Schweizerisches Obligationenrecht und Schweizerisches Zivilgesetzbuch: Unterschied zwischen den Seiten

Aus HWB-EuP 2009
(Unterschied zwischen Seiten)
K 1 Version importiert
 
de>Admin
 
Zeile 1: Zeile 1:
von ''[[Kurt Siehr]]''
von ''[[Kurt Siehr]]''
== 1. Entstehung ==
== 1. Entstehung ==
Das schweizerische Obligationenrecht (OR) vom 30.3.1911 ist als Teil 5 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) zusammen mit diesem am 1.1.1912 in Kraft getreten ([[Schweizerisches Zivilgesetzbuch]]). Die allgemeinen Bestimmungen des OR über die Entstehung, Erfüllung und Aufhebung der Verträge finden nach Art. 7 ZGB „auch Anwendung auf andere zivilrechtliche Verhältnisse“ (z.B. auf Ehe- und Erbverträge, die im ZGB geregelt sind). Das OR brauchte damals nicht neu geschaffen zu werden. Seit dem 1.1.1883 galt bereits das Obligationenrecht vom 14.6.1881, und dieses brauchte nur noch dem neu geschaffenen ZGB angepasst und modernisiert zu werden.
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) vom 10.12.1907 ist nach Art. 61 Abs. 1 seines Schlusstitels am 1.1.1912 in Kraft getreten. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29.5.1874 wurde in der Volksabstimmung vom 13.11.1898 um den Art. 64 Abs. 2 erweitert und dem Bund die „Gesetzgebung auch in den übrigen Gebieten des Zivilrechts“ zugestanden, also zusätzlich zu der bereits seit 1874 bestehenden Bundeszuständigkeit für das Recht der Handlungsfähigkeit sowie für das Obligationen- und Immaterialgüterrecht ([[Schweizerisches Obligationenrecht]]). Die Vorbereitungen für das ZGB hatten jedoch schon früher begonnen. Am 16.9.1884 beantragte der Vorsteher des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements auf dem Schweizerischen Juristentag in Lausanne, „de provoquer une étude comparée complète de la législation civile des états de la Suisse“. Diese Aufgabe übernahm ''Eugen Huber'' (1849–1923), damals Professor in Basel, und schuf in seinem vierbändigen Hauptwerk „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“ (1886–1893) die Grundlage für die spätere bundesweite Vereinheitlichung des Privatrechts. Im Jahr 1892 wurde ''Eugen Huber'' aus Halle, wo er seit 1888 lehrte, in die Heimat zurück gerufen und vom Bundesrat (d.h. der Bundesregierung) mit der Ausarbeitung eines einheitlichen Zivilgesetzbuches betraut. Neben seiner Tätigkeit als Ordinarius der Universität Bern und seit 1902 als Mitglied des Nationalrates arbeitete ''Eugen Huber'' an dem ZGB, das – nach Ergänzung der Bundesverfassung im Jahr 1898 – am 10.12.1907 schließlich Gesetz wurde.


Bis zum Inkrafttreten des OR von 1881 galt in der Schweiz kantonales Privatrecht. Die Bundesverfassung vom 12.10.1848 für den neu gegründeten Bundesstaat hatte dem Bund noch keine Gesetzgebungszuständigkeit für das Privatrecht gegeben. Das schweizerische Privatrecht war kantonales Recht, und zwar mit recht unterschiedlicher Ausrichtung. (1)&nbsp;Die west- und südschweizerischen Kantone lehnten sich an den französischen ''Code civil ''an. (2)&nbsp;Die bernische Gruppe (Aargau, Bern, Luzern, Solothurn) orientierte sich am österreichischen [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]]. (3)&nbsp;Für den Kanton Zürich schuf ''Johann Caspar'' ''Bluntschli'' (1808–1881) das Privatrechtliche Gesetzbuch (PGB) von 1853/‌55 als ein eigenständiges und umfassendes Werk, das auch in anderen Kantonen Anklang fand (z.B. in Graubünden mit seinem eigenständigen Bündnerischen Civilgesetzbuch von 1862 aus der Feder von ''Peter Conradin von Planta''<nowiki> [1815–1902], in Schaffhausen, Thurgau und Zug). (4)&nbsp;In anderen Kantonen blieb es beim alten Rechtszustand der Partikularrechte und Spezialgesetze (z.B. Appenzell, Basel und St. Gallen).</nowiki>
Mit dem ZGB wurde das schweizerische Zivilrecht außerhalb des Obligationenrechts, also das Personen-, Familien-, Erb- und Sachenrecht zum ersten Mal vereinheitlicht. Vor Inkrafttreten des ZGB galt in der Schweiz auf diesen Gebieten kantonales Recht und die Kantone versuchten durch Konkordate, später der Bund durch das Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter vom 25.6.1891, die interkantonalen Konflikte zu lösen. Das kantonale Recht vor Inkrafttreten des ZGB lässt sich in vier Gruppen einteilen. (1) die erste Gruppe von Kantonen der West- und Südschweiz (vor allem Genf) hatten Kodifikationen, die sich am französischen ''[[Code civil]]'' orientierten. (2) Eine zweite Gruppe (so z.B. Bern, Luzern und Solothurn) lehnte sich in ihren Gesetzbüchern an das [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] an. (3) Für den Kanton Zürich schuf ''Johann Caspar'' ''Bluntschli'' (1808–1881) das Privatrechtliche Gesetzbuch von 1853/‌55 auf der Grundlage deutscher Pandektistik. Dasselbe tat ''Peter Conradin von Planta'' (1815–1902) für den Kanton Graubünden im Bündnerischen Civilgesetzbuch von 1862. (4) Eine letzte Gruppe (z.B. Basel, St. Gallen) schließlich lebte unter ungeschriebenem Recht und Partikulargesetzen.
 
Diese Rechtszersplitterung war unbefriedigend, zumal die Bundesverfassung von 1848 auf dem Gebiet der Zölle, der Post und des Münzwesens kantonale Schranken abgebaut und damit Handel und Gewerbe von diesen Bindungen befreit hatte. Die Rechtszersplitterung zu überwinden, ging vom Kanton Bern aus. Der Kanton Bern bat ''Walther Munzinger'' (1830–1873), Professor für Handelsrecht, Privat- und eidgenössisches Bundesrecht an der Universität Bern, ein Handelsgesetzbuch für den Kanton Bern auszuarbeiten. Diese Initiative fand Anklang in der Eidgenossenschaft, so dass der Bundesrat den Experten ''Munzinger'' beauftragte, ein Handelsgesetzbuch für die gesamte Schweiz zu entwerfen. Munzinger machte sich an die Arbeit und benutzte dabei auch den französischen ''[[Code civil]]'', das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 und später den Dresdner Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse von 1866 als Anregung. Im Jahr 1864 legte er seinen Entwurf der Bundesversammlung vor. Die Kantone wollten jedoch ein allgemeines schweizerisches Obligationenrecht und nicht nur ein Gesetzbuch für Kaufleute, und so wurde ''Munzinger'' gebeten, seinen Entwurf umzuarbeiten. Im Jahre 1871 lag der Entwurf für ein eidgenössisches Obligationenrecht vor. Da ''Munzinger'' im Jahre 1873 verstorben war, wurde der zürcherische Professor ''Heinrich Fick'' (1822–1895) gebeten, den Munzingerschen Entwurf zu überarbeiten. Nachdem die Bundesverfassung vom 19.4.1874 dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Obligationenrecht gegeben hatte, konnte das Obligationenrecht nach weiteren Beratungen am 14.6.1881 verabschiedet werden und am 1.1.1883 Kraft treten. Fast 30&nbsp;Jahre später trat an seine Stelle das neue OR von 1911.


== 2. Inhalt ==
== 2. Inhalt ==
Das OR behandelt in fünf Abteilungen Allgemeine Bestimmungen, enthaltend vor allem die Entstehung, Wirkung und das Erlöschen der Obligationen (Art.&nbsp;1–183), die einzelnen Vertragsverhältnisse (Art.&nbsp;184–551), die Handelsgesellschaften und die Genossenschaft (Art.&nbsp;552–926), das Handelsregister, Geschäftsfirmen und kaufmännische Buchführung (Art.&nbsp;927–963) und die Wertpapiere (Art.&nbsp;965–1186).
Das ZGB, das in den drei Amtssprachen des Bundes Deutsch, Französisch und Italienisch gleichermaßen verbindlich ist, regelt nach einer kurzen Einleitung (Art.&nbsp;1–10) in vier Teilen das Personenrecht (Art.&nbsp;11–85bis), das Familienrecht (Art.&nbsp;90–455), das Erbrecht (Art.&nbsp;457–640) und das Sachenrecht (Art.&nbsp;641–977). Der Schlusstitel enthält in seinen Art.&nbsp;1–251 Anwendungs- und Einführungsbestimmungen, insbesondere intertemporalrechtliche Vorschriften. Das Obligationenrecht (OR) ist im Bundesgesetz vom 30.3.1911 betreffend die Ergänzung des ZGB (Fünfter Teil: Obligationenrecht) gesondert geregelt ([[Schweizerisches Obligationenrecht]]).


Das OR zeichnet sich durch sieben Charakteristika aus.
Das ZGB zeichnet sich durch zumindest fünf Charakteristika aus:


(1)&nbsp;Es ist – inhaltsbedingt – weniger lokal oder national gebunden als das ZGB mit seinem Familien- und Erbrecht. Selbst in der Begriffsbildung weicht es nur an wenigen Stellen von der allgemeinüblichen Nomenklatur ab. Zum Beispiel umfasst nach dem OR der Auftrag auch die ''entgeltliche'' Geschäftsbesorgung, und im Gesellschaftsrecht findet man ähnliche Eigenständigkeiten (z.B. Verwaltungsrat für die Oberleitung der Gesellschaft und deren Vertretung nach außen).
(1)&nbsp;Es verzichtet auf einen allgemeinen Teil, wie ihn das BGB kennt.


(2)&nbsp;Das OR gilt für zivil- und handelsrechtliche Obligationen. Bewusst hat man – wie die Entstehungsgeschichte des OR von 1881 zeigt (s.o.&nbsp;1) – in der Schweiz ein gesondertes Handelsgesetzbuch abgelehnt.
(2)&nbsp;Es gilt (nebst dem OR) nicht nur für bürgerliche Rechtsverhältnisse, sondern auch für den Handel. Die Schweiz hat bewusst auf ein Handelsgesetzbuch verzichtet.


(3)&nbsp;Das OR enthält Elemente der ost- und westschweizerischen Tradition. Beim Mobiliarkauf geht das OR vom Traditionsprinzip aus (Ausnahme in Art.&nbsp;235 Abs.&nbsp;1 OR für den Versteigerungskauf), und im Deliktsrecht enthält Art.&nbsp;41 OR eine Generalklausel nach französischem Vorbild Im Ganzen ist jedoch die Balance gelungen. Art.&nbsp;185 Abs.&nbsp;1 OR bildet eine Ausnahme. Danach geht die Gefahr beim Warenkauf – „sofern nicht besondere Verhältnisse oder Verabredungen eine Ausnahme begründen“ – schon mit Vertragschluss über, und zwar für die westschweizerischen Kantone gedacht als Kompensation für das ostschweizerische Traditionsprinzip, das in Art.&nbsp;714 ZGB für die gesamte Schweiz kodifiziert wurde (nach ''Eugen Bucher'' ein „fauler“ Kompromiss).
(3)&nbsp;Häufig findet man im ZGB Vorschriften über das gerichtliche Verfahren (vgl. etwa Art.&nbsp;135&nbsp;ff. über das Scheidungsverfahren). Das beruht darauf, dass der Bund bis zur neuen Bundesverfassung vom 18.4.1999 keine Gesetzgebungszuständigkeit für den Zivilprozess hatte und dass deswegen gewisse Grundfragen des Zivilverfahrens in das materielle Recht mit aufgenommen wurden.


(4)&nbsp;Nur wenige obligationenrechtliche Materien sind im OR nicht geregelt. Das gilt vor allem für den Versicherungsvertrag, der im Versicherungsvertragsgesetz von 1908 geregelt ist. Heute dagegen macht sich eine Dekodifizierung bemerkbar, und zwar durch privatrechtliche Gesetze neben dem OR. Beispiele sind das Produktehaftpflichtgesetz von 1993, das Konsumentenkreditgesetz von 2001 und das Fusionsgesetz von 2003.
(4)&nbsp;Das ZGB ist eine eigenständige Kodifikation, die bewusst und überlegt manchmal der Tradition der deutschsprachigen Kantone folgt, manchmal derjenigen der französischsprachigen Landesteile.


(5)&nbsp;Das OR ist in seiner ursprünglichen Gestalt ein liberales Gesetz, das davon ausgeht, dass mündige Bürger miteinander Geschäfte abschließen und für ihre Handlungen haften. Die Zeit der Massenherstellung, der aggressiven und subtilen Reklame und des Massenkonsums war noch nicht angebrochen. Erst später wurde das OR hinsichtlich des Konsumentenschutzes ergänzt (s.u. 3. (5)).
(a)&nbsp;Im Personenrecht findet sich bereits Art.&nbsp;28 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.: „Wer in seinen persönlichen Verhältnissen unbefugterweise verletzt wird, kann auf Beseitigung der Störung klagen.“ Dieser Persönlichkeitsschutz aus dem Jahr 1907 ist ein Beispiel für die vorausschauende und mutige Gesetzgebung des ZGB.


<nowiki>(6)&nbsp;Das OR scheut sich häufig nicht, dem Gericht ein Ermessen einzuräumen, so z.B. bei der Bemessung des zu ersetzenden Schadens im Deliktsrecht (Art.&nbsp;42–44 OR). In solchen Fällen oder wenn das Gesetz auf die Würdigung der Umstände oder auf wichtige Gründe verweist, „hat [das Gericht] seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen“ (Art.&nbsp;4 ZGB).</nowiki>
(b)&nbsp;Das ursprüngliche Familienrecht war patriarchalisch orientiert, wie alle Zivilgesetzbücher der frühen Zeit, was folgende Vorschriften in kurzen und kernigen Worten zeigen: „Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.“ (Art.&nbsp;160 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.). „Der Ehemann verwaltet das eheliche Vermögen. “ (Art.&nbsp;200 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.). „Die Kinder sind den Eltern Gehorsam und Ehrerbietung schuldig.“ (Art.&nbsp;275 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.). Andererseits war das ZGB jedoch auch fortschrittlicher als andere Gesetzbücher, indem es – abgesehen von außerehelichen Kindern, die im Ehebruch oder in Blutschande gezeugt wurden (Art.&nbsp;304 ZGB&nbsp;a.F.) – die Anerkennung der Vaterschaft zuließ und auch die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung mit oder ohne Standesfolge vorsah (Art.&nbsp;307&nbsp;ff. ZGB&nbsp;a.F.).


(7)&nbsp;Der Stil und die Sprache des OR zeichnen sich durch Kürze und Klarheit aus. Dies beruht auch auf dem Erfordernis, dass schweizerische Bundesgesetze in den drei Amtssprachen des Deutschen, Französischen und Italienischen vorliegen müssen, und auf der Tatsache, dass alle drei Versionen in gleicher Weise verbindlich sind. Diese Dreisprachigkeit führt dazu, dass man bereits bei der Abfassung von Bundesnormen darauf achtet, dass die beabsichtigte Normierung in allen drei Amtssprachen klar und deutlich ausgedrückt wird.
(c)&nbsp;Das Eherecht war patriarchalisch konzipiert, der Ehemann bzw. Vater hatte nach der Urfassung des ZGB das Sagen. Der gesetzliche Güterstand war ursprünglich die Güterverbindung (Art.&nbsp;191&nbsp;ff. ZGB&nbsp;a.F.), die alles Vermögen, das den Ehegatten zur Zeit der Eheschließung gehört oder während der Ehe auf sie übergeht, zum ehelichen Vermögen, das der Ehemann verwaltet (Art.&nbsp;200 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.), vereinigt. Die Ehescheidung war zulässig. Im Scheidungsprozess herrschte die Offizialmaxime.


== 3. Fortentwicklung ==
(d)&nbsp;Im Erbrecht fällt die starke Bindung des Erblassers auf. Nur die engste Familie ist erbberechtigt, so dass die Erbberechtigung der Blutsverwandten mit dem Stamm der Großeltern aufhört (Art.&nbsp;460 Abs.&nbsp;1 ZGB), auch die Geschwister waren pflichtteilsberechtigt (Art.&nbsp;470 Abs.&nbsp;1 ZGB&nbsp;a.F.). Das Pflichtteilsrecht ist als Noterbrecht ausgestaltet, und zwar mit wenig Verfügungsfreiheit des Erblassers (Art.&nbsp;471, 522&nbsp;ff. ZGB).  
Die Zeit ist am OR nicht spurlos vorübergegangen. Zumindest acht moderne Entwicklungen haben ihre Spuren im OR hinterlassen.


(1)&nbsp;Das Recht des Grundstückskaufs (Art.&nbsp;216–221 OR) wurde 1991 anlässlich der Revision des bäuerlichen Bodenrechts eher zufällig um Vorschriften über Vorkaufs- und Rückkaufsrechte (Art.&nbsp;216a-216e, 218 OR) ergänzt (vgl. BBl.&nbsp;1988 III 955).
(e)&nbsp;Das Sachenrecht kennt die kausale Übereignung, folgt dem Vorbild des ''Code civil'' auch beim gutgläubigen Erwerb gestohlener Sachen (Art.&nbsp;934 Abs.&nbsp;1 und 2 ZGB), und regelt den Besitz sehr ausführlich (Art.&nbsp;919&nbsp;ff. ZGB).


(2)&nbsp;Die Vorschriften über die Miete (Art.&nbsp;253–274 OR) wurden mit Bundesgesetz vom 15.12.89 grundlegend überarbeitet, weil sich in der ganzen Schweiz die Mieter von Wohnungen und Geschäftsräumen über unangemessene Mietzinsen und ungerechtfertigte Kündigungen beklagt hatten. Die neuen Mietvorschriften versuchen, diesen Missständen abzuhelfen, aber zugleich eine faire Balance zwischen den Interessen der Mietvertragsparteien zu wahren.
(5)&nbsp;Das ZGB ist eine mutige und selbstbewusste Kodifikation. Es bekennt sich zur Lückenhaftigkeit und weist in Art.&nbsp;1 Abs.&nbsp;2 ZGB – im Anschluss an ''Aristoteles''<nowiki> (Nicomachische Ethik V, 10, 5) – das Gericht an, bei einer Lücke „nach der Regel [zu] entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.“ Außerdem ermahnt es in Art.&nbsp;2 ZGB jedermann, „in der Ausübung seiner Rechte und in Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln“ (Abs.&nbsp;1), und „offenbare[n] Missbrauch eines Rechtes“ zu unterlassen (Abs.&nbsp;2). Schließlich fordert das ZGB den Richter auf, bei Ermessensentscheidungen „seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen“ (Art.&nbsp;4 ZGB).</nowiki>


(3)&nbsp;Der Titel des OR über den Arbeitsvertrag regelt den Einzelarbeitsvertrag (Art.&nbsp;319–343 OR), drei besondere Einzelarbeitsverträge (Lehrvertrag, Handelsreisendenvertrag, Heimarbeitsvertrag: Art.&nbsp;344–355 OR) und den Gesamtarbeitsvertrag (Tarifvertrag für alle Arbeitsverhältnisse) und Normalarbeitsvertrag für einzelne Arten von Arbeitsverhältnisse (Art.&nbsp;356–360f OR). Diese Vorschriften sind im OR vor allem im Jahr 1971 grundlegend revidiert worden, um vor allem die Position des Arbeitnehmers zu stärken und ihn vor Abänderungen im Einzelfall zu seinen Ungunsten zu schützen (vgl. Art.&nbsp;362 OR über die Aufzählung der Vorschriften, die zuungunsten der Arbeitnehmer unabänderlich sind). Außerdem wurden bundesrechtliche Spezialvorschriften über gewisse besondere Arbeitsverträge, die bisher in besonderen Bundesgesetzen geregelt waren, in das OR aufgenommen.
== 3. Fortentwicklung ==
Im Laufe von fast hundert Jahren seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1912 hat das ZGB zahlreiche Reformen erfahren.


(4)&nbsp;Das Gesellschaftsrecht ist in den letzten Jahren verschiedentlich in langen oder kürzeren Revisionsverfahren erneuert worden. Im Jahr 1936 wurde die GmbH nach deutschem Vorbild in das OR aufgenommen und das Aktienrecht den Erfordernissen der Zeit (verstärkte Publizität und Offenlegung von Beherrschungsverhältnissen) angepasst. Die große Aktienrechtsreform von 1991 geht auf Reformbestrebungen seit 1968 zurück. Ihr Ziel war, Aktionäre und Gläubiger durch größere Transparenz stärker zu schützen, die Eigenkapitalbasis der Gesellschaften zu stärken und die Struktur und Funktionsfähigkeit der Gesellschaftsorgane (Verwaltungsrat, Generalversammlung und Revisionsstelle) zu verbessern. Schließlich wurde in den Jahren 1995–2005 das Recht der GmbH einer Totalrevision unterzogen und mit Bundesgesetz vom 16.12.2005 abgeschlossen. Diese Gesellschaftsform soll vor allem kleineren Gesellschaften mit persönlicher Beteiligung und Betätigung der Mitglieder offenstehen. Das Recht der Stiftung, das im ZGB (Art.&nbsp;80&nbsp;ff.) geregelt ist, ist mit Gesetz vom 6.10. 2004 überholt worden, und am 1.1.2006 gilt das neue Stiftungsrecht. Das anfängliche Verbot von Unternehmensstiftungen ist nicht Gesetz geworden. Außerhalb des OR befasst sich das Fusionsgesetz vom 3.10.2003 mit der Fusion, der Spaltung und der Umwandlung von Gesellschaften sowie mit der Fusion bzw. Umwandlung und Vermögensübertragungen von Stiftungen, Vorsorgeeinrichtungen und Instituten des öffentlichen Rechts.
(a)&nbsp;Im Personenrecht ist vor allem das Recht des Persönlichkeitsschutzes ([[Persönlichkeitsrecht]]) durch Bundesgesetz vom 16.12.1983 verstärkt (Art.&nbsp;27, 28 ZGB) und das Stiftungsrecht (Art.&nbsp;80&nbsp;ff.) ist durch Bundesgesetz vom 8.10.2004 revidiert worden.


(5)&nbsp;Das Konsumentenrecht hat im OR seinen Niederschlag gefunden (Art.&nbsp;6a und 40a&nbsp;ff. über den Widerruf bei Haustürgeschäften, Art.&nbsp;227a&nbsp;ff. über Teilzahlungsgeschäfte), aber auch in den gesonderten Bundesgesetzen über Pauschalreisen (1993) und über den Konsumkredit (2001) ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Die meisten dieser neuen Vorschriften haben EU-Richtlinien ([[Richtlinie]]) zum Vorbild genommen und in einem freiwilligen „Nachvollzug“ das schweizerische Recht dem europäischen Standard angepasst. Dadurch soll einerseits eine Diskriminierung inländischer Konsumenten vermieden werden. Andererseits soll die Schweiz gegenüber ausländischen Konkurrenten aus dem EU-Bereich wettbewerbsfähig bleiben. Auffallend ist, dass bislang die Schweiz noch nicht das Recht der [[Allgemeine Geschäftsbedingungen|[Allgemeinen Geschäftsbedingungen]] (AGB) kodifiziert hat. Man begnügt sich noch immer mit einer Abschlusskontrolle, scheute aber vor einer umfassenden Inhaltskontrolle zurück. Das soll sich in Zukunft ändern. Das Recht der AGB steht in der Schweiz wieder einmal auf der Liste angestrebter Gesetzesvorhaben.
(b)&nbsp;Vom ursprünglichen Familienrecht ist heute nur noch wenig übrig geblieben. Beginnend mit dem Adoptionsrecht (Bundesgesetz vom 30.6.1972) und dem übrigen Kindesrecht (Bundesgesetz vom 25.6.1976), ist das Recht der Ehewirkungen (Bundesgesetz vom 5.10.1984) und das Recht der Ehescheidung (Bundesgesetz vom 26.6.1998) modernisiert worden. Heute ist auch in der Schweiz das Wohl des Kindes vorrangig und im Eherecht gelten der Grundsatz der Gleichberechtigung sowie die Errungenschaftsbeteiligung als gesetzlicher Güterstand der Gütertrennung mit Ausgleich der Errungenschaft bei Beendigung des Güterstandes (Art.&nbsp;196&nbsp;ff. ZGB). Das Vormundschaftsrecht wird gerade erneuert und im Recht des Erwachsenenschutzes neu geordnet (BBl.&nbsp;2006, 7139). Außerhalb des ZGB ist die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare durch Bundesgesetz vom 18.6.2004 (PartG) geregelt


(6)&nbsp;Die Einführung der elektronischen Signatur im Jahre 2003 machte Änderungen erforderlich (z.B. Art.&nbsp;14 Abs.&nbsp;3, 59a, 929a).
(c)&nbsp;Das Erbrecht ist immer nur in Zusammenhang mit anderen Teilen des ZGB sporadisch geändert worden. So sind z.B. die erbrechtliche Stellung des überlebenden Ehegatten verstärkt (Art.&nbsp;462 ZGB), alle Kinder gleichbehandelt (Art.&nbsp;457 ZGB) und der Pflichtteil der Geschwister (Art.&nbsp;471 ZGB) beseitigt worden.


(7)&nbsp;Neue Haftungsrisiken sind − einer schweizerischen Tradition zufolge (vgl. die Kraftfahrzeughaftpflicht in Art.&nbsp;58&nbsp;ff. Straßenverkehrsgesetz von 1958 und die Transporthaftung im Bundesgesetz von 1905) – spezialgesetzlich geregelt, nämlich im Produktehaftpflichtgesetz von 1993 ([[Produkthaftung]]).
(d)&nbsp;Das Sachenrecht hat vor allem für Immobilien Änderungen erfahren, nämlich durch die Bundesgesetze vom 19.12.1963 über Miteigentum und Stockwerkeigentum, vom 19.3.1965 über das Baurecht und Grundstücksverkehrsrecht und vom 4.10.1991 über das Immobiliarsachenrecht und bäuerliche Bodenrecht. Das Mobiliarsachenrecht sieht heute vor, dass Tiere keine Sachen sind (Art.&nbsp;641a Abs.&nbsp;1 ZGB), und auf Grund des Kulturgütertransfergesetzes vom 20.6.2003 sind Kulturgüter stärker als bisher vor Verlust durch Ersitzung (Art.&nbsp;728 Abs.&nbsp;1ter ZGB) und vor gutgläubigem Erwerb vom Nichtberechtigten (Art.&nbsp;934 Abs.&nbsp;1bis ZGB) geschützt.


(8)&nbsp;Neue Vertragstypen sind nur vereinzelt neu in das OR aufgenommen worden, so der Agenturvertrag in den Art.&nbsp;418a-418v OR (1949) und der Auftrag zur Ehe- und Partnerschaftsvermittlung in den Art.&nbsp;406a-406h OR (1998). Alle anderen modernen Vertragstypen wie etwa ''[[Leasing]]'', ''[[Factoring]]'' oder ''[[Franchising]]'' bleiben der Parteiautonomie überlassen.
Außerdem ist das ZGB durch eine behutsame Rechtsprechung der Gerichte, insbesondere des Bundesgerichts, sowie durch kluge Beiträge der Wissenschaft, vor allem durch umfangreiche Kommentierungen des ZGB (Basler, Berner und Zürcher Kommentar), konkretisiert und fortentwickelt worden.


== 4. Bedeutung ==
== 4. Bedeutung ==
Das OR ist die reife Frucht einer gesamteuropäischen Entwicklung des Schuld- und Handelsrechts des 19. und des frühen 20.&nbsp;Jahrhunderts. Es ist eine liberale Gesamtkodifikation des gesamten Obligationenrechts, die sich auch heute noch einer zu starken Bevormundung seiner Bürger und Konsumenten enthält. Diese Qualitäten haben dazu beigetragen, dass das OR ohne große Schwierigkeiten von der Türkei im Jahre 1926 rezipiert und seitdem angewendet werden konnte. Auch im fernen Osten (China, Taiwan) und in Nordafrika hat das OR deutlich Spuren hinterlassen.
Das ZGB ist auch außerhalb der Schweiz als ein vorzügliches Zivilgesetzbuch gepriesen worden. Geschätzt wird vor allem seine Verständlichkeit, die zu einem wesentlichen Teil darauf beruht, dass es in den drei vollen Amtssprachen der Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch) gleichermaßen verbindlich ist und deshalb in den drei Versionen klar und eindeutig sein muss. Doch nicht nur dies. Es wurde ins Türkische übersetzt und mit wenigen Ausnahmen (z.B. im Ehegüterrecht) als [[Türkisches Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht|türkisches ZGB]] von 1926 in der Türkei in Kraft gesetzt Seitdem orientiert sich die Türkei im Zivilrecht auch weiterhin an der Rechtsentwicklung in der Schweiz. Bei der Ausarbeitung des italienischen ''Codice civile'' von 1942 und des griechischen Zivilgesetzbuchs von 1940/‌46 sowie in anderen Ländern wurde das ZGB ebenfalls zu Rate gezogen. Bis zum heutigen Tage gilt das ZGB als ein hervorragendes Beispiel für eine gelungene Kodifizierung des Zivilrechts.


==Literatur==
==Literatur==
''Hans-Peter Benöhr'', Der Dresdner Entwurf von 1866 und das Schweizerische Obligationenrecht von 1881. Motivationen der Redaktoren und Lösungen in den Kodifikationen, in: Hans Peter, Emil W. Stark, Pierre Tercier (Hg.), Hundert Jahre schweizerisches Obligationenrecht, 1982, 57&nbsp;ff.; ''Hans Merz'', Das schweizerische Obligationenrecht von 1881, in: Hans Peter, Emil W. Stark, Pierre Tercier (Hg.), Hundert Jahre schweizerisches Obligationenrecht, 1982, 3&nbsp;ff.; ''Adrian Staehelin'', Der Entwurf eines schweizerischen Handelsrechts von 1864, in: Hans Peter, Emil W. Stark, Pierre Tercier (Hg.), Hundert Jahre schweizerisches Obligationenrecht, 1982, 31&nbsp;ff.; ''Pio Caroni ''(Hg.), Das Obligationenrecht 1883–1983. Berner Ringvorlesung zum Jubiläum des schweizerischen Obligationen-rechts, 1984; ''Ibrahim Kaplan'', Das schweizerische Obligationenrecht in der Türkei, in: Gedächtnisschrift für Ernst E. Hirsch, 1986, 649&nbsp;ff.; ''Peter Gauch'','' Jörg Schmid'' (Hg.), Die Rechtsentwicklung an der Schwelle zum 21.&nbsp;Jahrhundert. Symposium zum Schweizerischen Privatrecht, 2001; ''Urs Fasel'', Bahnbrecher Munzinger, 2003; ''Susanne Genner'', Dekodifikation. Zur Auflösung der kodifikatorischen Einheit im schweizerischen Zivilrecht, 2006.
''Josef Kohler'', Eugen Huber und das Schweizer Zivilgesetzbuch, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht des In- und Auslandes 5 (1913) 1&nbsp;ff.; ''Max Rümelin'', Eugen Huber, 1923; ''Paul Mutzner'','' Eugen Huber'', Zeitschrift für Schweizerisches Recht 43 (1924) 1&nbsp;ff.; ''Theo Guhl'','' Eugen Huber'', in: Hans Schultheß (Hg.), Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, 1945, 323&nbsp;ff.; ''Ernst Hirsch'', Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Schweizeri-sche Juristen-Zeitung 1954, 337&nbsp;ff.; ''Erich Pritsch'', Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957) 123&nbsp;ff.; ''Ferdinand Elsener'', Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19.&nbsp;Jahrhundert, 1975; ''Pio Caroni ''(Hg.), L’unification du droit privé suisse au XIXe siècle, 1986; ''Pio Caroni'','' ''Rechtseinheit. Drei historische Studien zu Art.&nbsp;64 BV, 1986; ''Dominique Manaï'', Eugen Huber – Jurisconsulte charismatique, 1990; ''François Dessemontet'','' Tuğrul Ansay ''(Hg.), Introduction to Swiss Law, 2.&nbsp;Aufl. 1995; ''Peter Gauch'','' Jörg Schmid'' (Hg.), Die Rechtsentwicklung an der Schwelle zum 21.&nbsp;Jahrhundert. Symposium zum Schweizerischen Privatrecht, 2001; ''Susanne Genner'', Dekodifikation. Zur Auflösung der kodifikatorischen Einheit im schweizerischen Zivilrecht, 2006.


==Quellen==
==Quellen==
Die aktuelle Fassung des ZGB findet sich gedruckt in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts (SR) unter Nummer 220. Im Internet ist sie abrufbar unter <nowiki>http://www.admin.ch/‌‌ch/‌d/‌sr/‌sr.html</nowiki>; Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei ''Urs Fasel'', Handels- und obligationenrechtliche Materialien, 2000.
Die aktuelle Fassung des ZGB findet sich gedruckt in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts (SR) unter Nummer 210. Im Internet ist sie abrufbar unter <nowiki>http://www.admin.ch/‌‌ch/‌d/‌sr/‌sr.html</nowiki>; Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei ''Urs Fasel'','' ''Sachenrechtliche Materialien: Von den ersten Entwürfen bis zum Gesetz 1912, 2005; ''Markus Reber'', ''Christoph Hurni ''(Hg.), Materialien zum Zivilgesetzbuch, Bd. II des Berner Kommentars zum schweizerischen Privatrecht: Die Erläuterungen von Eugen Huber. Text des Vorentwurfs von 1900, 2007.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Swiss_Code_of_Obligations_(OR)]]
[[en:Swiss_Civil_Code_(ZGB)]]

Version vom 23. November 2021, 22:48 Uhr

von Kurt Siehr

1. Entstehung

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) vom 10.12.1907 ist nach Art. 61 Abs. 1 seines Schlusstitels am 1.1.1912 in Kraft getreten. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29.5.1874 wurde in der Volksabstimmung vom 13.11.1898 um den Art. 64 Abs. 2 erweitert und dem Bund die „Gesetzgebung auch in den übrigen Gebieten des Zivilrechts“ zugestanden, also zusätzlich zu der bereits seit 1874 bestehenden Bundeszuständigkeit für das Recht der Handlungsfähigkeit sowie für das Obligationen- und Immaterialgüterrecht (Schweizerisches Obligationenrecht). Die Vorbereitungen für das ZGB hatten jedoch schon früher begonnen. Am 16.9.1884 beantragte der Vorsteher des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements auf dem Schweizerischen Juristentag in Lausanne, „de provoquer une étude comparée complète de la législation civile des états de la Suisse“. Diese Aufgabe übernahm Eugen Huber (1849–1923), damals Professor in Basel, und schuf in seinem vierbändigen Hauptwerk „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“ (1886–1893) die Grundlage für die spätere bundesweite Vereinheitlichung des Privatrechts. Im Jahr 1892 wurde Eugen Huber aus Halle, wo er seit 1888 lehrte, in die Heimat zurück gerufen und vom Bundesrat (d.h. der Bundesregierung) mit der Ausarbeitung eines einheitlichen Zivilgesetzbuches betraut. Neben seiner Tätigkeit als Ordinarius der Universität Bern und seit 1902 als Mitglied des Nationalrates arbeitete Eugen Huber an dem ZGB, das – nach Ergänzung der Bundesverfassung im Jahr 1898 – am 10.12.1907 schließlich Gesetz wurde.

Mit dem ZGB wurde das schweizerische Zivilrecht außerhalb des Obligationenrechts, also das Personen-, Familien-, Erb- und Sachenrecht zum ersten Mal vereinheitlicht. Vor Inkrafttreten des ZGB galt in der Schweiz auf diesen Gebieten kantonales Recht und die Kantone versuchten durch Konkordate, später der Bund durch das Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter vom 25.6.1891, die interkantonalen Konflikte zu lösen. Das kantonale Recht vor Inkrafttreten des ZGB lässt sich in vier Gruppen einteilen. (1) die erste Gruppe von Kantonen der West- und Südschweiz (vor allem Genf) hatten Kodifikationen, die sich am französischen Code civil orientierten. (2) Eine zweite Gruppe (so z.B. Bern, Luzern und Solothurn) lehnte sich in ihren Gesetzbüchern an das ABGB an. (3) Für den Kanton Zürich schuf Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) das Privatrechtliche Gesetzbuch von 1853/‌55 auf der Grundlage deutscher Pandektistik. Dasselbe tat Peter Conradin von Planta (1815–1902) für den Kanton Graubünden im Bündnerischen Civilgesetzbuch von 1862. (4) Eine letzte Gruppe (z.B. Basel, St. Gallen) schließlich lebte unter ungeschriebenem Recht und Partikulargesetzen.

2. Inhalt

Das ZGB, das in den drei Amtssprachen des Bundes Deutsch, Französisch und Italienisch gleichermaßen verbindlich ist, regelt nach einer kurzen Einleitung (Art. 1–10) in vier Teilen das Personenrecht (Art. 11–85bis), das Familienrecht (Art. 90–455), das Erbrecht (Art. 457–640) und das Sachenrecht (Art. 641–977). Der Schlusstitel enthält in seinen Art. 1–251 Anwendungs- und Einführungsbestimmungen, insbesondere intertemporalrechtliche Vorschriften. Das Obligationenrecht (OR) ist im Bundesgesetz vom 30.3.1911 betreffend die Ergänzung des ZGB (Fünfter Teil: Obligationenrecht) gesondert geregelt (Schweizerisches Obligationenrecht).

Das ZGB zeichnet sich durch zumindest fünf Charakteristika aus:

(1) Es verzichtet auf einen allgemeinen Teil, wie ihn das BGB kennt.

(2) Es gilt (nebst dem OR) nicht nur für bürgerliche Rechtsverhältnisse, sondern auch für den Handel. Die Schweiz hat bewusst auf ein Handelsgesetzbuch verzichtet.

(3) Häufig findet man im ZGB Vorschriften über das gerichtliche Verfahren (vgl. etwa Art. 135 ff. über das Scheidungsverfahren). Das beruht darauf, dass der Bund bis zur neuen Bundesverfassung vom 18.4.1999 keine Gesetzgebungszuständigkeit für den Zivilprozess hatte und dass deswegen gewisse Grundfragen des Zivilverfahrens in das materielle Recht mit aufgenommen wurden.

(4) Das ZGB ist eine eigenständige Kodifikation, die bewusst und überlegt manchmal der Tradition der deutschsprachigen Kantone folgt, manchmal derjenigen der französischsprachigen Landesteile.

(a) Im Personenrecht findet sich bereits Art. 28 Abs. 1 ZGB a.F.: „Wer in seinen persönlichen Verhältnissen unbefugterweise verletzt wird, kann auf Beseitigung der Störung klagen.“ Dieser Persönlichkeitsschutz aus dem Jahr 1907 ist ein Beispiel für die vorausschauende und mutige Gesetzgebung des ZGB.

(b) Das ursprüngliche Familienrecht war patriarchalisch orientiert, wie alle Zivilgesetzbücher der frühen Zeit, was folgende Vorschriften in kurzen und kernigen Worten zeigen: „Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.“ (Art. 160 Abs. 1 ZGB a.F.). „Der Ehemann verwaltet das eheliche Vermögen. “ (Art. 200 Abs. 1 ZGB a.F.). „Die Kinder sind den Eltern Gehorsam und Ehrerbietung schuldig.“ (Art. 275 Abs. 1 ZGB a.F.). Andererseits war das ZGB jedoch auch fortschrittlicher als andere Gesetzbücher, indem es – abgesehen von außerehelichen Kindern, die im Ehebruch oder in Blutschande gezeugt wurden (Art. 304 ZGB a.F.) – die Anerkennung der Vaterschaft zuließ und auch die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung mit oder ohne Standesfolge vorsah (Art. 307 ff. ZGB a.F.).

(c) Das Eherecht war patriarchalisch konzipiert, der Ehemann bzw. Vater hatte nach der Urfassung des ZGB das Sagen. Der gesetzliche Güterstand war ursprünglich die Güterverbindung (Art. 191 ff. ZGB a.F.), die alles Vermögen, das den Ehegatten zur Zeit der Eheschließung gehört oder während der Ehe auf sie übergeht, zum ehelichen Vermögen, das der Ehemann verwaltet (Art. 200 Abs. 1 ZGB a.F.), vereinigt. Die Ehescheidung war zulässig. Im Scheidungsprozess herrschte die Offizialmaxime.

(d) Im Erbrecht fällt die starke Bindung des Erblassers auf. Nur die engste Familie ist erbberechtigt, so dass die Erbberechtigung der Blutsverwandten mit dem Stamm der Großeltern aufhört (Art. 460 Abs. 1 ZGB), auch die Geschwister waren pflichtteilsberechtigt (Art. 470 Abs. 1 ZGB a.F.). Das Pflichtteilsrecht ist als Noterbrecht ausgestaltet, und zwar mit wenig Verfügungsfreiheit des Erblassers (Art. 471, 522 ff. ZGB).

(e) Das Sachenrecht kennt die kausale Übereignung, folgt dem Vorbild des Code civil auch beim gutgläubigen Erwerb gestohlener Sachen (Art. 934 Abs. 1 und 2 ZGB), und regelt den Besitz sehr ausführlich (Art. 919 ff. ZGB).

(5) Das ZGB ist eine mutige und selbstbewusste Kodifikation. Es bekennt sich zur Lückenhaftigkeit und weist in Art. 1 Abs. 2 ZGB – im Anschluss an Aristoteles (Nicomachische Ethik V, 10, 5) – das Gericht an, bei einer Lücke „nach der Regel [zu] entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.“ Außerdem ermahnt es in Art. 2 ZGB jedermann, „in der Ausübung seiner Rechte und in Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln“ (Abs. 1), und „offenbare[n] Missbrauch eines Rechtes“ zu unterlassen (Abs. 2). Schließlich fordert das ZGB den Richter auf, bei Ermessensentscheidungen „seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen“ (Art. 4 ZGB).

3. Fortentwicklung

Im Laufe von fast hundert Jahren seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1912 hat das ZGB zahlreiche Reformen erfahren.

(a) Im Personenrecht ist vor allem das Recht des Persönlichkeitsschutzes (Persönlichkeitsrecht) durch Bundesgesetz vom 16.12.1983 verstärkt (Art. 27, 28 ZGB) und das Stiftungsrecht (Art. 80 ff.) ist durch Bundesgesetz vom 8.10.2004 revidiert worden.

(b) Vom ursprünglichen Familienrecht ist heute nur noch wenig übrig geblieben. Beginnend mit dem Adoptionsrecht (Bundesgesetz vom 30.6.1972) und dem übrigen Kindesrecht (Bundesgesetz vom 25.6.1976), ist das Recht der Ehewirkungen (Bundesgesetz vom 5.10.1984) und das Recht der Ehescheidung (Bundesgesetz vom 26.6.1998) modernisiert worden. Heute ist auch in der Schweiz das Wohl des Kindes vorrangig und im Eherecht gelten der Grundsatz der Gleichberechtigung sowie die Errungenschaftsbeteiligung als gesetzlicher Güterstand der Gütertrennung mit Ausgleich der Errungenschaft bei Beendigung des Güterstandes (Art. 196 ff. ZGB). Das Vormundschaftsrecht wird gerade erneuert und im Recht des Erwachsenenschutzes neu geordnet (BBl. 2006, 7139). Außerhalb des ZGB ist die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare durch Bundesgesetz vom 18.6.2004 (PartG) geregelt

(c) Das Erbrecht ist immer nur in Zusammenhang mit anderen Teilen des ZGB sporadisch geändert worden. So sind z.B. die erbrechtliche Stellung des überlebenden Ehegatten verstärkt (Art. 462 ZGB), alle Kinder gleichbehandelt (Art. 457 ZGB) und der Pflichtteil der Geschwister (Art. 471 ZGB) beseitigt worden.

(d) Das Sachenrecht hat vor allem für Immobilien Änderungen erfahren, nämlich durch die Bundesgesetze vom 19.12.1963 über Miteigentum und Stockwerkeigentum, vom 19.3.1965 über das Baurecht und Grundstücksverkehrsrecht und vom 4.10.1991 über das Immobiliarsachenrecht und bäuerliche Bodenrecht. Das Mobiliarsachenrecht sieht heute vor, dass Tiere keine Sachen sind (Art. 641a Abs. 1 ZGB), und auf Grund des Kulturgütertransfergesetzes vom 20.6.2003 sind Kulturgüter stärker als bisher vor Verlust durch Ersitzung (Art. 728 Abs. 1ter ZGB) und vor gutgläubigem Erwerb vom Nichtberechtigten (Art. 934 Abs. 1bis ZGB) geschützt.

Außerdem ist das ZGB durch eine behutsame Rechtsprechung der Gerichte, insbesondere des Bundesgerichts, sowie durch kluge Beiträge der Wissenschaft, vor allem durch umfangreiche Kommentierungen des ZGB (Basler, Berner und Zürcher Kommentar), konkretisiert und fortentwickelt worden.

4. Bedeutung

Das ZGB ist auch außerhalb der Schweiz als ein vorzügliches Zivilgesetzbuch gepriesen worden. Geschätzt wird vor allem seine Verständlichkeit, die zu einem wesentlichen Teil darauf beruht, dass es in den drei vollen Amtssprachen der Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch) gleichermaßen verbindlich ist und deshalb in den drei Versionen klar und eindeutig sein muss. Doch nicht nur dies. Es wurde ins Türkische übersetzt und mit wenigen Ausnahmen (z.B. im Ehegüterrecht) als türkisches ZGB von 1926 in der Türkei in Kraft gesetzt Seitdem orientiert sich die Türkei im Zivilrecht auch weiterhin an der Rechtsentwicklung in der Schweiz. Bei der Ausarbeitung des italienischen Codice civile von 1942 und des griechischen Zivilgesetzbuchs von 1940/‌46 sowie in anderen Ländern wurde das ZGB ebenfalls zu Rate gezogen. Bis zum heutigen Tage gilt das ZGB als ein hervorragendes Beispiel für eine gelungene Kodifizierung des Zivilrechts.

Literatur

Josef Kohler, Eugen Huber und das Schweizer Zivilgesetzbuch, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht des In- und Auslandes 5 (1913) 1 ff.; Max Rümelin, Eugen Huber, 1923; Paul Mutzner, Eugen Huber, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 43 (1924) 1 ff.; Theo Guhl, Eugen Huber, in: Hans Schultheß (Hg.), Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, 1945, 323 ff.; Ernst Hirsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Schweizeri-sche Juristen-Zeitung 1954, 337 ff.; Erich Pritsch, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957) 123 ff.; Ferdinand Elsener, Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, 1975; Pio Caroni (Hg.), L’unification du droit privé suisse au XIXe siècle, 1986; Pio Caroni, Rechtseinheit. Drei historische Studien zu Art. 64 BV, 1986; Dominique Manaï, Eugen Huber – Jurisconsulte charismatique, 1990; François Dessemontet, Tuğrul Ansay (Hg.), Introduction to Swiss Law, 2. Aufl. 1995; Peter Gauch, Jörg Schmid (Hg.), Die Rechtsentwicklung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Symposium zum Schweizerischen Privatrecht, 2001; Susanne Genner, Dekodifikation. Zur Auflösung der kodifikatorischen Einheit im schweizerischen Zivilrecht, 2006.

Quellen

Die aktuelle Fassung des ZGB findet sich gedruckt in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts (SR) unter Nummer 210. Im Internet ist sie abrufbar unter http://www.admin.ch/‌‌ch/‌d/‌sr/‌sr.html; Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei Urs Fasel, Sachenrechtliche Materialien: Von den ersten Entwürfen bis zum Gesetz 1912, 2005; Markus Reber, Christoph Hurni (Hg.), Materialien zum Zivilgesetzbuch, Bd. II des Berner Kommentars zum schweizerischen Privatrecht: Die Erläuterungen von Eugen Huber. Text des Vorentwurfs von 1900, 2007.