. van der Mensbrugghe (Hg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen, 2003; Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006; Jan M. Smits (Hg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006; Ralf Michaels, Two Paradigms of Jurisdiction, Michigan Journal of International Law 27 (2006) 1003 ff.; James Gordley, Foundations of Private Law: Property, Tort, Contract, Unjust Enrichment, 2007; Esin Örücü, David Nelken (Hg.), Comparative Law: A Handbook, 2007.

Abgerufen von Rechtsvergleichung – HWB-EuP 2009 am 27. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).