Europäische Verfassung: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 15:03 Uhr
von Ninon Colneric
1. Der EG-Vertrag als Verfassungsurkunde und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts
Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft und EG-Vertrag) haben eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind (EuGH Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1). Die wesentlichen Merkmale dieser so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten (EuGH Rs. 6/64 – Costa, Slg. 1964, 1141) und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen. Dem EuGH zufolge stellt der EWG-Vertrag deshalb, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft getroffen worden ist, die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Rs. 294/83 – Les Verts, Slg. 1986, 1339; Gutachten 1/91 – Europäischer Wirtschaftsraum, Slg. 1991, I-6079). Dasselbe gilt für den EG-Vertrag (EuGH Rs. 15/00 – Kommission/Europäische Investitionsbank, Slg. 2003, I-7281). Der Begriff der Rechtsgemeinschaft bezeichnet in diesem Kontext eine Gemeinschaft, die auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruht. Dem EG-Vertrag liegt keine klassische Gewaltenteilung zugrunde. Er beinhaltet jedoch ein System gegenseitiger Kontrolle, durch das ein institutionelles Gleichgewicht geschaffen werden soll (EuGH Rs. 138/ 79 – Roquette Frères, Slg 1980, 3333; EuGH Rs. C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-2041). Der grundlegende Status der Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten ist der des Unionsbürgers. Er vermittelt im Anwendungsbereich des EG-Vertrages einen umfassenden Anspruch auf Nichtdiskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I‑6193, Unionsbürgerschaft; Diskriminierungsverbot (allgemein))
Im Wege der Rechtsfortbildung erkannte der EuGH ungeschriebene Allgemeine Rechtsgrundsätze an, die den Rang von primärem Gemeinschaftsrecht haben. In diese Kategorie fallen beispielsweise das inzwischen in Art. 5 EG/ersetzt durch Art. 3b EU (2007) verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip (EuGH Rs. 310/04 – Spanien/Rat, Slg. 2006, I-7285; Verhältnismäßigkeit) sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes (EuGH, a.a.O.) und des rechtlichen Gehörs (EuGH Rs. C-240/03 P – Comunità montana della Valnerina, Slg. 2006, I-731).
Der EuGH zählte zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung er zu sichern habe, insbesondere die Grundrechte (EuGH Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419). Die von ihm entwickelte Konzeption des Grundrechtsschutzes fand später ihren Niederschlag im EU-Vertrag (1992), dessen Art. 6(2) bestimmt, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts richten sich in erster Linie an die Organe der Gemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind jedoch auch Handlungen der Mitgliedstaaten an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen, wenn diese im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden, z.B. gemeinschaftsrechtliche Regeln durchführen (EuGH Rs. 5/88 – Wachauf, Slg. 1989, 2609, und EuGH Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2025).
Gemäß einer vom EuGH im Fall Wachauf entwickelten Formel kann die Ausübung der von ihm anerkannten Grundrechte Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgen Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet. Für den Fall einer Kollision der Gemeinschaftsgrundrechte mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrages hat der EuGH die folgenden Grundsätze aufgestellt: Da die Grundrechte sowohl von der Gemeinschaft als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung der Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie der des freien Warenverkehrs oder der Dienstleistungsfreiheit, bestehen (EuGH Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659; EuGH Rs. C-36/02 – Omega, Slg. 2004, I-9609). Während es im Fall Schmidberger geheißen hatte, die bestehenden Interessen seien gegeneinander abzuwägen, ist in neueren Entscheidungen davon die Rede, dass die Ausübung der betroffenen Grundrechte mit den Erfordernissen der durch den EG-Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müsse (EuGH Rs. C-438/05 – Viking, Slg. 2007, I-10779; EuGH Rs. 341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767).
Im Juni 1999 beschloss der Europäische Rat auf seinem Gipfel in Köln, dass eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) erforderlich sei, um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu machen. Ein Konvent, der aus persönlichen Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente sowie einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission bestand, wurde mit ihrer Erarbeitung beauftragt. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2000 C 364/1) wurde am 7.12.2000 in Nizza von Rat, Parlament und Kommission feierlich proklamiert und unterzeichnet, nachdem der Europäische Rat den Entwurf der Charta gebilligt hatte (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK). Die Mitgliedstaaten unterzeichneten sie nicht. Der EuGH ging am 27.6.2006 erstmals in einem Urteil auf die GRCh ein (EuGH Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769). Er führte zu ihrem juristischen Stellenwert aus, auch wenn es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handele, habe der Gemeinschaftsgesetzgeber doch ihre Bedeutung anerkennen wollen, indem er in einer Begründungserwägung der streitigen Richtlinie ausgeführt habe, dass diese die in der GRCh anerkannten Grundsätze beachte. Im Übrigen werde mit der GRCh, wie sich aus ihrer Präambel ergebe, in erster Linie das Ziel verfolgt, die Rechte zu bekräftigen, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.
Weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane sind der Kontrolle darüber entzogen, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem EG-Vertrag, stehen. Die Beachtung der allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte ist in diese Kontrolle miteinbezogen. Die Einzelnen müssen einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten (EuGH Rs. C-50/00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677).
Gemäß Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 3a Abs. 3 EU (2007) treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgaben. Der EuGH hat u.a. aus dieser Bestimmung den Grundsatz der Haftung eines Mitgliedstaates für Schäden abgeleitet, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357; EuGH verb. Rs. C-46/93 und 48/93 – Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029; EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239).
2. Der EU-Vertrag (1992)
Anders als der EG-Vertrag ist der EU-Vertrag vom EuGH bisher nicht als Verfassungsurkunde bezeichnet worden. Art. 6(1) EU (1992)/6 EU (2007) enthält ein Bekenntnis zu grundlegenden Verfassungsprinzipien. Er lautet: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ Die durch den EU-Vertrag (1992) geschaffene Rechtsordnung der EU kann jedoch nicht als eine der EG vergleichbare neue Rechtsordnung bezeichnet werden. Sie stellt nur eine Vorstufe hierzu da. Die Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (sog. zweite Säule) werden im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit getroffen. Dem EuGH sind in diesem Bereich keine Kompetenzen zugewiesen worden. Die Stellung, die der EU-Vertrag (1992) dem EuGH im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen (sog. dritte Säule) einräumt, bleibt hinter der, die er im EG-Vertrag innehat, erheblich zurück (Europäischer Gerichtshof).
3. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa
In der dem Vertrag von Nizza (EU-Vertrag) beigefügten Erklärung Nr. 23 wurde zu einer eingehenderen und breiter angelegten Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufgerufen. Sie sollte vor allem vier Probleme behandeln: die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, der Status der GRCh, die Vereinfachung der Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Im Dezember 2001 gab der Europäische Rat in seiner Erklärung von Laeken bekannt, dass ein Konvent zur Zukunft Europas einberufen werden sollte, zu dessen Vorsitzenden er Giscard d’Estaing ernannte. Die Zusammensetzung dieses Konvents lehnte sich an die des Grundrechtskonvents an. Es wurden jedoch auch die Bewerberländer einbezogen. Die Erklärung von Laeken enthielt einen langen Katalog von Einzelfragen, die den Inhalt der Diskussion abstecken sollten. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die erforderliche Vereinfachung und Neuordnung nicht zuletzt dazu führen sollte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird. Der Konvent arbeitete im Konsensverfahren den Entwurf einer Verfassung aus und legte ihn im Juli 2003 vor. Der Entwurf wurde von einer im Oktober 2003 einberufenen Regierungskonferenz überarbeitet. Am 29.10.2004 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der EU, deren Zahl inzwischen auf 25 angewachsen war, in Rom den Vertrag über eine Verfassung für Europa (ABl. 2004 C 310/1).
Der Verfassungsvertrag beruht auf dem Konzept, den EU-Vertrag und den EG-Vertrag durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ zu ersetzen. Der Euratom-Vertrag bleibt als solcher bestehen, wird jedoch in einem Protokoll an die neue Verfassung angepasst.
Der Verfassungsvertrag umfasst vier Hauptteile, die denselben rechtlichen Rang haben, und nicht weniger als 36 Protokolle. Eine Präambel konstitutionellen Charakters, die auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas Bezug nimmt, ist ihm vorgeschaltet. Der nicht mit einer Überschrift versehene Teil I des Vertrages enthält die Grundsätze, Zielsetzungen und institutionellen Bestimmungen der Europäischen Union. Teil II besteht aus der GRCh in einer überarbeiteten und durch die Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen abgeschwächten Fassung. Teil III, der den Titel „Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union“ trägt, konkretisiert den Teil I und baut auf den Regelungen des EG-Vertrages und des EU-Vertrages auf. Teil IV enthält allgemeine und Schlussbestimmungen, darunter Vorschriften über Verfahren der Vertragsänderung.
Der Verfassungsvertrag sieht insbesondere die folgenden Neuerungen vor: Er verleiht der GRCh rechtliche Bindungswirkung und ordnet den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten an. Der Union erkennt er die bis dahin streitige Rechtspersönlichkeit zu. Der Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten wird im Vertragstext festgeschrieben. Ein Artikel ist den Symbolen der Union gewidmet. Die verschiedenen Arten von Zuständigkeiten werden im Vertragstext in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH definiert und zwischen Union und Mitgliedstaaten ohne größere Veränderungen aufgeteilt. Die Typologie der Rechtsakte umfasst nur noch sechs Instrumente, darunter das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz, deren Definitionen sich im Wesentlichen mit den Definitionen der Verordnung und der Richtlinie im EG-Vertrag decken. Der Rat tagt öffentlich, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt. Eine Solidaritätsklausel regelt das gemeinsame Handeln bei Terroranschlägen und Katastrophen. Der Verfassungsvertrag definiert die demokratischen Grundlagen der Union und führt die Möglichkeit eines Bürgerbehrens ein. Er erkennt ein Recht auf freiwilligen Austritt aus der Union an.
Die Höchstzahl der Sitze im Europäischen Parlament wird auf 750 festgelegt. Für ihre Verteilung ist eine degressiv proportionale Vertretung der Bürgerinnen und Bürger vorgeschrieben. Die im halbjährigen Rhythmus wechselnde Präsidentschaft im Europäischen Rat wird abgeschafft. An der Spitze des Europäischen Rats steht ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident. Ab 2014 soll die Zahl der Kommissare nur noch zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten betragen. Jede der aufeinander folgenden Kommissionen muss so besetzt sein, dass das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten auf zufrieden stellende Weise zum Ausdruck kommt. Der Präsident der Kommission wird auf Grund eines Vorschlags des Europäischen Rats vom Europäischen Parlament gewählt. Der Europäische Rat ernennt einen Außenminister der Union. Dieser tritt an die Stelle des bisherigen Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission sowie Kommissar für Außenbeziehungen. Er wird von einem Europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt.
Als qualifizierte Mehrheit gilt einer neuen Definition zufolge eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitglieder des Rats, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des Rats erforderlich, anderenfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Der Anwendungsbereich für die Abstimmung im Rat mit qualifizierter Mehrheit wird erneut ausgeweitet, das Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall erhoben. Die Union erhält Kompetenzen für weitere Politikbereiche. Den nationalen Parlamenten wird im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ein Verfahren eingeräumt, das es ihnen ermöglicht, aus ihrer Sicht bestehende Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips zu beanstanden.
Der Verfassungsvertrag schafft die Pfeilerstruktur der EU ab. Er enthält jedoch Sonderregeln für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die als integraler Bestandteil dieser Politik aufgefasste Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Europäische Gesetze und Rahmengesetze sind in diesem Bereich ausgeschlossen. Dem Europäischen Parlament wird nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Der Verfassungsvertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Er sieht die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur vor. Als spezielle Form der verstärkten Zusammenarbeit wird eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit ermöglicht, für die militärische Kriterien maßgeblich sind. Die Unionsgerichtsbarkeit ist für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich nicht zuständig. Im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen enthält der Verfassungsvertrag ebenfalls einige Sonderregelungen, z.B. ein Initiativrecht der Mitgliedstaaten und einen besonderen Mechanismus für eine Verstärkte Zusammenarbeit. Die Rolle von Europol und Eurojust wird ausgeweitet, die Möglichkeit der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft eröffnet.
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa sollte bei planmäßigem Verlauf des Ratifizierungsprozesses am 1.11.2006 in Kraft treten. In Frankreich wurde er am 29.5.2005 in einem Referendum abgelehnt. Keine Mehrheit fand er auch bei einer Volksbefragung, die am 1.6.2005 in den Niederlanden stattfand. Auf der Tagung des Europäischen Rats vom 16./17.6.2005 wurde daraufhin eine Reflexionsphase beschlossen.
4. Der Vertrag von Lissabon
Im Juni 2007 erteilte der Europäische Rat ein detailliertes Mandat für die Einberufung einer Regierungskonferenz, die an Stelle einer Verfassung einen Reformvertrag ausarbeiten sollte. Diese Initiative führte zu dem als Mantelvertrag ausgestalteten Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl. 2007 C 306/1), den die Mitgliedstaaten am 13.12.2007 unterzeichneten. Der Vertrag von Lissabon übernimmt in der technischen Form bloßer Vertragsänderungen, die mit einer Umnummerierung verbunden sind, wesentliche Elemente des Vertrages über eine Verfassung für Europa. Dem Vertragswerk sind 13 Protokolle und eine Übereinstimmungstabelle beigefügt. Der EG-Vertrag wird in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt, die Bezeichnung „Gemeinschaft“ durchgängig durch „Union“ ersetzt. Der AUEV regelt die Arbeitsweise der Union und legt die Bereiche, die Abgrenzung und die Einzelheiten der Ausübung ihrer Zuständigkeiten fest. Der EU-Vertrag (2007) und der AEUV (EG-Vertrag) sind rechtlich gleichrangig. Sie bilden die neue Grundlage der Europäischen Union. Die EU tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie wird.
Inhaltlich sind gegenüber dem Verfassungsvertrag insbesondere die folgenden Unterschiede zu verzeichnen: Der Begriff „Verfassung“ wird nicht verwandt. Die Bestimmung über den Vorrang des Unionsrechts ist gegen eine bloße Erklärung, die auf die Rechtsprechung des EuGH verweist, ausgetauscht worden. Es gibt keine Vorschrift über die Symbole der Union. Die Bezeichnungen „Europäisches Gesetz“ und „Europäisches Rahmengesetz“ werden wieder durch die Termini „Verordnung“ und „Richtlinie“ ersetzt. Die Benennung „Außenminister der Union“ wird zugunsten der Bezeichnung „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ aufgegeben. Statt einer Integration der GRCh in den Vertragstext verweist Art. 6 Abs. 1 EU (2007) auf die GRCh (in einer Fassung vom 12.12.2007) und misst ihr den gleichen Rang wie dem EU- und dem EG-Vertrag zu. Kraft einer Sonderregelung für Polen und das Vereinigte Königreich bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der EU oder eines Gerichts dieser Mitgliedstaaten zu der Feststellung, dass ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Verwaltungspraxis oder Maßnahmen nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang steht. Die Übereinkunft über den Beitritt der Union zur EMRK bedarf eines einstimmigen, von den Mitgliedstaaten zu ratifizierenden Beschlusses des Rats. Die neue Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat gilt erst am November 2014. Bis März 2017 kann ein Mitgliedstaat darüber hinaus im Einzelfall eine Abstimmung nach dem bisherigen Verfahren beantragen. Den nationalen Parlamenten wird bei der Kontrolle über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eine stärkere Rolle zuerkannt. In dem Artikel über die Ziele der Union ist nach dem Wort „Binnenmarkt“ der Zusatz „mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ gestrichen worden. Andererseits wurde ein Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb angenommen, in dem es heißt, dass der Binnenmarkt ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Als umweltpolitisches Ziel wird die Bekämpfung des Klimawandels genannt. Mehrere Bestimmungen tragen dem Gedanken der Energiesolidarität Rechnung. Es wird klargestellt, dass die der Union übertragenen Zuständigkeiten im Änderungsverfahren auch verringert werden können. Die Kriterien für den Beitritt zur Union sind verschärft worden.
Im Hinblick auf die im Juni 2009 anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament wurde ein Inkrafttreten des Vertrages am 1.1.2009 angestrebt. Der Vertrag fand jedoch bei einem Referendum in Irland am 12.6.2008 keine Zustimmung. Auf der Tagung des Europäischen Rates am 11./12.12.2008 wurde ein Kompromiss beschlossen: Jeder Mitgliedstaat soll weiterhin einen Kommissar stellen können. Irland werden rechtliche Garantien angeboten, wonach die Zuständigkeit seiner Regierung in den Bereichen militärische Neutralität, Steuerpolitik und Abtreibungspolitik unberührt bleibt. Die irische Regierung erklärte sich im Gegenzug bereit, vor November 2009 ein neues Referendum abzuhalten.
Literatur
Armin von Bogdandy (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003; Ingolf Pernice, Fondement du droit constitutionnel européen, 2004; Roberto Bin, Profili costituzionali dell’ Unione europea: cinquanti’anni di processo costituente, 2005; Rudolf Streinz, Christoph Ohler, Christoph Hermann, Die neue Verfassung für Europa, 2005; Teoría y Realidad Constitucional (Sonderheft): El tratado por el que se establece una Constitución para Europa, 2005; Klaus-Dieter Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl. 2006; Jean-Claude Piris, The Constitution for Europe: A legal analysis, 2006; Franz C. Mayer, Die Rückkehr zur Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2007, 1141 ff.; Vanessa Hellmann, Der Vertrag von Lissabon: Vom Verfassungsvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge, 2008; Nicolas Moussis, Le Traité de Lisbonne: une constitution sans en avoir le titre, Revue du Marché commun et de l’Union européene 2008, 161 ff.