Allgemeine Rechtsgrundsätze

Aus HWB-EuP 2009

von Axel Metzger

1. Bedeutung, Begriff

Allgemeine Rechtsgrundsätze (general principles, principes généraux) sind als Rechtsquelle von hervorgehobener Bedeutung für das europäische Privatrecht. Zum einen greift der EuGH seit den 1950er Jahren regelmäßig auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurück, um das nach wie vor lückenhafte Gemeinschaftsrecht zu ergänzen und auszulegen. Art. 288(2) EG/340(2) AEUV verweist für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ausdrücklich auf die ergänzende Heranziehung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der EuGH greift auf allgemeine Rechtsgrundsätze aber nicht nur in diesem speziellen Bereich, sondern in allen Gebieten des Gemeinschaftsrechts zurück. Zum anderen arbeiten mehrere Wissenschaftsprojekte an der Sammlung zumeist rechtsvergleichend ermittelter „Principles“. Beispielhaft sei die älteste dieser europäischen Gruppen, die Commission on European Contract Law genannt, die zum Abschluss ihrer Arbeiten den dritten Teil der PECL vorgelegt hat. Vergleichbare Gruppen sind für eine Reihe weiterer privatrechtlicher Gebiete entstanden, etwa für das Delikts- und Familienrecht, das Versicherungsvertragsrecht und das Recht des Trusts. Im internationalen Rahmen sind die UNIDROIT PICC zu nennen. Die EuGH-Rechtsprechung und die Arbeit der Wissenschaftlergruppen stellen nur einen Ausschnitt des Gesamtphänomens der allgemeinen Rechtsgrundsätze im europäischen Privatrecht dar. Rechtsgrundsätze erfüllen auch innerhalb der nationalen Systeme und im Einheitsrecht zentrale Funktionen bei der Rechtsfindung.

Eine einheitliche Begriffsbestimmung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes hat sich bislang nicht herausgebildet. Eine Strömung setzt bei der besonderen Bedeutung der Norm für die in Frage stehende Rechtsordnung an und möchte allgemeine Rechtsgrundsätze im Wege der Gesamt- oder Rechtsanalogie aus einzelnen Vorschriften ableiten. Andere Ansätze erkennen nur rechtsordnungsübergreifende oder mehrere Epochen transzendierende Prinzipien als „allgemeine“ Grundsätze an. Gängig ist des Weiteren die Auffassung, Rechtsgrundsätze seien Verbindungsglieder zwischen positivem Recht und außerrechtlichen Normen. International weite Verbreitung hat die von Ronald M. Dworkin und Robert Alexy vertretene Begriffsbestimmung gefunden, wonach Prinzipien als „Optimierungsgebote“ miteinander abzuwägen seien und lediglich prima facie-Geltung besäßen, während Re- geln definitive Gebote enthielten und eine Alles oder nichts-Wirkung aufwiesen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob es sich insoweit um ein für das Privatrecht geeignetes Abgrenzungskriterium handelt.

Nimmt man die genannten Begriffsbestimmungen insgesamt in den Blick, so bietet sich folgende Definition an: Normen sind allgemeine Rechtsgrundsätze, wenn sie durch einen Induktionsschluss aus besonderen Rechtsregeln abgeleitet werden; als Quellen kommen dabei Rechtsregeln aus derselben Rechtsordnung, aus anderen Jurisdiktionen oder aus älterem Recht in Betracht. Eine solche Definition hat den Vorzug, ein gemeinsames Begriffsdach für rein interne, für rechtsordnungsübergreifende sowie für überhistorische Prinzipien zu bieten. Sie ermöglicht zugleich eine klare Abgrenzung von anderen Normtypen anhand eines prozeduralen Kriteriums. Die Begriffsbestimmung umfasst allerdings nicht alles, was im juristischen Alltagsprachgebrauch als „Prinzip“ bezeichnet wird, insbesondere nicht die besonders bedeutsamen Kopfnormen in Kodifikationen (etwa § 812 BGB oder Art. 1382 Code civil). Dies betrifft aber alle gängigen Begriffsbestimmungen. Sie bilden jeweils nur Teilausschnitte des Sprachgebrauchs ab oder sind so amorph, dass letztlich alles und nichts als Rechtsgrundsatz bezeichnet werden kann.

2. Historische Perspektive

Allgemeine Rechtsgrundsätze sind keine Neuentdeckung des heutigen europäischen Privatrechts. In den Digesten (D. 50,17,1) (Corpus Juris Civilis) findet sich ein Fragment des aus der klassischen Periode stammenden Juristen Paulus, welches bereits einige der methodischen Probleme behandelt, die sich aus der Ableitung und Anwendung von Rechtsgrundsätzen ergeben. Die Rolle von verfestigten Spruchregeln (regula iuris) und sonstigen Verallgemeinerungen aus dem römischen Fallrecht ist dementsprechend gut erforscht.

Einen weiteren Ansatzpunkt im römischen Recht bietet der praetor peregrinus, welcher in Prozessen zwischen römischen Bürgern und Fremden und zwischen Fremden nicht das ius civile, sondern das auf vermeintlich gemeinsamen Grundsätzen beruhende ius gentium anwendete. Die romanistische Forschung geht heute allerdings davon aus, dass hierbei nicht rechtsvergleichend gearbeitet wurde, sondern dass das ius gentium dazu diente, die römisch-rechtlichen Regeln, nun allerdings befreit von ihrem strengen Formalismus, auch auf Nicht-Römer anzuwenden. Der Vergleich mit rechtsordnungsübergreifenden Prinzipien moderner Art ist deshalb nur unter Vorbehalt sinnvoll. Gleiches gilt für das christlich-mittelalterliche Naturrecht, insbesondere bei Thomas von Aquin, sowie die frühneuzeitliche Naturrechtslehre des Hugo Grotius. Die dort jeweils anzutreffende Berufung auf allgemeine Rechtsgrundsätze war vor allem darauf gerichtet, das positive Recht durch außerrechtliche Grundsätze, sei es die lex divina, sei es das Vernunftrecht, abzusichern, zu ergänzen und zu korrigieren.

Aus der Perspektive des europäischen Privatrechts hat sich bislang vor allem der Vergleich mit den wissenschaftlichen Vorarbeiten zu den nationalen Kodifikationen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert, insbesondere in Frankreich, als gewinnbringend erwiesen. Den allgemeinen Rechtsgrundsätzen kam hier eine ähnliche Funktion zu wie im heutigen Prozess der europäischen Rechtsangleichung. Es waren mehrere Partikularrechte innerhalb eines zusammen wachsenden Wirtschaftsraums zu harmonisieren. Vor diesem Hintergrund bemühte sich die Wissenschaft um die Erarbeitung eines „Droit commun de la France“, welches zunächst nur in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze vorlag, später jedoch die Grundlage der Arbeiten am Code civil bildete.

3. Typologie

Für das heutige europäische Privatrecht lassen sich drei Typen von Rechtsgrundsätzen unterscheiden.

Den ersten Typus bildet der Rechtsgrundsatz aus interner Induktion. Durch Verallgemeinerung interner Rechtsregeln gewonnene Grundsätze gründen auf der Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs von Normen des staatlich gesetzten oder staatlich anerkannten Rechts. Prototypisch ist die Ermittlung von Rechtsgrundsätzen durch Gesamtanalogie, bei der aus mehreren gesetzlichen Einzelvorschriften ein Rechtsgrundsatz abgeleitet wird, der dann als mehr oder weniger verselbstständigte Norm angewendet werden kann.

Hiervon zu unterscheiden ist als zweiter Typus der rechtsordnungsübergreifende Grundsatz. Grundsätze dieses Typus sind das Ergebnis einer Induktion aus externen Quellen, das heißt, es werden Rechtsregeln von ausländischen Rechtsordnungen oder – bei föderal organisierten Privatrechtssystemen – von anderen Teilrechtsordnungen als Grundlage für die Bildung allgemeiner Prinzipien herangezogen. Wird der entsprechend gebildete Grundsatz auch in einem Drittstaat angewendet, der keine entsprechenden Rechtsregeln vorsieht, so findet eine räumliche Ausweitung des Anwendungsbereichs staatlich gesetzten Rechts über die jeweiligen Staatsgrenzen hinaus statt.

Den dritten Typus bildet der „überhistorisch gültige Rechtsgrundsatz“. Wird ein Satz älteren, an sich außer Kraft getretenen Rechts zum allgemeinen Rechtsgrundsatz erhoben und insofern verallgemeinert, so bedeutet dies eine Ausweitung des zeitlichen Anwendungsbereichs der herangezogenen historischen Rechtsregel.

Es liegt auf der Hand, dass vielfältige Mischformen zwischen den genannten Grund- und Untertypen vorkommen. Induktiv aus dem Gesetzesrecht eines Landes gewonnene Normen können zugleich durch rechtshistorische Argumente abgestützt sein; allgemeine Rechtsgrundsätze können als gemeinsames rechtshistorisches Erbe in das gesetzte Recht verschiedener Staaten übernommen worden sein und deshalb auch rechtsvergleichend begründet werden etc. Dass zur Herleitung eines Rechtsgrundsatzes, wenn möglich, mehrere Begründungen herangezogen werden, darf aber nicht zur Fehlannahme führen, dass die einzelnen Typen unselbstständig sind. Es lassen sich für jede der genannten Kategorien auch genuine Beispiele anführen, welche ausschließlich die Eigenschaften des jeweiligen Typs aufweisen.

4. Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze in der Rechtspraxis

Die verschiedenen Typen von Rechtsgrundsätzen lassen sich auf allen Ebenen des europäischen Mehrebenensystems finden. Sie sind jedoch von durchaus unterschiedlicher Bedeutung im jeweiligen Zusammenhang.

a) Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten

In den nationalen Systemen der Mitgliedstaaten dominiert der allein aus Regeln der eigenen Ordnung abgeleitete Grundsatz. So leitet man in Deutschland aus den Vorschriften der §§ 171, 172 BGB (Schutz des gutgläubigen Geschäftsgegners gegen eine in Wahrheit nicht bestehende Vollmacht) und § 405 BGB (Schutz des gutgläubigen Zessionars gegen den Einwand des Scheingeschäfts) den Grundsatz der Rechtsscheinhaftung im Bürgerlichen Recht ab. Der „Rechtsgedanke der Rechtsscheinhaftung“ wird von den Gerichten etwa zur Begründung der Duldungs- und Anscheinsvollmacht, zur Verneinung der Anfechtbarkeit einer abredewidrig ausgefüllten Blanketturkunde und im Hypothekenrecht herangezogen.

Auch in England werden „general principles“ aus einzelnen, zumeist fallrechtlichen Regeln abgeleitet. Insoweit handelt es sich um eine funktionsäquivalente Methode. Ein klassisches Beispiel bietet die Entscheidung Donoghue v. Stevenson (1932) AC 562, in welcher das House of Lords einzelne Fälle der deliktischen Fahrlässigkeitshaftung zu einem allgemeinen Prinzip erweiterte, dem heute allgemein anerkannten „tort of negligence“. Die englischen Richter sind allerdings vorsichtiger in der Formulierung und in der Anwendung von Prinzipien. Auch werden diese nicht zu umfassenden Systemzusammenhängen vereinigt.

Fragt man nach der Bedeutung rechtsvergleichender Prinzipien in der Rechtspraxis der Mitgliedstaaten, so gibt es bislang nur vereinzelte Anhaltspunkte. Mitgliedstaatliche Gerichte argumentieren ohnehin nur selten rechtsvergleichend, zur Ableitung international anerkannter Grundsätze kommt es noch seltener. Aber es finden sich auch Beispiele für eine solche Methode, und zwar in den weniger bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten, beispielsweise den Niederlanden und Österreich, sowie in England mit Blick auf andere common law-Jurisdiktionen.

In den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen dient der allgemeine Rechtsgrundsatz schließlich auch dazu, an sich außer Kraft getretenes Recht weiterhin heranziehen zu können. Ein Beispiel aus dem französischen Recht bietet der dem ius commune entstammende Grundsatz contra non valentem agere non currit præscriptio (Verjährung). Obwohl Art. 2251 Code civil die Hemmung der Verjährungsfrist ausdrücklich auf die im Gesetz genannten Fälle beschränkt, hat die Cour de Cassation unter Berufung auf das genannte „principe général“ mehrere ungeschriebene Fälle der Hemmung anerkannt, in denen der Gläubiger unverschuldet nicht entsprechend tätig werden konnte.

b) Gemeinschaftsrechtliche Ebene

Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts sind zwei Typen allgemeiner Rechtsgrundsätze von Bedeutung: Induktiv aus dem acquis communautaire abgeleitete Prinzipien und rechtsvergleichend aus dem Recht der Mitgliedstaaten gewonnene Prinzipien. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des EuGH für den ersten Typus bietet die Wettbewerbssache EuGH Rs. 17/74 – Transocean Marine Paint, Slg. 1974, I-1063, in welcher der EuGH den Anspruch auf rechtliches Gehör als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannte und hierfür auf die spezifischen Ausprägungen des Prinzips in den Art. 2 und 4 der maßgeblichen VO 99/63 zum Kartellverfahren verwies.

Im Bereich der zahlreichen privatrechtlichen Richtlinien fehlt es bislang weitgehend an einer Anerkennung allgemeiner Grundsätze. Der EuGH stellt kaum Querbezüge her. Die Wissenschaft hat dieses Defizit erkannt und formuliert ihrerseits entsprechende Vorschläge. Zu nennen sind hier insbesondere die Acquis Principles.

Der EuGH hat von Anfang an auch rechtsvergleichend ermittelte Prinzipien zur Ergänzung des Gemeinschaftsrechts herangezogen. Einige der großen Strukturentscheidungen wurden unter Verweis auf entsprechende Grundsätze entschieden, etwa die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte seit der Entscheidung EuGH Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, oder die Staatshaftung der Mitgliedstaaten seit der Entscheidung EuGH Rs. C-6/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357. Mitunter verweisen die europäischen Gerichte auch auf völkerrechtliche Verträge, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Dies spielt vor allem bei den Unionsgrundrechten eine erhebliche Rolle, da der EuGH hier regelmäßig auf die EMRK (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) verweist. Es finden sich aber auch privatrechtliche Fallgestaltungen, bei denen Bezug auf das CISG (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) genommen wird, um rechtsvergleichende Argumente zu untermauern.

Schließlich finden sich mitunter auch Verweise auf römisch-rechtliche Maximen in der Judikatur der europäischen Gerichte, etwa in der Entscheidung EuGH Rs. 23/68 – Klomp, Slg. 1969, 43. Für die europäische Ebene handelt es sich beim Rückgriff auf das gemeinsame Erbe allerdings um einen Unterfall der rechtsvergleichenden Ermittlung von Prinzipien. Das römische Recht ist für die Gemeinschaftsebene nicht älteres, derogiertes Recht der eigenen Rechtsordnung; es ist älteres Recht anderer Rechtsordnungen, die als Vergleichsmaßstab betrachtet und deren Gemeinsamkeiten als allgemeine Grundsätze akzeptiert werden.

c) Völkerrecht, Einheitsrecht, lex mercatoria

Im Völkerrecht können rechtsvergleichend ermittelte Prinzipien auf eine lange Tradition zurückblicken, die in Art. 38 IGH-Statut ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Allgemeine Rechtsgrundsätze werden im Völkerrecht überwiegend aus den „in foro domestico“ geltenden Normen der Staaten abgeleitet und von dort auf die Ebene des Völkerrechts übertragen. Vielfach handelt es sich bei den im Völkerrecht herangezogenen Prinzipien um Grundsätze, die aus dem Privatrecht der internen Rechtsordnungen stammen. Pacta sunt servanda, Treu und Glauben und Willensmängel werden im Recht der internationalen Verträge ebenso herangezogen wie die Grundsätze über Schadensersatz bei Vertragsbruch, ungerechtfertigte Bereicherung oder Verjährung.

Die Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze im Einheitsrecht unterscheidet sich maßgeblich von derjenigen im allgemeinen Völkerrecht. Im Einheitsrecht stehen zwei Alternativen der Ergänzung der Konventionen zur Verfügung: entweder die autonome Ergänzung auf der Ebene des Einheitsrechts oder der hilfsweise Rückgriff auf das nationale Privatrecht. Die modernen Konventionen beschreiten hierbei einen Mittelweg. In Art. 7(2) CISG und einer Reihe weiterer Verträge wird für interne Lücken der autonomen Ergänzung anhand von Prinzipien der Vorzug gegeben, die dem jeweiligen Übereinkommen „zugrunde liegen“. Lassen sich solche nicht ermitteln, kommt subsidiär nationales Privatrecht zur Anwendung. Die besondere Bedeutung von induktiv aus dem jeweiligen Staatsvertrag abgeleiteten Prinzipien ist bei diesem Ansatz offenkundig.

In jüngerer Zeit häufen sich schließlich Entscheidungen, in denen Schiedsgerichte auf die UNIDROIT PICC als Ausdruck der Lex Mercatoria zurückgreifen, sei es, dass sie diese als anwendbares Recht zugrunde legen, sei es, dass sie das anwendbare nationale Recht oder die von den Parteien bestimmte internationale Konvention, etwa das CISG, durch Bestimmungen der UNIDROIT PICC ergänzen oder auslegen. In der Literatur häufen sich dementsprechend die Stimmen, die rechtsordnungsübergreifende Prinzipien und insbesondere die UNIDROIT PICC als Kernbestand der lex mercatoria begreifen.

5. Methode der Herleitung

Charakteristisch für den allgemeinen Rechtsgrundsatz ist der Induktionsschluss. Der Schluss von einzelnen, beobachteten Beispielen auf allgemeine Gesetze gehört seit alters her zu den klassischen Methoden der Wissenschaft, insbesondere der empirischen Naturwissenschaften. Induktion ist auch jenseits des wissenschaftlichen Denkens als kognitive Methode verbreitet. Der Mensch neigt grundsätzlich dazu, Erfahrungswissen zu verallgemeinern, um auf diese Weise zu Direktiven für sein künftiges Handeln zu gelangen. Ob und unter welchen Einschränkungen entsprechende Schlüsse als wissenschaftlich angesehen werden können oder jedenfalls Teil einer rationalen Argumentation sein können, ist Gegenstand einer erkenntnistheoretischen Diskussion, die seit Francis Bacon (Novum Organum, 1620) über David Hume (Treatise on Human Nature, 1739) bis in die Neuzeit (Karl Popper, Logik der Forschung, 1934; Rudolf Carnap, Logical Foundations of Probability, 1950) geführt wurde. Überträgt man die Überlegungen der Erkenntnistheorie in die juristische Methodenlehre, so lassen sich drei Direktiven für die Herleitung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen gewinnen: (1.) Allgemeine Rechtsgrundsätze, die im Wege der Induktion aus Rechtsregeln abgeleitet werden, können keine absolute, ausnahmslose Geltung beanspruchen. Die induktive Ableitung bietet keine hinreichende Basis für ausnahmslos gültige Rechtssätze. (2.) Induktionsschlüsse basieren niemals allein auf den Einzelregeln, sondern stets auch auf der Prämisse der Gleichbehandlung. Der Gedanke der Gleichbehandlung dürfte jedoch in aller Regel nicht hinreichend konkret sein. Er bedarf der Anreicherung durch konkrete, wertbezogene Standards rechtlicher und außerrechtlicher Natur, um den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine zu rechtfertigen, bspw. gleicher Vertrauensschutz, gleiche Verteidigungsrechte im Prozess etc. Diese Prämissen müssen im Interesse der Methodenehrlichkeit offengelegt werden. (3.) Die Überzeugungskraft induktiv abgeleiteter Rechtsgrundsätze hängt nicht zwangsläufig von einer möglichst hohen Zahl von Rechtsregeln ab, welche den Grundsatz stützen. Vielmehr steht und fällt die Tragfähigkeit des induktiven Schlussverfahrens im Recht mit der genauen Untersuchung der einzelnen Regeln, und zwar sowohl der bestätigenden Beispiele als auch der Gegenbeispiele. Es geht nicht um Enumeration, sondern um den Ausschluss denkbarer Alternativerklärungen.

6. Rechtsgeltung

Die Frage nach der Rechtsgeltung induktiv ermittelter Prinzipien hat Auswirkungen auf die Funktionen, die Prinzipien bei der richterlichen Entscheidungsfindung erfüllen können. Gelten sie, so zählen sie zu „Gesetz und Recht“, sind genuine Grundlage rechtlicher Entscheidungen und können für die Auslegung, Ergänzung und Korrektur anderer Rechtsnormen herangezogen werden. Fehlt es an einer Rechtsgeltung, so müssen sie die erschwerten Eintrittsbedingungen für außerrechtliche Argumente erfüllen. Die Frage der Rechtsgeltung ist deswegen für alle Typen von Prinzipien auf allen Systemebenen zu stellen. Rechtsgrundsätze sind nicht Teil des Gesetzes-, Gemeinschafts- oder Staatsvertragsrechts, auch wenn sie von diesem im Wege der Induktion abgeleitet werden. Eine mechanische Übertragung der Rechtsgeltung würde die Leistungsfähigkeit induktiver Schlussverfahren überschät- zen. Sie sind auch nicht Richterrecht, sonst wäre die jeweils erste Verwendung durch ein Gericht nicht erklärbar. Die Geltung von Rechtsgrundsätzen muss deshalb jenseits der üblichen Rechtsquellen begründet werden und hängt von zwei Voraussetzungen ab. Erstens ist die tatsächliche Anerkennung des Rechtsprinzips im Sinne einer Befolgung durch die Adressaten oder der Anwendung durch die rechtsanwendenden Institutionen, insbesondere die Gerichte, zu fordern. Die Anerkennung eines Prinzips in der juristischen Praxis allein vermag jedoch nicht seine Rechtsgeltung zu begründen. Vielmehr ist als zweite Voraussetzung das Vorliegen eines setzungspositivistischen Elements, und zwar die „institutionelle Verkörperung“ (Josef Esser) oder „institutional support“ (Ronald M. Dworkin) des Prinzips im staatlich gesetzten Recht zu fordern. Mit institutioneller Verkörperung ist dabei der mehr oder weniger starke Rückhalt des Grundsatzes im gesetzten Recht gemeint.

Diese Geltungsvoraussetzungen finden bei allen drei Typen Anwendung. Die institutionelle Verkörperung eines Grundsatzes kann nicht nur an der Verankerung im gesetzten Recht derselben Rechtsordnung abgelesen werden. Sie kann sich auch aus entsprechenden Normen des Rechts fremder oder älterer Rechtsordnungen ergeben. Unterschiede zwischen den einzelnen Typen von Rechtsprinzipien liegen nicht bei den Geltungsvoraussetzungen, sie liegen bei der verschieden hoch einzuschätzenden Wahrscheinlichkeit, die Voraussetzungen zu erfüllen.

Literatur

Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956; Ronald M. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978; Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985; Reiner Schulze, Allgemeine Rechtsgrundsätze und europäisches Privatrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 442 ff.; Sigrid Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze: Begriffsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte, 1997; Patrick Morvan, Le principe de droit privé, 1999; Ernst A. Kramer, Funktionen allgemeiner Rechtsgrundsätze, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 197 ff.; Takis Tridimas, The General Principles of EU Law, 2. Aufl. 2006; Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im europäischen Privatrecht, 2008.

Abgerufen von Allgemeine Rechtsgrundsätze – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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