Börsen: Unterschied zwischen den Versionen

Aus HWB-EuP 2009
hwb>Admin
 
K (1 Version importiert)
(kein Unterschied)

Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Andreas M. Fleckner

1. Funktion

Börsen veranstalten einen standardisierten Handel in vertretbaren Gegenständen und führen auf diese Weise Angebot und Nachfrage mit geringen Transaktionskosten zusammen. Besonders anschaulich und die öffentliche Wahrnehmung prägend ist der Handel in Gesellschaftsanteilen („Aktien“) und Schuldverschreibungen („Anleihen“).

Eng verbunden mit der Veranstaltung ist die Regulierung des Handels. Denn zur Standardisierung bedarf es Regeln über den Gegenstand und Ablauf des Handels sowie über die zu ihm zugelassenen Personen. Ebenfalls bedeutsam sind zwei weitere Funktionen der Börsen: die Verbreitung von Informationen über die gehandelten Gegenstände und, mittels der Etablierung von Mindeststandards, die Verbesserung ihrer Qualität (insbesondere bei Aktien und Anleihen: Corporate Governance). Seit einigen Jahren verfolgen die Betreiber der meisten Börsen einen weiteren Zweck: die Erzielung von Gewinnen. Hierzu haben sich die Börsen bzw. ihre Betreiber in Aktiengesellschaften umgewandelt, deren Aktien wiederum an der Börse notiert sind.

Aus Sicht der Anbieter und Nachfrager von Kapital haben die Börsen eine Transformationsfunktion, indem sie die kurzfristige Anlage in langfristige Unternehmensbeteiligungen ermöglichen. Hierdurch steigert sich für beide Seiten die Attraktivität der Kapitalüberlassung. Die Kapitalgeber können ihre Investition indirekt jederzeit dadurch zurückerhalten, dass sie ihre Aktien oder Anleihen zum aktuellen Marktwert an der Börse veräußern, und bleiben damit flexibel. Die Kapitalnachfrager können wegen dieses Zweit- oder Sekundärmarktes die direkte Rückzahlung des Kapitals auf Zeit (Anleihen) oder auf Dauer (Aktien) ausschließen und erhalten Planungssicherheit.

2. Begriff

Die juristische Definition der Börse ist eines der Kernprobleme des Börsenrechts. Innerhalb der Marktveranstaltungen, die in der Praxis vorkommen, gibt es keine klare Grenze, an die eine gesetzliche Regulierung anknüpfen könnte, sondern es ist ein weites Spektrum mit fließenden Übergängen zu beobachten. Welche Handelsplätze in den Anwendungsbereich des Börsenrechts fallen sollen, ist deshalb eine Wertungsfrage.

Bis heute ist es keiner Rechtsordnung gelungen, eine überzeugende Definition der Börse zu finden. Zwar wurde das Problem früh erkannt, so dass es in manchen Jurisdiktionen eine lange Diskussion gibt (in Deutschland seit der berühmten Feenpalast-Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 26.11.1898, PrOVGE 34, 315). Aber gleichzeitig hat der technische Fortschritt viele der äußeren Unterscheidungsmerkmale, die zur Abgrenzung der Börsen von sonstigen Märkten entwickelt wurden, eingeebnet. Wurde früher auf die räumliche, zeitliche und sachliche Konzentration des Handels abgestellt, so unterscheidet sich der moderne außerbörsliche Handel in diesen Punkten nicht mehr vom Börsenhandel (Märkte für Finanzinstrumente). Um die genehmigten Börsen von den genehmigungsfähigen Handelsplätzen abzugrenzen, sollte zwischen einem formellen und einem materiellen Börsenbegriff unterschieden werden: Börsen im formellen Sinne sind Handelsplätze, die von den zuständigen staatlichen Stellen als Börse, recognised investment exchange oder marché réglementé d’instruments financiers etc. anerkannt sind. Börsen im materiellen Sinne sind Märkte, welche die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen, um als Börse genehmigt oder registriert zu werden.

Das neue deutsche Börsengesetz (16.7.2007) enthält erstmals eine Definition der Börse: „Börsen sind teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die nach Maßgabe dieses Gesetzes multilaterale Systeme regeln und überwachen, welche die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von dort zum Handel zugelassenen Wirtschaftsgütern und Rechten innerhalb des Systems nach festgelegten Bestimmungen in einer Weise zusammenbringen oder das Zusammenbringen fördern, die zu einem Vertrag über den Kauf dieser Handelsobjekte führt.“ (§ 2 Abs. 1). Die Begriffsbestimmung beschreibt zutreffend die Kernfunktion der Börsen, die Veranstaltung und Regulierung eines Marktes für vertretbare Gegenstände (s.o. 1.). Für die Rechtsanwendung bringt die Definition jedoch keine Vorteile, weil sie nicht zwischen formellem und materiellem Börsenbegriff unterscheidet, sondern die Rechtsfolgen der Genehmigung (z.B. Teilrechtsfähigkeit) mit ihren Voraussetzungen (z.B. Vertragsschluss innerhalb des Systems) vermengt (von den Entwurfsverfassern gesehen: BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1. 2007, 81).

3. Geschichte

Die Bestimmung des Anfangs des Börsenwesens ist untrennbar mit der Frage verbunden, was die gegenüber Märkten und Messen charakteristischen Unterscheidungsmerkmale der Börsen sind.

Gemeinsame Handelstreffpunkte gibt es seit dem Beginn der Zivilisation, denn der Markt ist eine naheliegende Einrichtung des ζῷον πολιτικόν (zóon politikón). Aber selbst auf dem Höhepunkt der antiken Wirtschaft hat es keine Börsen, also keine Marktveranstaltungen mit standardisierten Handelsobjekten und Handelsabläufen gegeben. Noch heute weitverbreitete Aussagen gegenteiligen Inhalts beruhen auf einer unreflektierten Übernahme von Formulierungen aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, als der Begriff der Börse noch wenig typisiert war.

Die Börsen als Veranstalter eines standardisierten Handels sind ein Kind der Neuzeit. Die erste „Gründungswelle“ ausgangs des Mittelalters bzw. eingangs der Frühneuzeit geht auf die Initiative der Händler zurück, etwa in Brügge (1409), Antwerpen (1460), Amsterdam (1530), Köln (1553), Hamburg (1558) oder Frankfurt am Main (1585). Die zweite Gruppe von Börsen wurde als Instrument der merkantilistischen Wirtschaftspolitik gegründet, namentlich in Paris (1724), Berlin (1739) und Wien (1771). Als drittes und letztes kam es als Ausdruck und Folge der Industrialisierung zur Bildung neuer Börsen, vor allem der London Stock Exchange (1773) und der New York Stock Exchange (1792).

4. Recht

Fast alle Vorschriften des Börsenrechts sind dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Sie betreffen die Erlaubnis zum Betreiben einer Börse, die Organisationsverfassung der Börsen, den Ablauf des Handels oder die Zulassung von Handelsgegenständen und Händlern. Genuin privatrechtliche Regelungen, wie sie im Mittelpunkt dieses Handbuches stehen, enthalten lediglich die Handelsbedingungen (Geschäftsbedingungen/ Börsenusancen), die von Börsenorganen oder börsennahen Kommission veröffentlicht werden.

a) Funktion des Börsenrechts

Aus der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Börsen erklärt sich das öffentliche Interesse am Börsenwesen. Dieses Interesse muss nicht notwendigerweise zum Erlass von Börsengesetzen führen. Denn politische Entscheidungsträger mit realistischer Selbsteinschätzung werden eher den Börsen als sich selbst zutrauen, eine sinnvolle Organisationsstruktur zu finden und sachgerechte Handelsregeln aufzustellen.

Die Skandale, die sich an den Börsen und in ihrem Umfeld in steter Regelmäßigkeit ereignen, haben in der Öffentlichkeit jedoch zu so deutlichen Forderungen nach einer Regulierung des Börsenwesens geführt, dass heute alle entwickelten Jurisdiktionen über ein umfangreiches Regelungsregime verfügen. Grundlage hierfür ist in Deutschland das Börsengesetz, im Vereinigten Königreich der achtzehnte Teil des Financial Services and Markets Act 2000 und in Frankreich der zweite Titel des vierten Buches des Code monétaire et financier.

b) Entwicklung des Börsenrechts

Das Börsenrecht als abstrakt-generelle Regelung des Handels an der Börse (Börsenhandelsrecht) und der Organisation der Börse (Börsenorganisationsrecht) ist ein vergleichsweise junges Rechtsgebiet. Der Code de Commerce (15.9. 1807) enthielt in seinem Abschnitt des Bourses de commerce nur einige wenige börsenrechtliche Vorschriften mit geringer Regelungsrelevanz (Art. 71-73). Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB) (12.3.1861) sah gar keine Bestimmungen über Börsen vor. Wegen vereinzelter Verweise auf den „Börsenpreis“ (z.B. in Art. 343, 353, 376 ADHGB) erließen aber einige deutsche Partikularstaaten Regelungen zur Errichtung, Genehmigung und Beaufsichtigung von Börsen (so Preußen in seinem Einführungsgesetz vom 24.6.1861, Art. 3). Erst das auf Reichsebene erlassene Börsengesetz (22.6.1896) führte ausgangs des 19. Jahrhunderts zu detaillierten Vorgaben. Noch später war die Entwicklung im Vereinigten Königreich, wo das Börsenwesen erst vor zwei Jahrzehnten gesetzlich geregelt wurde (Financial Services Act 1986).

Das Börsenrecht hat den Zenit seiner Bedeutung überschritten und wird heute nur noch als Teil des Kapitalmarktrechts verstanden. Besonders anschaulich ist der Paradigmenwechsel in Deutschland: Bereits kurz nach seinem Inkrafttreten verlor das Börsengesetz den Abschnitt über den kommissionsrechtlichen Selbsteintritt 1900 an das Handelsgesetzbuch; die börsengesetzliche Regelung der ad hoc-Publizität wurde bei der Einführung des Wertpapierhandelsgesetzes im Jahre 1994 aufgegeben; mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz wurde 2002 das Recht der Termingeschäfte und damit der seit Anbeginn umstrittenste Teil des Börsengesetzes in das Wertpapierhandelsgesetz überführt; letzter wichtiger Verlust sind die 2007 nicht ins neue Börsengesetz übernommenen Vorschriften über außerbörsliche Handelssysteme. Heute ist das Börsengesetz ein Rumpfgesetz, dessen Existenz sich allein historisch erklären lässt. Wie die deutsche Zukunft aussehen könnte, haben das Vereinigte Königreich und Frankreich bereits vorgezeichnet, indem sie den Betrieb von Börsen im Financial Services and Markets Act 2000 (sec. 285-313) bzw. im Code monétaire et financier (Art. L 421-426) als eine Finanzdienstleistung unter vielen regeln (Aufsicht über Finanzdienstleistungen).

5. Rechtsvereinheitlichung

Die europäische Rechtsvereinheitlichung ist im Kapitalmarktrecht weit fortgeschritten; es gibt kaum deutsches Kapitalmarktrecht, das keine europäische Grundlage hat. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Börsenrecht, das auf europäischer Ebene lediglich in ausgewählten Fragen geregelt wird.

a) Vereinheitlichung des Börsenrechts im weiteren Sinne

Zum Börsenrecht im weiteren Sinne, das nach heutigem Verständnis Kapitalmarktrecht darstellt, gab es vier zentrale Richtlinien:

a) die RL 79/279 vom 5.3.1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse (sog. Börsenzulassungs-RL);

b) die RL 80/390 vom 17.3.1980 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, die Kontrolle und die Verbreitung des Prospekts, der für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zu veröffentlichen ist (sog. Börsenzulassungsprospekt-RL);

c) die RL 82/121 vom 15.2.1982 über regelmäßige Informationen, die von Gesellschaften zu veröffentlichen sind, deren Aktien zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zugelassen sind (sog. Zwischenberichts-RL); und

d) die RL 88/627 vom 12.12.1988 über die bei Erwerb und Veräußerung einer bedeutenden Beteiligung an einer börsennotierten Gesellschaft zu veröffentlichenden Informationen (damals sog. Transparenz-RL).

Die vier Richtlinien wurden anfangs des Jahrzehnts in der RL 2001/34 vom 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen zusammengefasst (hier sog. Börsennotierungs-RL). Diese Richtlinie wurde zwischenzeitlich mit der RL 2004/109 vom 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind (sog. Transparenz-RL), wesentlich geändert.

Ziel all dieser Rechtsakte ist es, die Transparenz an den europäischen Kapitalmärkten zu erhöhen und so die Rahmenbedingungen für das Entstehen eines europäischen Kapitalmarktes (Wertpapier-/Finanzmarktes) zu verbessern (Kapitalmarktrecht). Aus politischen Gründen sind die Märkte freilich vor einer Mindestharmonisierung des Kapitalmarktrechts und seiner Durchsetzung geöffnet worden, ist also der zweite Schritt vor dem ersten vollzogen worden, indem die Mitgliedstaaten zur Zulassung andernorts anerkannter Finanzinstrumente gezwungen wurden (Europäischer Pass).

Der Sicherstellung einer marktgerechten Preisbildung an den Börsen dient die RL 2003/6 vom 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (sog. Marktmissbrauchs-RL), welche die RL 89/592 vom 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte (sog. Insider-RL) abgelöst hat (Insidergeschäft; Marktmanipulation).

b) Vereinheitlichung des Börsenrechts im engeren Sinne

Die bisher genannten Richtlinien betreffen das Umfeld des Börsenhandels, insbesondere die gehandelten Finanzinstrumente, aber nicht die Verfassung der Börsen selbst. Vorgaben für ihre Organisation und Struktur enthält die RL 2004/39 vom 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente (sog. Finanzmarkt-RL; auch im deutschsprachigen Raum nach der englischen Bezeichnung verbreitet als „MiFID“ abgekürzt). Nach einer Dekade löste sie die RL 93/22 vom 10.5. 1993 über Wertpapierdienstleistungen (sog. Wertpapierdienstleistungs-RL) ab (näher: Märkte für Finanzinstrumente). Die Finanzmarkt-RL (zuletzt geändert durch die RL 2007/44 vom 5.9.2007) wird durch eine Verordnung (VO 1287/2006 vom 10.8.2006) und eine Richtlinie (RL 2006/73 vom 10.8.2006) ergänzt.

Ausgangspunkt der Vorschriften der Finanzmarkt-RL ist der Begriff des „geregelten Marktes“ (Art. 4(1) Nr. 14), der über die Richtlinie hinaus ein zentraler Anknüpfungspunkt des Europäischen Kapitalmarktrechts ist, namentlich in der Marktmissbrauchs-RL (Art. 9(1)), in der Prospekt-RL (RL 2003/71 vom 4.11.2003, Art. 1(1)), in der Transparenz-RL (Art. 1(1)), in der Übernahme-RL (RL 2004/25 vom 21.4.2004, Art. 1(1)) und in der Aktionärsrechte-RL (RL 2007/36 vom 11.7.2007, Art. 1(1)). Im Dritten Titel enthält die Finanzmarkt-RL Vorschriften über geregelte Märkte (Art. 36-47), die im weiteren Verlauf um Bestimmungen zur behördlichen Aufsicht ergänzt werden (insb. Art. 48-55). Die Mitgliedstaaten dürfen nur solche Handelssysteme als geregelte Märkte zulassen, welche den Anforderungen der Finanzmarkt-RL genügen (Art. 36(1)). Entsprechend finden sich im novellierten deutschen Börsengesetz unzählige Neuerungen, die in der Begründung des zugehörigen Entwurfs (BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1.2007) mit den Vorgaben der Finanzmarkt-RL erklärt werden; auf den knapp elf Seiten der Bundestagsdrucksache (79-89) wird nicht weniger als 91 mal das Wort „Finanzmarktrichtlinie“ verwendet.

Der deutsche Gesetzgeber hat den Begriff des „geregelten Marktes“ nicht übernommen, sondern spricht statt dessen vom „organisierten Markt“ (legaldefiniert in § 2 Abs. 5 WpHG). Hiermit sollte eine Verwechselung mit dem vor zwei Jahrzehnten (Gesetz vom 16.12.1986, Art. 1) eingeführten „geregelten Markt“ als zweitem Börsensegment neben dem amtlichen Markt (damals: amtliche Notierung) vermieden werden. Das novellierte deutsche Börsengesetz hat den geregelten Markt und den amtlichen Markt nunmehr zusammengefasst und nennt das öffentlich reglementierte Marktsegment an einem organisierten Markt „regulierter Markt“.

6. Aktuelle Herausforderungen

Versteckt in den zahlreichen Einzelvorgaben der Finanzmarkt-RL wird unter der Überschrift „Organisatorische Anforderungen“ die derzeit größte Herausforderung der Börsenorganisation angesprochen: die Vermeidung von „Interessenkonflikten zwischen dem geregelten Markt, seinen Eigentümern oder seinem Betreiber und dem einwandfreien Funktionieren des geregelten Marktes“ (Art. 39(a)).

Hintergrund dieser Interessenkonflikte ist eine radikale tatsächliche Veränderung des Börsenwesens: die Umwandlung der Börsen von gildenartig verfassten, staatsnahen Vereinen in gewinnorientierte, international agierende Aktiengesellschaften, deren Aktien selbst börsennotiert und breit im Publikum gestreut sind (demutualization). In Europa ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten, so dass heute alle wichtigen Börsen bzw. ihre Betreiber selbst börsennotiert sind. Eine regulatorische Herausforderung bereitet diese Entwicklung deshalb, weil die Gewinnorientierung der Börsen Anlass zu der Befürchtung gibt, dass sie sich bei der Wahrnehmung von Aufsichtsbefugnissen an deren finanziellen Auswirkungen orientieren könnten. Etwa könnten Marktbetreiber versucht sein, Bereiche stärker zu regulieren, in denen signifikante Strafen verhängt werden können, bzw. Gebiete zu vernachlässigen, in denen solche „Aufsichtserträge“ nicht möglich sind. Außerdem besteht die Gefahr, dass Börsen Wettbewerber strenger regulieren als verbundene Unternehmen oder sonst nahestehende Institutionen.

Bislang sind die Interessenkonflikte in keiner der führenden Jurisdiktionen zufriedenstellend gelöst worden. In Deutschland beschränkt sich das Börsengesetz darauf, den Börsenbetreiber zu verpflichten, zur Identifizierung und Vermeidung von Interessenkonflikten „Vorkehrungen zu treffen“ (§ 5 Abs. 4 Nr. 1). Im Vereinigten Königreich enthält das Handbuch der Aufsichtsbehörde einige konkrete Vorgaben zur Bewältigung der Interessenkonflikte (FSA Handbook, REC 2.5.10-2.5.16). Weniger deutlich sind die Regeln der französischen Aufsicht (Règlement Général de l’Autorité des Marchés Financiers, Art. 512-3-Art. 512-6); knapp wie das deutsche Börsengesetz ist der Code monétaire et financier (Art. L. 421-11 Abs. 1 Nr. 1).

7. Ausblick

Im Börsenrecht ist die europäische Rechtsvereinheitlichung weniger weit fortgeschritten als im übrigen Kapitalmarktrecht. Lange Zeit konzentrierten sich die Richtlinien auf die Verbesserung der Informationen über die an den Börsen gehandelten Finanzinstrumente. Erst mit der Finanzmarkt-RL wurden den Börsen bedeutsame organisatorische Vorgaben gemacht. Hiermit scheint die Entwicklung vorerst zu einem gewissen Abschluss gekommen zu sein: Nach dem Weißbuch (5.12.2005) der Europäischen Kommission zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005-2010 sind keine neuen Vorschriften über geregelte Märkte zu erwarten; im Vordergrund stehe die „dynamische Konsolidierung“. Die Erfahrung lässt allerdings vermuten, dass der status quo noch nicht das Ende der Rechtsentwicklung ist. Denn es wird auch in Zukunft zu bedeutenden tatsächlichen Änderungen im Börsenwesen kommen, auf welche die politischen Entscheidungsträger zur eigenen und öffentlichen Beruhigung mit neuen Regelungen reagieren werden. Nicht gesagt ist damit freilich, dass es neue börsenrechtliche Vorschriften geben wird; wahrscheinlicher ist, dass das Börsenrecht im Recht der Finanzdienstleistungen aufgeht.

Literatur

Gunnar Schuster, Die internationale Anwendung des Börsenrechts, 1996; Klaus J. Hopt, Bernd Rudolph, Harald Baum (Hg.), Börsenreform, 1997; Ruben Lee, What is an exchange?, 1998; Siegfried Kümpel, Horst Hammen, Börsenrecht, 2. Aufl. 2003; Andreas M. Fleckner, Stock Exchanges at the Crossroads, Fordham Law Review 74 (2006) 2541 ff.; Christoph Kumpan, Die Regulierung außerbörslicher Wertpapierhandelssysteme im deutschen, europäischen und US-amerikanischen Recht, 2006; Michael Blair, George Walker (Hg.), Financial Markets and Exchanges Law, 2007; Stavros Gadinis, Howell E. Jackson, Markets as Regulators: A Survey, Southern California Law Review 80 (2007) 1239 ff.; Alain Couret, Hervé Le Nabasque, Droit financier, 2008; Andreas M. Fleckner, Klaus J. Hopt, Entwicklung des Börsenrechts, in: Handelskammer Hamburg (Hg.), Die Hamburger Börse 1558-2008, 2008, 249 ff.

Quellen

Auswahl: Code de Commerce vom 10.-15.9.1807, Bulletin des lois No. 164, 161 ff.; Entwurf eines allgemeinen deutschen Handelsgesetz-Buchs vom 12.3.1861: Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (ADHGB); Einführungsgesetz zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch vom 24.6.1861, PreußGS 449 ff. Börsengesetz vom 22.6.1896, RGBl. 157 ff. Financial Services Act 1986 vom 7.11.1986, 1986 ch. 60. Gesetz zur Einführung eines neuen Marktabschnitts an den Wertpapierbörsen und zur Durchführung der Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 5. März 1979, vom 17. März 1980 und vom 15.2.1982 zur Koordinierung börsenrechtlicher Vorschriften (Börsenzulassungs-Gesetz) vom 16.12.1986, BGBl. I 2478 ff. Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarktförderungsgesetz) vom 21.6.2002, BGBl. I 2010 ff. Weißbuch der Europäischen Kommission zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005-2010 vom 5.12.2005, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/white_paper/white_paper_de.pdf. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz), BR-Drucks. 833/06 vom 8.12.2006 = BT-Drucks. 16/4028 vom 12.1.2007.

Abgerufen von Börsen – HWB-EuP 2009 am 18. Dezember 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).