Private Rechtsetzung und Codes of Conduct: Unterschied zwischen den Versionen

Aus HWB-EuP 2009
hwb>Admin
 
 
(Eine dazwischenliegende Version von einem anderen Benutzer wird nicht angezeigt)
Zeile 55: Zeile 55:


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Private_Rule-Making_and_Codes_of_Conduct]]

Aktuelle Version vom 28. September 2021, 17:39 Uhr

von Klaus J. Hopt

1. Begriff und Beispiele privater Rechtsetzung

Private Rechtsetzung (genauer: Regelsetzung, auch Privatisierung des Rechts, private governance genannt) ist ein überaus weites Feld. Einen fest etablierten Begriff gibt es nicht. Dazu gehören oder werden teilweise gezählt ganz unterschiedliche Phänomene auf den verschiedensten Gebieten wie Normungsrecht, Bilanzrecht, Handelsrecht, Bankrecht, Aktien- und Corporate Governance-Recht, Börsenrecht (Börsen), Standesrecht, Umweltrecht, Antikorruptionsrecht und vielen andere mehr. Beispielhaft seien genannt: (i) technische Normungen (DIN-Normen des Deutschen Instituts für Normung e.V. von 1917, Normen der International Organization for Standardization ISO in Genf, VDI-Richtlinien des Vereins Deutscher Ingenieure VDI u.a.); (ii) Rechnungslegungsregeln (z.B. Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung GoB, Standards des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee e.V. DRSC, die International Accounting Standards (IAS) des International Accounting Standards Board (IASB) und die International Financial Reporting Standards (IFRS) des International Accounting Standards Committee (IASC) und die US-amerikanischen Generally Agreed Accounting Standards (GAAP), die beiden letzteren in internationaler Konkurrenz miteinander mit derzeit laufenden, schwierigen Koordinationsverhandlungen); (iii) Regeln für den nationalen und internationalen Handel, etwa die von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellten Incoterms, Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive und Einheitlichen Richtlinien für Inkassi; (iv) Grundsätze des Basler Ausschusses für Bankenregulierung bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel und weiterer internationaler Banken- und Bankaufsichtsgremien, europäische Kodices z.B. im Bankrecht und im Verbraucherfinanzrecht, Regeln für Ombudsverfahren (Ombudsmann); (v) die nationalen und internationalen Corporate Governance Codes, in Deutschland der Deutsche Corporate Governance Kodex (Corporate Governance) und der Public Corporate Governance Kodex des Bundes und von Ländern; (vi) die Börsenordnungen, Kotierungsvoraussetzungen und Reglements der Börsen im Rahmen ihrer Selbstverwaltung in den verschiedenen Ländern (Börsen); (vii) das Standesrecht der verschiedenen freien Berufe usw.

Zu denken ist aber auch an das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft (Allgemeine Geschäftsbedingungen), das sogenannte Satzungsrecht der Kapitalgesellschaften, das im deutschen Aktienrecht anders als in vielen anderen Ländern allerdings nur eng begrenzt möglich ist (Kontroverse um mehr Satzungsfreiheit), das moderne, angelsächsisch geprägte und international konvergente Transaktionsrecht der Mergers and Acquisitions (z.B. due diligence, information memorandum, letter of intent, punctuation u.a.), Kartelle, in der Praxis verbreitete Musterverträge und Formulare und international Komitologie, Lamfalussy-Verfahren, „Koregulierung“, lex mercatoria und zahlreiche schiedsgerichtliche Verfahrensordnungen (Schiedsverfahren, internationales).

All das kann hier nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Vielmehr sollen kurz die Vor- und Nachteile der privaten Regelsetzung und die Grade der Verbindlichkeit samt Durchsetzungsmöglichkeiten behandelt werden, bevor zwei Gebiete – die internationale Rechnungslegung und die Corporate Governance – exemplarisch umrissen werden.

2. Vor- und Nachteile der privaten Regelsetzung

Eine etablierte Theorie der privaten Rechtsetzung gibt es trotz einiger neuerer Beiträge dazu bisher nicht, von allgemeinen soziologischen Theorien zu sozialen Normen (schon Max Weber) wie Systemtheorie (Niklas Luhmann), soziale Selbstregulierung (Renate Mayntz, Fritz W Scharpf) oder Autopoiese (Gunther Teubner) abgesehen. Erst recht fehlt es an Grundsätzen für oder gar eine Lehre von der privaten Regelsetzung ähnlich der Gesetzgebungslehre und den etablierten Auslegungsgrundsätzen für Gesetze und Rechtsgeschäfte. In die traditionelle Rechtsquellenlehre passt private Rechtsetzung nicht hinein. Hingegen lassen sich aus theoretischer und praktischer Sicht Vor- und Nachteile der privaten Regelsetzung ausmachen.

Zu den Vorteilen gehören die höhere Flexibilität und die größere Nähe zum Markt und den Bedürfnissen und Verhaltensweisen der Marktteilnehmer. Ökonomisch gesprochen bedeutet das mögliche Verringerung von Transaktionskosten sowohl für die Unternehmen als auch für staatliche Stellen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Hinzu kommt die Möglichkeit, bei neuen Entwicklungen und Herausforderungen zunächst mit Regeln zu experimentieren. Private Regelsetzung findet man deshalb häufig, wenn ein bisher ungeregelter Bereich bzw. Berufsstand vor einer gesetzlichen Regelung steht. Positiv hinzukommen kann auch ein größeres Engagement und commitment der Profession, z.B. für faire Behandlung von Kunden, für lauteren Wettbewerb, für saubere Marktpraktiken usw.

Es gibt aber auch nicht unerhebliche Nachteile. Das Hauptproblem ist die Freiwilligkeit, also das Fehlen von Durchsetzung der privaten Regeln bei Außenseitern und schwarzen Schafen. Das war das Hauptproblem der deutschen freiwilligen Insiderhandels-Richtlinien und des Deutschen Übernahmekodex, bevor dann beide Gebiete unter europäischem Druck gesetzlich geregelt worden sind. Aber auch bei geglückten privaten Rechtsetzungen wie dem Deutschen Corporate Governance Kodex stellte sich dieses Problem bei der Empfehlung, die Bezüge der Organmitglieder über die gesetzlichen Vorgaben hinaus individuell offenzulegen, so dass der Gesetzgeber eingriff, und allgemeiner bei der Verhinderung von „Pay without performance“ (Lucian Bebchuk), die der Gesetzgeber mit dem Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetz 2009 trotz erheblicher Kritik selbst in die Hand genommen hat. Bei freiwilligen Codes besteht auch eine große Versuchung einzelner, sich auf Kosten der anderen, die sich an den Code halten, selbst ökonomische Vorteile aus der Nichtbeachtung zu sichern (free rider-Problem). Greift das um sich, kann das zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen und zu Irreführung (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 UWG) führen.

Es gibt aber auch die umgekehrte Gefahr, dass Sanktionen vorhanden sind, aber gegen Außenseiter wettbewerbsbeschränkend eingesetzt werden. Zu denken ist etwa an die früheren freiwilligen Abkommen zum Bankenwettbewerb, zur Werbung von Banken oder hinsichtlich der Zinsen.

Schließlich besteht bei freiwilligen Regeln immer die Gefahr, dass sie gerade so weit gehen, dass der Gesetzgeber davon abgehalten wird, demokratisch legitimierte, einen fairen Interessenausgleich aller Beteiligten anstrebende, rechtlich verbindliche Regeln zu erlassen. Privaten Regelwerken mangelt es nicht selten an Transparenz, so etwa bei den Verfahren nach den freiwilligen Insiderhandels-Richtlinien, und an Rechtsschutz bei Gerichten.

3. Grade der Verbindlichkeit und Durchsetzungsmöglichkeiten

Private Rechtsetzung kann sehr unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit und Arten von Durchsetzungsmaßnahmen haben. Vieles, was oben aufgezählt worden ist, ist vollkommen freiwillig. Es bleibt dann ganz dem Einzelnen überlassen, ob er Folge leistet oder nicht. In vielen anderen Fällen gibt es aber immerhin einen erheblichen Gruppendruck (peer pressure) auf Einhaltung. Das gilt besonders dort, wo die Gruppe überschaubar ist, beruflich laufend miteinander zu tun hat und sich kennt, wie etwa herkömmlich in der Londoner City und bei Befolgung des Takeover Code.

Auch der britische Combined Code mit seinen Regeln für gute Unternehmensführung ist von großem Einfluss auf die börsennotierten Unternehmen. Indessen liegt die Durchsetzung hier nicht nur in einer peer pressure, sondern daran, dass die Einhaltung des Combined Code von der London Stock Exchange erwartet wird. Wenn der Zugang zur Börse von der Einhaltung von Regeln der Börsenselbstverwaltung abhängig gemacht wird, kann von echter Freiwilligkeit nicht mehr gesprochen werden. Das gilt in weitem Umfang auch für Standesrecht.

Eine in jüngerer Zeit sehr beliebte Form der Durchsetzung freiwilliger Corporate Governance-Codes oder Regeln ist das Prinzip des „comply or disclose“ bzw., strenger, des „comply or explain“. So verpflichten viele moderne Corporate Governance-Codes diejenigen, die sie anerkennen, dazu, den dort aufgestellten Regeln entweder Folge zu leisten oder bei Nichtbefolgung, die ihnen freisteht, das offenzulegen. Eine strengere Variante ist diejenige, nach der bloße Offenlegung nicht genügt, sondern die Abweichung von der Kodexregelung auch näher begründet werden muss. Der Durchsetzungseffekt liegt hier darin, dass ein Unternehmen sich zu der Nichtbefolgung öffentlich bekennen muss und negative Reaktionen von Kunden, Kollegen, Wettbewerbern, der Finanzpresse und der Öffentlichkeit riskiert. Der deutsche Gesetzgeber hat das comply or disclose-Prinzip für den Deutschen Corporate Governance Kodex in § 161 AktG sogar gesetzlich festgelegt und 2009 zu einer comply or explain-Regelung verschärft (näher unten).

Eine indirekte Form der Durchsetzung ist schließlich das Drohen des Eingreifens einer Überwachungsinstanz oder des Gesetzgebers. Das mag für viele Unternehmen gelten und von den Verbänden propagiert werden, vermag aber Einzelne häufig nicht zu überzeugen. Beispiele sind die Versuche etwa der Deutschen Bundesbank mit einer moral suasion, bevor es zu schärferen, internationalen Bankkonzernrechtsnormen kam, oder die bereits genannten Insiderhandels-Richtlinien und der Übernahmekodex.

Umstritten ist, ob in Ausnahmefällen private Regeln zivilrechtlich haftungsbewehrt sind, etwa als Schutznormen im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB oder als Verhaltenspflichten in Anlehnung an solche Regeln (Berufspflichten, sogenannte Inklusion) oder auf Grund einer Irreführung von Vertragspartnern oder Verbandsmitgliedern (Vertrauenshaftung, Rechtsscheinhaftung). Jedenfalls kann ein Verstoß gegen § 161 AktG dazu führen, dass Entlastungsbeschlüsse der Hauptversammlung hinsichtlich der Mitglieder des Aufsichtsrats und der Mitglieder des Vorstands für nichtig erklärt werden (so BGH, 16.2.2009 − Leo Kirch/‌Deutsche Bank, WM 2009, 459).

4. Internationale Rechnungslegungsstandards, europäische und deutsche Rechnungslegung

Private Rechtsetzung auf dem Gebiet des Rechnungswesens findet heute vor allem durch den International Accounting Standards Board (IASB) statt, der Nachfolger des International Accounting Standards Committee (IASC) ist und dessen Trägerorganisation die 2001 gegründete IASC-Foundation ist. Von IASC und IASB stammen die International Accounting Standards (IAS, von 1978 bis 1988 28 solche Standards) und die International Financial Reporting Standards (IFRS, schon mehr als ein halbes Dutzend solcher Standards). Das International Financial Reporting Interpretations Committee (IFRIC), Nachfolger des Standing Interpretations Committee (SIC), erlässt verbindliche IFRIC- bzw. SIC-Interpretationen. Der Inhalt dieser zahlreichen Standards kann hier nicht dargestellt werden. Diese haben schon rein umfangmäßig ein enormes Volumen und sind auch inhaltlich hoch komplex.

Mit der IAS-Verordnung vom 19.7.2002 (VO 1606/‌2002) öffnete sich die Europäische Kommission nach längerem Widerstand den internationalen Rechnungslegungsstandards. Danach sind Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen und deren Wertpapiere am jeweiligen Bilanzstichtag in einem Mitgliedstaat zum Handel im geregelten Markt zugelassen sind, verpflichtet, ihren konsolidierten Abschluss nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen. Für alle übrigen Abschlüsse ist die Anwendung dieser Standards grundsätzlich fakultativ. Die Übernahme der einzelnen Standards erfolgt nicht automatisch, sondern nach einem sogenannten Endorsement-Verfahren, bei dem ein ganzer Standard oder Teile davon (carve out) auch abgelehnt werden können. Beispiel ist IAS 39 über Ansatz und Bewertung von Finanzinstrumenten. In der Finanzkrise 2008 ist die fair value-Methode für die Bewertung von Wertpapieren nach Marktpreisen (M2M) ins Gerede gekommen. Davon soll Abstand genommen werden dürfen, wenn der Markt in seinem Kurs den Wert eines Papiers verzerrt.

Die Umsetzung der europäischen Vorgaben zur Rechnungslegung ist in Deutschland durch das Bilanzrechtsreformgesetz von 2004 erfolgt. Für alle Unternehmen besteht ein umfassendes Wahlrecht, für Konzernabschlüsse die in das europäische Recht übernommenen internationalen Standards anzuwenden (§ 315a HGB). Ausnahmsweise besteht eine Pflicht dazu. In Einzelabschlüssen sind internationale Standards nur beschränkt auf die informatorische Funktion des Abschlusses zulässig. Die Aufstellung eines Einzelabschlusses nach internationalen Standards ist deshalb nur freiwillig neben dem HGB-Abschluss möglich. Die grundlegende Bilanzrechtsreform von 2009 modernisiert jedoch den HGB-Abschluss in verschiedener Hinsicht, ohne vom traditionellen HGB-Abschlussrecht grundsätzlich Abstand zu nehmen (BilMoG).

5. Die internationale Corporate Governance-Code-Bewegung und der Deutsche Corporate Governance Kodex

a) Die internationale Code of Conduct-Bewegung auf dem Gebiet der Corporate Governance und des Aktienrechts ist angelsächsischen Ursprungs. Ausgangspunkt war der Report of the Committee on the Financial Aspects of Corporate Governance, der nach seinem chairman benannte Cadbury Report von 1992 mit seinen Empfehlungen in Form eines Code of Best Practice für den board of directors. Seit Juni 1998 gibt es den Combined Code of the London Stock Exchange mit dem Titel: „Principles of Good Governance and Code of Best Practice“. Er ist als Appendix den dortigen Listing Rules beigefügt, also nicht Teil derselben.

In den meisten europäischen Mitgliedstaaten ist es zu einer ähnlichen Code of Conduct-Bewegung gekommen, und international setzt sich die Entwicklung durch die OECD-Principles fort, die sich jedoch vorwiegend an die aufstrebenden Wirtschaftsnationen in Asien, Osteuropa und Lateinamerika richten. Die Entwicklung in den europäischen Mitgliedstaaten ist in einem Bericht für die Europäischen Kommission vom Januar 2002 ausführlich dokumentiert und hier nicht nachzuzeichnen. Dieser Bericht hat für 13 der damaligen 15 Mitgliedstaaten Corporate Governance-Codes feststellen können, die ganz überwiegend seit 1997 erarbeitet worden sind (inzwischen gibt es auch in Österreich einen solchen Code). In einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten gelten nicht nur ein, sondern mehrere solcher Codes. Insgesamt werden in dem Bericht rund 40 Codes auf Übereinstimmung bzw. Abweichung nach Inhalt, Reichweite, Wirkung und anderen Parametern untersucht. Kernfragen betreffen unter Anderem Mitbestimmung (hier sind die größten Differenzen zu verzeichnen), Aktionärsschutz allein oder auch Gläubigerschutz (social/‌stakeholder issues), Aktionärsrechte, Vorstand/‌Board/‌Aufsichtsrat, Unabhängigkeit und Führung eines Überwachungsorgans, Ausschusswesen und Offenlegung.

Angesichts dieser verwirrenden Vielzahl von Corporate Governance-Codes hat der Gedanke eines einheitlichen europäischen Corporate Governance-Code eine gewisse Attraktion. Die Europäische Kommission hat sich aber im Anschluss an die High Level Group of Company Law Experts in ihrem Aktionsplan dagegen entschieden. Denn nationale Kodices sind näher an den jeweiligen besonderen Bedürfnissen in dem Land und der Branche. Zum anderen und vor allem aber lebt ein Corporate Governance-Code von der Nähe zu dem jeweiligen Aktienrecht. Die Empfehlungen sind nur als Ergänzungen, Paraphrasierungen und teilweise sogar bloße Wiederholungen des geltenden Aktienrechts zu verstehen. Das Aktienrecht ist aber trotz zahlreicher Rechtsangleichungsrichtlinien in Kernbereichen bisher nicht europäisch harmonisiert.

b) Von den klassischen Aktienrechtlern der Mitgliedstaaten ist die Corporate Governance-Bewegung eher kritisch beäugt worden. So wurden in Deutschland verfassungsrechtliche Bedenken erhoben und bemerkt, für einen solchen Code bestehe angesichts der Regelungsdichte des deutschen Rechts kein Bedarf. Indessen bietet ein solcher Code die Chance, flexibel und quasi als Experiment auf Probleme zu reagieren, ohne dass sogleich das Aktienrecht, das in Deutschland ganz überwiegend zwingend ist, zu ändern. Letzteres ist ohnehin seit seinem Erlass 1965 nicht weniger als 63mal geändert worden.

Corporate Governance ist seit 2002 Gegenstand des § 161 AktG, der für die rechtliche Durchsetzung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) durch eine Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat auf ein „comply or disclose“-Prinzip sorgen soll. § 161 AktG ist 2009 durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) auf Grund von EG-Vorgaben deutlich verschärft worden, unter anderem hinsichtlich seines Anwendungsbereichs (Einbeziehung multilateraler Handelssysteme), aber auch hin auf ein comply or explain-Prinzip. Nach § 161 AktG n.F. haben der Vorstand und Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft jährlich zu erklären, dass den vom Bundesministerium der Justiz im amtlichen Teil des elektronischen Bundesanzeigers bekannt gemachten Empfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht. Die Erklärung ist auf der Internetseite der Gesellschaft dauerhaft öffentlich zugänglich zu machen. § 161 AktG hat eine rege Diskussion entfacht und wirft zahlreiche schwierige Rechtsprobleme auf, unter anderem was die Reichweite der Entsprechenserklärung, die Erklärung für die Zukunft (entsprochen „wird“, nicht angewendet „werden“) und ein haftungsmäßiges Einstehen für diese, insbesondere im Sinne einer Außenhaftung, angeht. § 161 AktG selbst enthält sich einer Aussage, was Corporate Governance ist.

Die Befolgung des Kodex ist mit zuletzt 83,8 % Befolgungsquote der Kodexempfehlungen durchaus beachtlich. Mit einzelnen Empfehlungen wie der individuellen Offenlegung von Vorstandsbezügen und der Selbstbeteiligung bei der D&O-Versicherung hatte die Kommission dagegen wenig Erfolg. Bei ersterem hat das umgehend zum Einschreiten des Gesetzgebers geführt, der die individuelle Offenlegung verbindlich machte. Unter dem Eindruck der internationalen Kritik an drastisch überhöhten Managergehältern hat der deutsche Gesetzgeber mit dem umstrittenen Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetz (VorstAG) 2009 reagiert, statt dies, wie verschiedentlich gefordert, der Kodex-Kommission und dem Kodex mit einer flexibleren, freiwilligen Lösung zu überlassen.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Beschneidung der privaten Rechtsetzung im Bereich des Aktienrechts und der Corporate Governance unter dem Eindruck der Finanzkrise und des Versagens der Selbstdisziplin der Banken, Finanzinstitute, Abschlussprüfer und Rating-Agenturen auf breiterer Front zu einer rückläufigen Hinwendung wieder zu mehr Gesetzgebung statt privater Rechtsetzung führen wird. Erste Anzeichen wie verschiedene, diesbezügliche, teilweise sehr weit gehende Gesetzesreformen auf europäischer und deutscher Ebene sind ersichtlich. Aus ordnungspolitischer Sicht wäre das ein Rückschritt.

Literatur

Klaus J. Hopt, Self-Regulation in Banking and Finance – Practice and Theory in Germany, in: AEDBF/‌EVBFR (Hg.), La Déontologie bancaire et financière/‌The Ethical Standards in Banking & Finance, 1998, 53 ff.; Weil, Gotshal & Manges, Comparative Study of Corporate Governance Codes Relevant to the European Union and Its Member States, Final Report to the European Commission, 2002; Jan Damrau, Selbstregulierung im Kapitalmarktrecht: Eine rechtsökonomische Analyse der Normsetzung der deutschen Börsen und ihrer Träger, 2003; Carl-Heinz Witt, Matthias Casper, Liane Bednarz, Martin Gebauer, Jan Gernoth, Markus Grahn, Jens Haubold, Stefan Huber, Götz Schulze, Christoph Teichmann, Nika Witteborg (Hg.), Die Privatisierung des Privatrechts: Rechtliche Gestaltung ohne staatlichen Zwang, 2003; Uwe Blaurock, Nils Goldschmidt, Alexander Hollerbach (Hg.), Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft, 2005; Gregor Bachmann, Private Ordnung: Grundlagen ziviler Regelsetzung, 2006; Johannes Köndgen, Privatisierung des Rechts: Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, Archiv für die civilistische Praxis 206 (2006) 477 ff.; Jörn Axel Kämmerer, Selbstregulierung am Beispiel des Kapitalmarktrechts, in: Klaus J. Hopt, Rüdiger Veil, idem (Hg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt, 2008, 145 ff.; Henrik-Michael Ringleb, Thomas Kremer, Marcus Lutter, Axel von Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 3. Aufl. 2008; M.T. Moore, Whispering Sweet Nothings: The Limitations of Informal Conformance in UK Corporate Governance, Journal of Corporate Law Studies 9 (2009) 95 ff; Bundesministerium der Justiz, Public Corporate Governance Kodex des Bundes (in der Fassung vom 30. Juni 2009), erhältlich unter <www.bmj.de>; Jörg Baetge, Peter Wollmert, Hans-Jürgen Kirsch, Peter Oser, Stefan Bischof (Hg.), Rechnungslegung nach IFRS (Loseblatt).

Abgerufen von Private Rechtsetzung und Codes of Conduct – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).