Europäisches Privatrecht: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
von Nils Jansen
1. Die Europäisierung des Privatrechts
Obgleich die einzelnen Privatrechtsordnungen Europas in weiten Bereichen über gleiche juristische Kategorien und Grundbegriffe verfügen, die im Gemeinen Recht (ius commune) auf der Grundlage der römischen Quellen formuliert worden sind, wurde das Privatrecht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend als eine nationale Angelegenheit verstanden. Das gilt nicht nur für Länder wie Frankreich, in denen mit einer Kodifikation eine neue Grundlage für das Privatrecht geschaffen worden war. Auch in Deutschland wurde das Privatrecht auf einen nationalen „Volksgeist“ bezogen, obwohl hier zugleich der ursprünglich gemeinrechtliche Diskurs noch bis zum Erlass des BGB fortgeführt wurde. Im 20. Jahrhundert war der nationale Charakter des Privatrechts dann überall in Europa selbstverständlich.
Erst seit den 1980er Jahren ist wieder verbreitet von einem „Europäischen Privatrecht“ die Rede. Das Privatrecht ist damit ein Gegenstand der Europäisierung des Rechts und überhaupt der politischen Kultur in Europa geworden. Wenig klar ist allerdings, welche Motive diesen Prozess tragen. Sie reichen von der wohl vordergründigen Behauptung, dass der europäische Binnenmarkt ein vereinheitlichtes Privatrecht erfordere, über genuin rechtswissenschaftliche Motive, die das Privatrecht aus dem Zustand seiner nationalen und kodifikatorischen Verkrustung lösen wollen, bis hin zu einer abstrakten Begeisterung für die „Idee Europa“ und zum Gedanken, dass das Privatrecht ein Element der kulturellen Identität Europas bilde. Dabei divergiert das Interesse am Europäischen Privatrecht in den unterschiedlichen Staaten Europas erheblich: Der Schwerpunkt liegt traditionell in Deutschland und in den Niederlanden sowie in Teilen Spaniens (insb. Katalonien), in Schottland und an einigen Universitäten Italiens. Während die Juristen Frankreichs und des common law auf die Europäisierung des Privatrechts zurückhaltend reagiert haben, zeigt sich die Wissenschaft in einigen ost- und nordeuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union deutlich offener.
Je nach der Perspektive lässt sich die Europäisierung des Privatrechts entweder als die Etablierung einer neuen supranationalen Privatrechtsordnung oder als die Fortsetzung bzw. Wiederanknüpfung an den unterbrochenen Privatrechtsdiskurs des Gemeinen Rechts (ius commune) verstehen. Jedenfalls handelt es sich bei dem Europäischen Privatrecht aber weniger um eine voll entwickelte Rechtsordnung als um ein politisches und wissenschaftliches Projekt. Die Rede von einem Europäischen Privatrecht kann daher einstweilen nicht bloß deskriptiv sein, sondern steht jeweils für ein bestimmtes rechts- und wissenschaftspolitisches Programm. In der gegenwärtigen Diskussion konkurrieren dementsprechend Konzeptionen, die das Europäische Privatrecht primär auf den acquis communautaire, also auf die Rechtstexte der Europäischen Union, gründen wollen, mit Ansätzen, die primär auf den acquis commun abstellen, also auf die gemeinsame Wissenschaftstradition des Gemeinen Rechts, die ihren Niederschlag in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas gefunden hat.
2. Acquis commun
Auch zu Zeiten des ius commune galt in Europa nicht überall gleiches Recht; vielmehr ging die Rechtspraxis von divergierenden örtlichen Vorschriften und Gewohnheiten aus. Wenn das Privatrecht gleichzeitig als „Gemeines“, also gemeinsames, Recht verstanden wurde, so bezieht sich das primär auf die wissenschaftliche Diskussion. Die Rechtswissenschaft war nämlich einheitlich auf die in der Praxis zumeist nur subsidiär anwendbaren römischen Texte des Corpus Juris Civilis bezogen und konnte damit weitgehend unabhängig von regionalen bzw. später auch frühnationalen Rechtstexten bleiben: Überall in Europa wurde das Recht anhand der Institutionen Justinians gelehrt und anhand der Digesten fortgebildet. Werke wie die Institutionenlehrbücher von Vinnius oder Heineccius konnten deshalb überall in Europa für den akademischen Unterricht benutzt werden; häufig wurde sogar das lokale Recht anhand der Institutionen Justinians dargestellt. Das Gemeine Recht bildete damit einen rechtsordnungsübergreifenden europäischen Wissenschaftsdiskurs, der die einzelnen kontinentalen Rechtsordnungen ebenso miteinander verbunden hat wie das common law mit kontinentalem Rechtsdenken.
Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde ein solcher Diskurs wieder aufgenommen; Meilensteine waren etwa Ernst Rabels „Recht des Warenkaufs“ (1936/1958) und Reinhard Zimmermanns „Law of Obligations“ (1990). Dahinter stand die Überzeugung, dass sich die grundlegenden, strukturellen Fragen des Privatrechts unabhängig von einzelnen Bestimmungen der positiven nationalen Rechte verstehen und lehren lassen. Auch heute gibt es deshalb wieder ein Europäisches Privatrecht als den Gegenstand der europäischen Privatrechtswissenschaft. Es findet seinen Ausdruck in einer rasch zunehmenden Zahl von Lehr- und Handbüchern; Beispiele sind insbesondere die „Ius Commune Casebooks for the Common Law of Europe“, das „Europäische Vertragsrecht“ von Hein Kötz (1996), das „Europäische Obligationenrecht“ von Filippo Ranieri (3. Aufl. 2009) sowie die Handbücher zum Deliktsrecht von Christian von Bar (1996/1999) und Cees von Dam (2006) bzw. zum Bereicherungsrecht von Peter Schlechtriem (2000/2001). Seine normativen Grundlagen findet der acquis commun dabei in den einzelnen nationalen Privatrechtsordnungen Europas, die insgesamt als eine gemeinsame Tradition begriffen werden können. Rechtsvergleichend zeigt sich das in strukturellen, teleologischen und dogmatischen Gemeinsamkeiten, wobei sich Unterschiede im Einzelnen aus einer historischen Perspektive häufig als Resultat zufälliger Entwicklungen erklären oder als divergierende Antworten auf ein ursprünglich gemeinsames Problem verstehen lassen.
Das Europäische Privatrecht war als ein „gelehrtes Recht“ von jeher durch das Bestreben nach wissenschaftlicher Systematisierung der einzelnen Normen geprägt. Diese Tradition hat neuerdings in systematisierend angelegten rechtsordnungsübergreifenden Regelwerken zum europäischen Privatrecht neue Aktualität gewonnen. Maßstäbe setzten hier die Principles of European Contract Law der sog. Lando-Kommission, die alsbald eine quasirechtliche Autorität erlangt haben. In den letzten Jahren ist eine Fülle vergleichbarer Regelwerke anderer europäischer Forschergruppen, wie der Study Group on a European Civil Code und der European Group on Tort Law (Principles of European Tort Law), hinzugekommen, die freilich noch nicht als gleichermaßen autoritativ gelten können. Insbesondere die Study Group versteht ihre Principles of European Law dabei zugleich als Entwürfe für ein Europäisches Zivilgesetzbuch. Allerdings ist zweifelhaft, inwieweit dies gegenwärtig politisch wünschenswert ist; wissenschaftlich wäre eine Kodifikation jedenfalls verfrüht.
3. Acquis communautaire
Einen gegenläufigen Ansatz wählen die Vertreter von acquis communautaire-Konzeptionen des Europäischen Privatrechts, die primär auf das positive Recht der Europäischen Union abstellen. Seit den 1980er Jahren ist die Europäische Union auch auf dem Gebiet des Privatrechts aktiv geworden, etwa 1985 mit der Produkthaftungsrichtlinie (RL 85/374) und der Haustürgeschäfts-RL (RL 85/577), 1986 mit der Handelsvertreter-RL (RL 86/653) und 1987 mit der Verbraucherkredit-RL (RL 87/102). Seit den 1990er Jahre haben diese Aktivitäten mit der Klausel-RL (RL 93/13) und der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) erheblich an Intensität gewonnen. Hinzu kommen privatrechtliche Aussagen in Richtlinien, die zwar nicht genuin privatrechtlich angelegt sind, jedoch möglicherweise auch für eine privatrechtliche Deutung offen stehen; ein Beispiel bietet die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29). Gleiches gilt für Teile des Primärrechts, insbesondere für die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht.
Während sich der acquis commun als eine Schöpfung der Wissenschaft nicht ohne Weiteres als geltendes Recht im Sinne einer Summe hoheitlicher Rechtsregeln verstehen lässt, können die Normtexte des acquis communautaire und die darauf bezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unproblematisch als das positive Privatrecht der Europäischen Union gelten. Gleichzeitig hat der acquis communautaire freilich nach wie vor einen fragmentarischen Charakter; er besteht aus punktuellen, gedanklich ursprünglich unverbundenen Regelungen spezieller Probleme. Zugleich tragen die meisten dieser Regeln einen instrumentellen, regulatorischen Charakter und stehen damit quer zum traditionell ausgleichsbezogenen Schuldrecht des acquis commun. Das Ziel der Regelungen des acquis communautaire besteht nämlich nicht lediglich in einem fairen Ausgleich gegenläufiger Parteiinteressen, sondern stets auch – oder sogar primär – in einer Förderung des Binnenmarktes, also in einer Stärkung der Position von Verbrauchern zur Motivation einer stärkeren Nachfrage (Beispiel: Haustürgeschäfts-RL) oder in einem Abbau wettbewerbsverzerrender Rechtsunterschiede (Beispiel: Produkthaftungs-RL [RL 85/374]).
Auch aus der Perspektive der Praxis ist der acquis communautaire heute von kaum zu überschätzender praktischer Bedeutung. Trotz seines im Ansatz fragmentarischen Charakters wird er dabei in der Wissenschaft zunehmend als ein geschlossenes Rechtssystem begriffen; das zeigt sich in ersten umfassenden Darstellungen des „Europäischen Vertragsrechts“ (Karl Riesenhuber, 2. Aufl. 2006), des „Gemeinschaftsprivatrechts“ (Bettina Heiderhoff, 2. Aufl. 2007) bzw. des „Europäischen Haftungsrechts“ (Wolfgang Wurmnest, 2003). Vor allem gibt es aber mit den Acquis Principles der Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) auch hier ein Normwerk in der Tradition der Lando-Prinzipien (Principles of European Contract Law), das auf eine regelförmig systematisierende Zusammenfassung des acquis communautaire zielt. Allerdings kann auch dieses Regelwerk einstweilen nicht eine gleiche quasirechtliche Autorität wie die Lando-Prinzipien beanspruchen. Denn angesichts des nach wie vor überaus fragmentarischen Charakters des acquis communautaire bedeutet die Verallgemeinerung einzelner Regeln stets eine weitreichende rechtspolitische Entscheidung, für die einer selbstkonstituierten Wissenschaftlergruppe die erforderliche politische Legitimation fehlt. Zudem ist zweifelhaft, wie weit die regulatorischen Einzelregeln des acquis communautaire ein vollständiges Vertragsrecht tragen.
4. Aufgaben und Ausblick
Keiner dieser beiden Ansätze bietet allein ein adäquates, vollständiges Bild des Europäischen Privatrechts. Offenkundig ist das für Darstellungen, die das Europäische Privatrecht auf den acquis commun reduzieren, das europäische Sekundärrecht also gänzlich ausblenden. Gleiches gilt aber auch umgekehrt für Konzeptionen, die allein auf den acquis communautaire abstellen, und zwar nicht nur aufgrund dessen fragmentarischen Charakters. Vor allem sind die regulatorischen Rechtsakte des Europäischen Gesetzgebers nämlich nur vor dem Hintergrund des acquis commun verständlich: Das in den nationalen Rechtsordnungen tradierte Privatrecht bildet sowohl für die Normgeber als auch für die Rechtsadressaten den selbstverständlichen hermeneutischen Hintergrund einzelner Aussagen, wie sie sich in den verschiedenen regulatorischen Richtlinien finden. Auch der Europäische Gerichtshof stützt seine privatrechtliche Judikatur deshalb nicht nur auf den acquis communautaire, sondern auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, also auf den acquis commun.
Das Europäische Privatrecht erschließt sich heute nur aus der Gesamtschau einer Vielzahl unterschiedlicher, gleichermaßen autoritativer Texte: Neben dem acquis communautaire sind das einerseits die nationalen Gesetze und die nationale Judikatur und andererseits die internationalen Regelwerke, wie die Principles of European Contract Law, die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts, oder das UN-Kaufrecht (Warenkauf, internationaler). Ein solcher Autoritätspluralismus macht spezifisch juristische Techniken erforderlich, die die Uneindeutigkeit und die Komplexität des gegenwärtigen Europäischen Privatrechts zu reduzieren vermögen. Insbesondere wird es in Zukunft darum gehen, den acquis commun mit dem acquis communautaire gedanklich in ein einheitliches Rechtssystem zu integrieren. Die Arbeiten an einem akademischen Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht bilden einen wichtigen Schritt in diese Richtung.
Angesichts dessen ist das Europäische Privatrecht inhaltlich nach wie vor nur in groben Konturen erkennbar. Das gilt insbesondere für Rechtsgebiete wie das Delikts- und Sachenrecht, die begrifflich und dogmatisch mehr durch Unterschiede als durch Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Hier gilt es überhaupt erst die rechtsordnungsübergreifenden Grundlagen für ein gemeinsames Verständnis zu legen, also ein adäquates Begriffsinstrumentarium zu formulieren, das eine rechtsordnungsunabhängige Diskussion der jeweiligen Sachfragen und Wertungsprobleme möglich macht, und das damit die Grundlage für einen weiterführenden Vergleich und eine konsens- und identitätsstiftende Diskussion der nationalen Regelungen bieten kann. Die Entwürfe der Study Group bieten Ansätze dazu, doch sind gerade hier auch gründlichere Einzelstudien unverzichtbar, die den einschlägigen Rechtsstoff ohne Rücksicht auf die Kompromisserfordernisse innerhalb einer internationalen Kommission in den Blick nehmen. Schließlich verlangen aber auch die grundlegenden politischen Fragen des Europäischen Privatrechts eine angemessene Antwort; angesichts der konzeptionellen Marktorientierung des acquis communautaire gehört dazu nicht zuletzt auch die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Europäischen Privatrecht.
Literatur
Reinhard Zimmermann, Konturen eines europäischen Vertragsrechts, Juristenzeitung 1995, 477 ff.; idem, Savignys Vermächtnis: Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, Juristische Blätter 1998, 273 ff.; Hans-W. Micklitz, Perspektiven eines europäischen Privatrechts: Ius commune praeter legem, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 253 ff.; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, 2003; Nils Jansen, Binnenmarkt, Privatrecht und europäische Identität, 2004; Study Group on Social Justice in European Private Law, Social Justice in European Private Law: a Manifesto, European Law Journal 10 (2004) 653 ff.; Reiner Schulze, Reinhard Zimmermann (Hg.), Europäisches Privatrecht: Basistexte, 3. Aufl. 2005; Thomas Eger, Hans-Bernhard Schäfer (Hg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, 2007; Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group), Principles of the Existing EC Contract Law: Contract I, 2007; Nils Jansen, Reinhard Zimmermann, Restating the Acquis communautaire? A Critical Examination of the “Principles of the Existing EC Contract Law”, Modern Law Review 71 (2008) 505 ff.