Lex Mercatoria

Aus HWB-EuP 2009

von Phillip Hellwege

1. Fragestellung

Gibt es eine internationale lex mercatoria als autonome Rechtsordnung? Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Problematisch ist dabei allein die rechtliche Einordnung unstreitig existierender Phänomene, nämlich der Bräuche, Formulare, Bedingungen, Klauseln, Prinzipien und Grundsätze des internationalen Handels: Kommt in ihnen ein vom Handel autonom geschaffenes Recht zum Ausdruck? Können es Parteien als Vertragsstatut wählen? Müssen es Gerichte sogar ohne entsprechende Rechtswahl als anwendbares Recht beachten? Oder finden diese Phänomene nur vermittelt durch das anwendbare nationale Recht Beachtung? Handelt es sich in der Regel also nur um Vertragsabreden, die in den Grenzen des kollisionsrechtlich berufenen staatlichen Rechts wirken? Handelt es sich eventuell um Handelsbräuche, die berücksichtigt werden, soweit dies das nationale Recht zulässt? Handelt es sich ausnahmsweise um Handelsgewohnheitsrecht, wenn das anwendbare Recht ein solches kennt?

Der Diskurs um eine lex mercatoria als autonomes Recht hält seit Dekaden an. Die Literatur ist kaum mehr zu überblicken. Sie beleuchtet die lex mercatoria aus unterschiedlichen, praktisch wie akademisch ausgerichteten Perspektiven: der des Kollisionsrechts, des Schiedswesens, der Rechtsquellenlehre, der Rechtssoziologie, der Systemtheorie, der ökonomischen Analyse sowie weiterer Spezialmaterien. Jüngst wurde die Diskussion zudem in zwei größere Zusammenhänge gestellt: den der Entstaatlichung des Rechts als Folge der Globalisierung und, damit eng verknüpft, den der Möglichkeit privater Regelsetzung. Schließlich hat die Debatte eine historische Dimension.

2. Die mittelalterliche lex mercatoria

Bereits im Mittelalter habe es eine lex mercatoria – im Hinblick auf das entsprechende Phänomen in England spricht man von law merchant – gegeben. Darauf verweisen die Befürworter einer modernen lex mercatoria. Die Verwendung des Begriffs lex mercatoria offenbart die bewusste Anknüpfung an das historische Vorbild. Auch im Mittelalter sei sie autonomes Recht gewesen. Der Handel habe sie geformt. Sie habe dabei eine prozessuale Seite gehabt: Der Prozess sei an die Bedürfnisse des Handels angepasst, somit im Vergleich zu dem staatlicher Gerichte zügiger gewesen, und die kaufmännischen Sondergerichte seien mit (einheimischen wie fremden) Kaufleuten besetzt gewesen. Modifikationen habe es weiter im Beweisrecht gegeben. Daneben habe die lex mercatoria eine materiellrechtliche Seite gehabt. Ihr Produkt sei etwa das Seehandels- und Seeversicherungsrecht.

Doch die rechtshistorische Forschung steht einer autonomen lex mercatoria des Mittelalters kritisch gegenüber: Führe man sie auf die Privilegien des Standes der Kaufleute zurück, könne man sie schwerlich als autonomes Recht bezeichnen. Auch passe die moderne Zweiteilung in staatliches und nichtstaatliches Recht auf die pluralistische Rechtsquellenlehre des Mittelalters nicht, und Abweichungen vom zwingenden staatlichen Recht seien nicht möglich gewesen. Insgesamt betont die rechtshistorische Forschung, dass sie noch am Anfang stehe: Für viele Bereiche des Handelsrechts fehlen moderne Darstellungen.

3. Die moderne lex mercatoria

a) Was spricht für eine autonome lex mercatoria?

Die Anwendung nationalen Rechts auf den internationalen Handel passt nach den Befürwortern einer lex mercatoria als autonome Rechtsordnung oft nicht. So erzeuge die Verschiedenheit der nationalen Kollisionsrechte Unsicherheit. Für die Beteiligten sei nur schwer vorhersehbar, welches Recht anwendbar sei. Zudem seien die nationalen Sachrechte für den internationalen Handel wenig sachgerecht, so die Schranken der  Vertragsfreiheit, die viele nationale Rechte auch für den Handel kennen. Eine autonome lex mercatoria könne dem Wunsch nach stärkerer Beachtung der Privatautonomie Rechnung tragen. Die Hoffnung in die legislative Rechtsvereinheitlichung zur Lösung dieser Probleme habe sich nicht erfüllt. Sie sei wenig flexibel, zeitintensiv, sie hinke der Entwicklung hinterher, und nationale Interessen hätten oft größeren Einfluss auf sie als die Belange des Handels.

Neben diese Problemanalyse der nationalen Kollisions- und Sachrechte sowie des Einheitsrechts tritt die Beobachtung, dass die Masse der Formulare, Klauseln und Grundsätze des Handels stetig anwächst und immer dichter wird. Schon im Mittelalter habe man hinter diesen Phänomenen eine lex mercatoria erkannt (s.o.). Heute könne man diesen Weg wieder gehen. Der internationale Handel nehme so die Lösung der aufgezeigten Probleme selbst in die Hand. Von den Befürwortern wird daher ein stärkerer empirischer Ansatz angeregt. Der Bestand an Regeln und Grundsätzen müsse gesichtet und geordnet werden. Erst dann könne abgeschätzt werden, ob man von einer autonomen lex mercatoria sprechen könne.

Schließlich macht etwa die ökonomische Analyse die höhere Effizienz einer Selbstregulierung des Handels geltend. Und die Schiedspraxis ergänzt, dass schon heute auf die lex mercatoria gestützte Schiedssprüche ergehen und verweist auf die Möglichkeit anationaler Sprüche, solcher ex aequo et bono bzw. die Möglichkeit der Entscheidung des Schiedsgerichts als amiable compositeur: Dürfe das Schiedsgericht ex aequo et bono entscheiden, dann müsse es ihm auch möglich sein, der Lösung eine lex mercatoria zugrunde zu legen.

b) Was gehört zur autonomen lex mercatoria? Was sind ihre Quellen?

So vielfältig die Begründungsansätze einer autonomen lex mercatoria sind, so zahlreich sind die Ansichten zu ihren Quellen. Geht es um eine Selbstregulierung des Handels, so wären ihre Quellen Bräuche, Formulare und Klauseln. Sie wäre internationales Handelsgewohnheitsrecht. Empirische Studien könnten sie nur beispielhaft und als Momentaufnahme erfassen: Sie wäre branchenspezifisch und lokal verschieden sowie einem Wandel unterzogen. Rechtlich stellte sich die Frage nach international anerkannten Voraussetzungen dieses Gewohnheitsrechts und dessen Verhältnis zum nationalen Recht. Dass nicht alle Formulare, Bräuche und Bedingungen zu Gewohnheitsrecht erstarken, würde wenig stören. Denn ein Satz der lex mercatoria scheint zu sein, dass solche Bräuche die Parteien binden, die in der betreffenden Branche bekannt sind und Beachtung finden (CISG, PECL, UNIDROIT PICC). Eine lex mercatoria als Gewohnheitsrecht könnte für diese Handelsbräuche den gleichen Rahmen bilden wie die nationalen Rechte (§ 346 HGB). Was weder zum internationalen Gewohnheitsrecht noch zum internationalen Handelsbrauch erstarkt, könnte schließlich als vertragliche Abrede in diesem Bezugssystem wirken.

Viele Befürworter der lex mercatoria verfolgen freilich einen anderen Ansatz: Sie nennen Bräuche, Klauseln und Bedingungen als Quelle der lex mercatoria, ohne zwischen der Geltung als Gewohnheitsrecht, Handelsbrauch und Abrede zu unterscheiden. Dass sie nicht nur Gewohnheitsrecht und Handelsbrauch im Blick haben, zeigt sich zudem daran, dass die lex mercatoria strittig ist, die Geltung von Gewohnheitsrecht und Handelsbrauch indes von niemandem angezweifelt wird.

Auch erscheinen in der Diskussion weitere Quellen der lex mercatoria, so das Einheitsrecht. Doch handelt es sich bei diesem nicht um vom Handel, sondern für diesen geschaffenes staatliches Recht. Es müsste also nachgewiesen werden, dass das Einheitsrecht aus der Handelspraxis geschöpft hat und so Ausdruck der lex mercatoria ist oder inzwischen in den Bräuchen des Handels aufgegangen ist. Dieser Nachweis dürfte nur in einzelnen Branchen gelingen, spielt doch etwa das CISG nicht in allen Branchen die gleiche Bedeutung.

Auch die PECL und die UNIDROIT PICC werden zur lex mercatoria gezählt, und beide erklären sich für anwendbar, wenn die Parteien ihren Vertrag der lex mercatoria unterstellen. Versteht man lex mercatoria als vom Handel erzeugtes Gewohnheitsrecht, so spricht dagegen nicht, dass es sich um Rechtsaufzeichnungen handelt. Denn Gewohnheitsrecht wurde zu allen Zeiten schriftlich fixiert. Indes ist problematisch, dass die Verfasser beider Regelwerke nicht aus der Handelspraxis schöpften, sondern rechtsvergleichend arbeiteten. Sie wollen nicht die Bräuche des Handels wiedergeben, sondern dem Handel einen möglichen Rahmen und die im Vergleich optimale Regel zur Verfügung stellen. Freilich schließt das nicht aus, dass einzelne Regeln der PECL und der UNIDROIT PICC schon heute mit der lex mercatoria im Sinne eines Gewohnheitsrechts übereinstimmen und sie in Zukunft maßgeblich formen werden. Auch hier werden sich branchenspezifische Unterschiede ergeben.

Eine weitere Quelle der lex mercatoria sollen Schiedssprüche sein. Sie gehen auch in die vom Kölner Center for Transnational Law (Central) aufgebaute Transnational Law Database (TLDB) ein, die sich selbst als Kodifikation der lex mercatoria versteht. Ist lex mercatoria vom Handel geschaffenes Recht, so stört wenig, dass Schiedssprüche nicht vom Handel, sondern von Schiedsrichtern, also oft Juristen, erlassen werden. Vielmehr deutet dies nur darauf, dass „alles ‚Gewohnheitsrecht’ in Wahrheit Juristenrecht … ist“ (Max Weber). Für die lex mercatoria ist diese Erkenntnis umso bedeutender, als sich Schiedsrichter in ihrer Entscheidungsfindung oft sehr viel freier fühlen als die an das nationale Recht gebundenen staatlichen Richter. Schiedssprüche, ebenso wie die TLDB, bieten freilich allein ein Indiz für einen entsprechenden Satz der lex mercatoria. Über regionale und branchenspezifische Besonderheiten geben sie keine Auskunft.

Weiterhin werden der lex mercatoria Allgemeine Rechtsgrundsätze hinzugerechnet, die allen Rechtsordnungen oder zumindest den Rechtsordnungen, die den Vertrag berühren, gemein sind. Auch hierbei handelt es sich nicht um vom Handel geschaffenes Recht. Diese Ansicht zielt darauf, den Kreis der wählbaren Rechte zu erweitern. Zudem stünde die lex mercatoria, folgt man dieser Ansicht, nicht einmal für eine bestimmte Branche fest: Sie kann sich danach unterscheiden, zu welchen Rechtsordnungen der Vertrag Berührungspunkte aufweist.

Unstreitig ist außerdem, dass, wie schon für die mittelalterliche lex mercatoria vertreten, nicht nur materiellrechtliche Regeln zur lex mercatoria zu zählen sind, sondern auch Verfahrensregeln, wie etwa solche des Schiedsrechts. Sie bezeichnet man als lex mercatoria arbitralis im Gegensatz zur lex mercatoria materialis. Die lex mercatoria materialis wird von einigen Autoren weiter ausdifferenziert. So spricht man im Seerecht inzwischen von einer lex maritima.

Einige Autoren glauben schließlich, die lex mercatoria sei kein bestimmbares Recht, sondern ein Urteil, das auf Grundlage einer gewissen Methode ergehe, sei Ausdruck der lex mercatoria: Wählen die Parteien als anwendbares Recht die Bräuche des internationalen Handels und die Grundsätze, die allen Rechten gemein sind, und sind solche Bräuche und Grundsätze nicht ermittelbar, so dürfe der Schiedsrichter die Lösung wählen, die ihm angemessen und billig erscheint. Diese Lösung wird er rechtsvergleichend ermitteln: „This judicial process, which is partly an application of legal rules and partly a selective and creative process, is ... called application of the lex mercatoria“ (Ole Lando).

Unter lex mercatoria verstehen ihre Befürworter also sehr Verschiedenes. Die Diskussion würde an Klarheit gewinnen, wenn die einzelnen Autoren deutlich machten, ob sie, in deutscher Terminologie, jeweils von einer Rechtsgeltungs-, Rechtserkenntnis- oder Rechtsgewinnungsquelle sprechen.

c) Was spricht gegen eine autonome lex mercatoria?

Auch von den Kritikern wird nicht bestritten, dass die angeführten Phänomene, die Bräuche, Geschäftsbedingungen, Klauseln und Grundsätze des internationalen Handels, existieren und für internationale Geschäftsbeziehungen maßgeblich sein können. Streitig ist nur die von den Befürwortern behauptete Rechtsnatur der lex mercatoria als autonome Rechtsordnung.

Die Kritik setzt zum einen an der oben nachgezeichneten Problemanalyse an: Die nicht vorhersehbaren Ergebnisse bei Anwendung des Kollisionsrechts wären durch eine Rechtswahl der Parteien vermeidbar. Dass die nationalen Rechte auch für den Handel die Vertragsfreiheit beschränkten, sei kein spezifisches Problem des internationalen Handels. Zudem wird der Befund, dass nur die Anerkennung einer lex mercatoria als autonomes Recht zu ökonomisch effizienten Ergebnissen führe, in Zweifel gezogen.

Der empirische Befund sei für die Frage der Einordnung der lex mercatoria wertlos: Die Phänomene seien unstreitig. Weitere empirische Studien könnten nur mehr Anschauungsmaterial zu Tage fördern. Bei der juristischen Qualifikation dieser Phänomene könnten sie keine Hilfe leisten. Dass Schiedsgerichte die lex mercatoria als Spruchgrundlage benennen, könne schließlich auch als fehlerhafte Begründung begriffen werden.

Weiter bestünden Qualitätsdefizite: Der Begriff lex mercatoria sei für die Wirksamkeit einer entsprechende Rechtswahl zu unbestimmt. Die Regeln, die zur lex mercatoria gehörten, wie pacta sunt servanda, seien ebenfalls zu unbestimmt, um mit ihnen Fälle lösen zu können. Die durch die Kollisionsrechte erzeugte Unsicherheit werde somit nur durch die bei Anwendung einer lex mercatoria ersetzt. Zudem fehle der lex mercatoria eine systematische Ordnung, und ihre Lücken machten einen Rückgriff auf nationales Recht erforderlich. Dieser Einwand ist in Hinblick auf die PECL und die UNIDROIT PICC, wenn man sie denn zur lex mercatoria rechnet, nicht gerechtfertigt; beide Regelwerke können einen rechtlichen Rahmen bilden, der einen Rückgriff auf nationales Recht entbehrlich macht. Doch bestünde ein Legitimationsproblem, das sich gerade bei den PECL und den UNIDROIT PICC offenbare: Warum können private Regelwerke Recht sein? Zwar nicht für die PECL und die UNIDROIT PICC, aber für die Bräuche und Bedingungen des Handels bestünde zusätzlich ein Gerechtigkeitsproblem: Diese Quellen der lex mercatoria könnten auf einem Machtmissbrauch der stärkeren Marktteilnehmer beruhen. Selbst bei von internationalen Verbänden kodifizierten Handelsbräuchen sei ihre einseitige Beeinflussung nicht auszuschließen. Das sei die Kehrseite der geforderten stärkeren Beachtung der Privatautonomie im internationalen Handel. Regeln, die einen solchen Missbrauch ausschließen, seien von den Befürwortern der lex mercatoria nicht formuliert worden. Der ordre public auf der Ebene der Anerkennung von auf Grundlage der lex mercatoria ergangenen Sprüchen reiche hier als Kontrollinstanz nicht aus.

All dies veranlasst die Kritiker der lex mercatoria dazu, diese höchstens als Recht im soziologischen Sinn zu betrachten.

d) Die praktische Bedeutung des Streits

Die praktische Bedeutung des Streits um die Einordnung der lex mercatoria ist in den verschiedenen Rechten unterschiedlich: In Deutschland ebenso wie nach EVÜ ist zwar bisher nur die Wahl eines staatlichen Rechts möglich. Auch die Rom I-VO (VO 593/‌2008) verzichtete auf die Übernahme des Art. 3(2) des Verordnungsvorschlages (KOM(2005) 650 endg.), wonach „auf internationaler oder Gemeinschaftsebene anerkannte Grundsätze und Regeln des materiellen Vertragsrechts“, etwa die PECL und UNIDROIT PICC, als anwendbares Recht wählbar sein sollten (Rechtswahl). Dennoch wird ein deutsches staatliches Gericht die Berufung auf die Phänomene, die unter dem Begriff lex mercatoria zusammengefasst werden, nicht unbeachtet lassen. Es wird sie als Vertragsabreden, Handelsbräuche und Gewohnheitsrecht verstehen und so in das staatliche Recht als Bezugssystem einordnen. Als Vertragsabreden wären sie einer (im unternehmerischen Verkehr eingeschränkten) Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen unterworfen, und die Literatur hat darauf verwiesen, dass in Deutschland auch die PECL und die UNIDROIT PICC dieser Kontrolle unterliegen. Auch gegen zwingendes staatliches Recht dürften die Phänomene der lex mercatoria nicht verstoßen. Wäre die Rechtswahl einer lex mercatoria möglich, so wären dagegen nur noch solche zwingenden Vorschriften der lex fori anwendbar, denen ihrer ratio nach eine internationale Geltung zukommen soll.

Im Schiedsrecht ist nicht nur die Wahl nationaler Rechte (Art. 28 UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration, § 1051 ZPO), sondern nach vielen Rechten auch die Wahl der lex mercatoria möglich. Ergeht ein Schiedsspruch auf Grundlage der lex mercatoria, wird ihm die Anerkennung nicht versagt. Problematisch ist nur noch, ob Schiedsrichter die lex mercatoria auch ohne Rechtswahl anwenden oder von einer stillschweigenden Rechtswahl ausgehen dürfen.

e) Ist eine Lösung in Sicht?

Ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Meinungen ist nicht erkennbar: Die Vertreter einer ökonomischen Analyse des Rechts sind sich über die effiziente Lösung nicht einig. Vertreter der Systemtheorie sehen die lex mercatoria als Teil einer pluralistischen Rechtsquellenlehre; die Idee eines selbstreferentiellen Vertrages als Quelle der lex mercatoria in einer pluralistischen Theorie der Normproduktion verursacht bisher indes mehr Folgefragen, als dass sie bestehende Fragen beantwortet. Die Rechtsgeschichte ist für die Problemlösung ungeeignet, weil sie bisher keine gesicherten Erkenntnisse liefert. Wer von einer traditionellen Rechtsquellenlehre ausgeht, lehnt rechtssoziologische, sozio-ökonomische und empirische Befunde ebenso ab wie den Pragmatismus, der einfach die Regeln der lex mercatoria sammelt: über die rechtliche Natur sagen diese Ansätze nichts aus. Diejenigen, die sich auf die Rechtsquellenlehre zurückziehen, müssen sich aber entgegenhalten lassen, dass diese Lehre national geprägt ist und ein genuin internationales Phänomen nur schwer erfassen kann. Über die Behauptung, die traditionelle Rechtsquellenlehre verliere ihre Bedeutung, kommen die Befürworter der lex mercatoria wiederum in der Regel nicht hinaus; sie müssen herausarbeiten, unter welchen Voraussetzungen die zunächst rein soziologischen Phänomene des internationalen Handels in Recht umschlagen.

Seit den 1990er Jahren erhielt die Debatte neue Impulse dadurch, dass sie in größere Zusammenhänge gestellt wurde, nämlich den der Entstaatlichung des Rechts in Folge der Globalisierung und, damit eng verknüpft, den der privaten Regelsetzung. Phänomene privater Regelsetzung lassen sich auch in anderen internationalen Kontexten erkennen. So wird im Sportrecht in Hinblick auf die Regeln internationaler Sportverbände von einer lex sportiva und von einer lex technica bei der Normierung technischer Standards gesprochen. Beispiele sind auch die Regelwerke der Corporate Governance und finden sich für das Internet. Inwieweit diese Erweiterung des Blickfeldes helfen wird, die eigentliche Frage zu beantworten, nämlich ob die lex mercatoria autonomes Recht ist, ist noch nicht absehbar. Bisher scheint sie nur den Streit auf eine abstraktere Ebene zu heben.

Einen vielversprechenden und zugleich ergebnisoffenen Anstoß gaben jüngst Nils Jansen und Ralf Michaels. Sie zeigten zahlreiche Fragen auf, die dem Streit zugrunde liegen: Die Frage, ob die lex mercatoria Recht ist, kann nur beantwortet werden, wenn man sich über den Rechtsbegriff einig ist. Befürworter, Kritiker und die Diskutanten der verschiedenen Fachrichtungen und aus den verschiedenen nationalen Rechten gehen indes von unterschiedlichen, national geprägten Rechtsbegriffen aus. Die Frage, ob die lex mercatoria autonomes, vom staatlichen Recht unabhängiges Recht ist, kann nur geklärt werden, wenn das Verhältnis von Staat und Privatrecht ausgeleuchtet ist. Auch hier bestehen zwischen den verschiedenen nationalen Rechten unterschiedliche Ansätze. Schließlich sind die Bedeutungen des Autonomiebegriffs im Rechtsvergleich noch nicht hinreichend beleuchtet.

Literatur

Ursula Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995; Gunther Teubner (Hg.), Global Law Without a State, 1997; Klaus Peter Berger, The Creeping Codification of the Lex Mercatoria, 1999; Klaus Peter Berger (Hg.), The Practice of Transnational Law, 2001; The Empirical and Theoretical Underpinnings of the Law Merchant, Chicago Journal of International Law 5 (2004) 1 ff. mit Beiträgen von Richard A. Epstein, Charles Donahue Jr., Emily Kadens, Celia Wasserstein Fassberg, Mark D. Rosen, Roger B. Myerson, Avner Greif, Avinash Dixit, Clayton P. Gillette, Avery Wiener Katz; Vito Piergiovanni (Hg.), From lex mercatoria to commercial law, 2005; Ralf Michaels, Nils Jansen, Private Law Beyond the State? Europeanization, Globalization, Privatization, American Journal of Comparative Law 54 (2006) 843 ff.; Jürgen Basedow, Lex Mercatoria and the Private International Law of Contracts in Economic Perspective, Uniform Law Review 2007, 697 ff.; Karsten Schmidt, Lex mercatoria: Allheilmittel? Rätsel? Chimäre?, in: Junichi Murakami, Hans-Peter Marutschke, Karl Riesenhuber (Hg.), Globalisierung und Recht. Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert, 2007, 153 ff.; Roy Goode, Herbert Kronke, Ewan McKendrick, Jeffrey Wool, Transnational Commercial Law, 2007, 3 ff.

Abgerufen von Lex Mercatoria – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).