Zwingendes Recht (Grundlagen) und Zwingendes Recht (Regelungsstrukturen): Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Hans Christoph Grigoleit]]''
von ''[[Hans Christoph Grigoleit]]''
== 1. Charakteristika und Abgrenzungen ==
== 1. Rechtsakte der EG ==
=== a) Definition ===
Die [[Richtlinie]]n der [[Europäische Gemeinschaft|EG]] im Bereich des Privatrechts dienen ganz überwiegend dem Verbraucherschutz; soweit dies der Fall ist, enthalten sie konsequenterweise (vgl. [[Zwingendes Recht (Grundlagen)]]) Anordnungen, welche ihren zwingenden Charakter zu Gunsten des Verbrauchers („einseitig zwingendes Recht“) festschreiben. Dies betrifft die wichtigsten Verbraucherschutzinstrumente, nämlich die [[Widerrufsrecht]]e und die [[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)|Informationspflichten]] sowie deren Rahmenbedingungen (vgl. Art.&nbsp;6 Haustürgeschäfte-RL <nowiki> [RL&nbsp;85/577]; Art.&nbsp;12 Fernabsatz-RL [RL&nbsp;97/7]; Art.&nbsp;12(1) Finanzdienstleistungen-Fernabsatz-RL [RL&nbsp;2002/65]; Art.&nbsp;8 Teilzeitnutzungsrechte-RL [RL&nbsp;94/47]; </nowiki> Art.&nbsp;11 E‑Commerce-RL [RL&nbsp;2000/31]). Auch die verbraucherschützende Inhaltskontrolle nach der Klausel-RL (RL&nbsp;93/13) wird ausdrücklich der Parteidisposition entzogen (Art.&nbsp;6(1) Klausel-RL). Neben einem umfangreichen Verbotskatalog ist in der Klauselrichtlinie ein generalklauselartiger Maßstab für die Inhaltskontrolle vorgesehen; danach sind im Einzelnen ausgehandelte Vereinbarungen unverbindlich, wenn sie „zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten“ verursachen (Art.&nbsp;3 Klausel-RL). Darüber hinaus ist auch für bestimmte Vertragstypen aufgrund von EG-Richtlinien ein weitergehender Kernbereich der vertraglichen Rechte des Verbrauchers vorgesehen, der ebenfalls zwingenden Charakter hat. Dies gilt insbesondere für den [[Verbrauchsgüterkauf]] (Art.&nbsp;7 Verbrauchsgüterkauf-RL &#91;RL&nbsp;99/44&#93;), für Verbraucherkreditverträge (Art.&nbsp;22 Verbraucherkredit-RL &#91;RL&nbsp;87/102, ab 12.5.2010 RL&nbsp;2008/48&#93;; [[Verbraucherkreditrecht der Gemeinschaft]]) und für den [[Reisevertrag (Pauschalreisen)|Reisevertrag]], hinsichtlich dessen der zwingende Charakter zwar nur für einen Teilbereich ausdrücklich festgelegt (Art.&nbsp;5(3) Pauschalreise-RL <nowiki> [RL&nbsp;90/314]), aber auch im Übrigen wegen des verbraucherschützenden Zweckes unzweifelhaft ist. Schließlich ist der zwingende Charakter des Verbraucherschutzes auch im Entwurf für eine allgemeine Verbraucherrechte-RL (KOM(2008) 614 endg.) vorgesehen (Art.&nbsp;43).</nowiki>
Der Begriff zwingendes Recht (''ius cogens'') beschreibt im Zusammenwirken mit dem Kontrastterminus dispositives Recht (''ius dispositivum'') das Verhältnis privatrechtlicher Regelungen zu den Willensentscheidungen der Privatrechtssubjekte. Von einer dispositiven Norm spricht man, wenn die Parteien durch Vertrag (u.U. auch eine Partei durch einseitiges Rechtsgeschäft) für ein bestimmtes Rechtsverhältnis wirksam eine der Norm widersprechende Regelung in Geltung setzen können. Demgegenüber stehen zwingende Normen nicht zur Disposition der Parteien. Da die Privatautonomie ([[Vertragsfreiheit]]), d.h. die Freiheit des Einzelnen, seine Rechtsverhältnisse nach eigenem Gutdünken zu gestalten, das systemprägende Prinzip des Privatrechts ist, bildet hier der dispositive Charakter des Rechts die Regel während der zwingende Charakter die Ausnahme darstellt (näher unten 2. b)).


Der zwingende oder dispositive Charakter einer Norm ergibt sich aus deren Inhalt. Angesichts des erwähnten Regel-/Ausnahmeverhältnisses wird der zwingende Charakter bei positivrechtlichen Regelungen häufig im Normtext klargestellt, während eine solche Klarstellung bei dispositiven Regeln zumeist unterbleibt. Fehlt es an einer ausdrücklichen Festsetzung, so ist die Bestimmung des Normcharakters nach allgemeinen Auslegungsregeln zu ermitteln.
Ein weiteres Feld „naturgemäß“ zwingender (vgl. [[Zwingendes Recht (Grundlagen)]]) Vorgaben des EG-Rechts bilden die europarechtlichen [[Diskriminierungsverbot (allgemein)|Diskriminierungsverbote]]. Diese sind schon im EG-Vertrag angelegt (Art.&nbsp;12, 13, 141&nbsp;EG/18, 19, 157&nbsp;AEUV) und werden durch zahlreiche, recht unübersichtliche Antidiskriminierungs-Richtlinien ausgestaltet. Im allgemeinen Geschäftsverkehr, namentlich bei den sog. Massengeschäften, betreffen die Diskriminierungsverbote nur das [[Geschlecht]] (RL&nbsp;2004/113) sowie Rasse und ethnische Herkunft (RL&nbsp;2000/43). Weitergehende Diskriminierungsverbote (Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung) sind auf der Grundlage von Art.&nbsp;13&nbsp;EG/ 19&nbsp;AEUV lediglich für den Bereich Beruf und Beschäftigung niedergelegt, so dass die Reichweite des AGG (vgl. [[Zwingendes Recht (Grundlagen)]]) deutlich über den europarechtlich veranlassten Mindestschutz hinausgeht.


=== b) Gültigkeitsanforderungen an eine Willenserklärung ===
Auch jenseits des Verbraucher- und Diskriminierungsschutzes finden sich einzelne zwingend ausgestaltete Regelungsbereiche des EG-Rechts. So stellt etwa die für den Geschäftsverkehr geltende Zahlungsverzugs-RL (RL&nbsp;2000/35) abweichende Vereinbarungen über den Zahlungstermin oder die Folgen des [[Zahlungsverzug]]s unter den Vorbehalt grober Nachteiligkeit für den Gläubiger (Art.&nbsp;3(3)1). Auch die Handelsvertreter-RL (RL&nbsp;86/653) verlangt nach einer zwingenden Ausgestaltung der Ausgleichs- bzw. Schadensersatzansprüche des [[Handelsvertreter]]s sowie nach einer Einschränkung von Wettbewerbsabreden (Art.&nbsp;19, 20). Die Produkthaftungs-RL (RL&nbsp;85/374) ordnet an, dass[Haftungsbeschränkungen zu Lasten des Geschädigten grundsätzlich auszuschließen sind (Art.&nbsp;12; [[Produkthaftung]]). Schließlich mögen noch die verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Richtlinien genannt werden, deren Vorschriften sich in den – europaweit praktizierten gesellschaftsrechtlichen Typenzwang fügen und damit jedenfalls mittelbar zwingendes Recht betreffen.
Der Disposition der Parteien sind weitgehend diejenigen Regeln entzogen, die über die Anerkennung einer Erklärung als verbindliches Rechtsgeschäft entscheiden, etwa die Regeln über [[Geschäftsfähigkeit]], Willensmängel oder auch der Formzwang ([[Formerfordernisse]]). Begrifflich können diese Regelungskomplexe daher ohne weiteres als zwingendes Recht qualifiziert werden. Indessen folgt aus der Anerkennung rechtsgeschäftlicher Willensakte die Notwendigkeit, dass die Voraussetzungen verbindlicher Selbstbestimmung bzw. etwaiger Störungen definiert werden müssen. Daher sollten diese prozeduralen Voraussetzungen (auch sog. Funktionsbedingungen) von den resultativen Schranken eines störungsfreien Selbstbestimmungsakts unterschieden werden. Nur dann kann das zwingende Recht in einem engeren Sinne durch ein einheitliches Kriterium charakterisiert werden, nämlich durch den unbedingten Vorrang auch gegenüber störungsfreien Parteidispositionen. Mit diesem Charakteristikum ist auch die für zwingendes Recht geltende besondere Argumentationslast verbunden (näher unten 2. b)). Es versteht sich von selbst, dass eine solche Abgrenzung den Charakter einer Tendenzaussage trägt und wie Systemeinteilungen im Allgemeinen Überschneidungen zugänglich ist.


=== c) Zwingendes Recht und die Gebote von Treu und Glauben ===
Insgesamt gelten auch für die zwingenden Privatrechtsvorschriften auf europäischer Ebene die oben angeführten Legitimitätsanforderungen. Das Ziel der Rechtsvereinheitlichung bildet demgegenüber keine eigenständige Legitimierung für die zwingende Ausgestaltung privatrechtlicher Regelungen. Denn die Harmonisierung ist kein Selbstzweck, sondern sie dient dazu, für die Privatrechtssubjekte grenzüberschreitend Rechtssicherheit herzustellen und einheitliche Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt zu schaffen (vgl. auch Art.&nbsp;95&nbsp;EG/ 114&nbsp;AEUV). Die Zulassung freiwilliger Dispositionen der Parteien über das zwischen ihnen bestehende Rechtsverhältnis beeinträchtigt die Rechtssicherheit nicht. Sie behindert auch keinesfalls den Binnenmarkt, vielmehr trägt sie zu dessen Stärkung bei. Diesen Erwägungen hat auch die gegenwärtige Debatte Rechnung zu tragen, ob der Rechtsvereinheitlichungsprozess dem Prinzip der Mindestharmonisierung oder demjenigen der Vollharmonisierung folgen sollte: Der Gedanke der Vollharmonisierung allein kann den Vorrang der Parteidisposition nicht in Frage stellen.
Das Gebot von [[Treu und Glauben]] prägt als allgemeiner Gerechtigkeitsvorbehalt die Regelbildung und Rechtsfindung im Privatrecht in vielfältiger Form. Sofern dieses Prinzip herangezogen wird, um Vertragslücken zu schließen oder um vertraglichen Vereinbarungen im Einzelfall aufgrund besonderer, von den Parteien nicht berücksichtigter Umstände Grenzen zu setzen, wirkt der Vorbehalt von Treu und Glauben nicht wie zwingendes Recht. Anders liegt es aber, wenn die Gebote von Treu und Glauben die generelle Unwirksamkeit einer vertraglichen Vereinbarung rechtfertigen sollen. Soweit man eine solche Funktion anerkennt, ist der Vorbehalt von Treu und Glauben die Quelle zwingenden Rechts. Die Besonderheit dieser Ausprägung zwingenden Rechts liegt dann allein darin, dass die Verbotsnorm nicht bereits durch ein förmliches Gesetz, sondern durch die Gerichte im Einzelfall konkretisiert wird (näher auch [[Zwingendes Recht (Regelungsstrukturen)]] 4.a)).


== 2. Teleologischer Hintergrund ==
== 2. Internationales Einheitsrecht: UN‑Kaufrecht ==
=== a) Definition und Arten gesetzlicher Zwecke ===
Das UN-Kaufrecht (CISG; [[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) steht nach Art.&nbsp;6 CISG sowohl im Ganzen als auch hinsichtlich einzelner Anordnungen zur Disposition der Parteien. Ein Vorbehalt gilt gemäß Art.&nbsp;12 CISG nur insoweit, als ein Vertragsstaat, in dem eine der Parteien ihre Niederlassung hat, durch Erklärung nach Art.&nbsp;96 CISG – unter Abweichung von der grundsätzlichen Formfreiheit nach Art.&nbsp;11, 29 CISG – die Schriftform als verbindliche Wirksamkeitsvoraussetzung von Vereinbarungen festgelegt hat. Inhaltliche Schranken für Parteivereinbarungen sind im CISG nicht vorgesehen.
Sowohl bei der legislativen Entscheidung über die dispositive oder zwingende Ausgestaltung als auch bei der Bestimmung des Charakters einer Privatrechtsnorm im Wege der Auslegung müssen die unterschiedlichen Zwecke der beiden Kategorien bedacht werden: Dispositive Normen dienen dazu, den typischen Parteiwillen widerzuspiegeln, und ihre Überzeugungskraft ist demzufolge davon abhängig, dass der typische Parteiwille tatsächlich realistisch erfasst wird. Anderenfalls ist eine breitflächige Umgehung zu erwarten bzw. haben dispositive Regeln den Charakter einer Falle für unaufmerksame Parteien. Dispositive Vorschriften senken Transaktionskosten, indem sie die Parteien davon entlasten, ihrem Willen durch detaillierte Erklärungen und Vereinbarungen umfassend Ausdruck verleihen zu müssen. Aufgrund des Bezugs auf den typischen Parteiwillen weist das dispositive Gesetzessrecht eine starke empirische Komponente auf.


Mit zwingenden Regeln werden demgegenüber Normzwecke auch gegen den Parteiwillen durchgesetzt. Hinsichtlich der Art der verfolgten Zwecke sind im Wesentlichen drei verschiedene Kategorien zwingenden Rechts zu unterscheiden: Die erste Kategorie bilden Regelungen, die zur Durchsetzung überragender Zwecke und Werte der Sozietät der individuellen Disposition entzogen werden. Hierzu zählen privatrechtliche Verbote aufgrund sicherheitsrechtlicher Zwecke (z.B. Begrenzungen des Waffen- oder Drogenhandels), die privatrechtliche Unverfügbarkeit bestimmter Persönlichkeitsaspekte (z.B. Unwirksamkeit menschenwürderelevanter Vertragsinhalte), die zwingende Durchsetzung familienbezogener Wertentscheidungen im Familien- und [[Erbrecht]] (z.B. Gebot der Einehe ([[Ehe]]); Sicherungen des Familienerbrechts) und schließlich auch die kartellrechtlichen Verbote zur Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbs.  
== 3. Modellgesetze ohne Einbeziehung des geltenden EG-Rechts ==
=== a) ''Principles of European Contract Law'' ===
Auch in den ''[[Principles of European Contract Law]]'' (PECL) ist der grundsätzliche Vorrang der Parteidispositionen in Art.&nbsp;1:102 PECL ausdrücklich verankert. Eine potentielle Öffnung für zwingende Vorgaben ist hier aber dadurch angelegt, dass die Vertragfreiheit von vornherein unter den Vorbehalt von [[Treu und Glauben]] gestellt wird (Art.&nbsp;1:102(1) PECL: „subject to the requirements of good faith and fair dealing, and the mandatory rules established by these Principles“). Auch werden die Gebote von Treu und Glauben als Quelle für allgemeine Vertragspflichten qualifiziert, die der Parteivereinbarung entzogen sein sollen (Art.&nbsp;1:201 PECL). Der konkrete Regelungsgehalt dieser Vorschriften, namentlich die Reichweite daraus abzuleitender zwingender Inhaltsschranken, ist allerdings unklar. Durch den Wortlaut der genannten Regelungen wird zwar der Eindruck hervorgerufen, dass die Gebote von Treu und Glauben als generalklauselartige Quelle zwingenden Richterrechts grundsätzlichen Vorrang vor den Festlegungen der Parteien beanspruchen würden. Indessen dürfte dies eher unvollkommener Regelungstechnik geschuldet sein als dem Ausdruck eines wohlerwogenen Regelungsplans (vgl. auch unten 4. a)). Dafür spricht auch, dass in den PECL im Übrigen nur wenige Regelungen den Parteivereinbarungen zwingende Schranken setzen, dabei aber sehr strenge Eingriffsschwellen definieren.


Die zweite Kategorie bilden Vorschriften des Verkehrsschutzes. Sie erleichtern und sichern die kollektive Willensentfaltung durch Senkung der Transaktionskosten, ohne dass im individuellen Einzelfall bestimmte Erwägungen materieller Gerechtigkeit verwirklicht werden sollen. Kennzeichnend ist insoweit stets, dass Dritte von der – aus Verkehrsschutzgründen eingeschränkten – Disposition einer bzw. mehrerer Parteien potentiell betroffen sind. Zu nennen sind etwa die sachenrechtliche Formenstrenge oder der gesellschaftsrechtliche Typenzwang – Prinzipien, die in allen europäischen Rechtsordnungen in unterschiedlicher Ausprägung realisiert sind.
Eine solche Schranke betrifft insbesondere die sog. Wuchergeschäfte: Der Bewucherte ist zur Anfechtung berechtigt, wenn der Wucherer eine bestimmte Zwangslage zu einer Vereinbarung ausgenutzt hat, die „grossly unfair“ ist oder ihm einen „excessive benefit“ einbringt (Art.&nbsp;4:109 PECL). Eine weitere zwingende Anordnung begrenzt die Inhaltsfreiheit im Hinblick auf Klauseln, die nicht im Einzelnen ausgehandelt sind. Eine solche Klausel ist anfechtbar, wenn „… contrary to the requirements of good faith and fair dealing it causes a significant imbalance in the parties’ rights and obligations …” (Art.&nbsp;4:110 PECL). Diese Inhaltskontrolle ist keinen personalen Anwendungsschranken unterworfen, sie gilt damit insbesondere auch für Verträge zwischen Unternehmern.


Die dritte und in der jüngeren Privatrechtsentwicklung bedeutsamste Kategorie bilden zwingende Vorschriften, die (vor allem) in vertraglichen Austauschverhältnissen einen Schutz des Schwächeren bezwecken und damit sozialschützenden Charakter aufweisen. Sozialschützende Normen des Privatrechts müssen geradezu naturgemäß mit zwingendem Charakter versehen werden, weil ihnen die Annahme zugrunde liegt, dass der „Schwächere“ zu einer effektiven Durchsetzung eines hinreichenden Selbstschutzes gegenüber dem „Stärkeren“ nicht in der Lage ist. Wesentliche Anwendungsfelder für derartige Regelungen finden sich in den europäischen Rechtsordnungen im sozialen Mietrecht ([[Miete und Pacht]]), im Arbeitsrecht ([[Entsendung von Arbeitnehmern]]; [[Arbeitszeit]]; [[Arbeitsschutz]]) sowie im Verbraucherschutzrecht ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Eine Ausprägung sozialen Schutzes bilden des Weiteren auch Antidiskriminierungsvorschriften, die den sozialen Schutz an das [[Geschlecht]] bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Minderheits‑)Gruppe knüpfen ([[Diskriminierungsverbot (allgemein)]]). Neben der Hypothese schutzwürdiger Schwäche ist Diskriminierungsverboten auch deswegen ein zwingender Charakter immanent, weil die Disposition über das Diskriminierungsverbot ihrerseits diskriminierenden Charakter haben würde, so dass die Aufstellung des Verbots bei gleichzeitiger Anerkennung der Dispositionsfreiheit geradezu paradox wäre. Der Geltungsanspruch sozialschützender Vorschriften wird nicht nur gegen den Willen der stärkeren Vertragsseite durchgesetzt; vielmehr kann auch die schwächere Seite grundsätzlich nicht über ihren eigenen Schutz disponieren, weil der Schutz anderenfalls aufgrund der Durchsetzungsfähigkeit der stärkeren Partei leer zu laufen droht. Eine weitere Besonderheit sozialschützenden Privatrechts besteht darin, dass neben der Inhaltsfreiheit z.T. auch die Abschlussfreiheit Gegenstand der Regulierung ist, nämlich dann, wenn durch einen privatrechtlichen Kontrahierungszwang die soziale Teilhabe des „Schwächeren“ gesichert werden soll.
Die Verfasser der PECL haben davon abgesehen, eigenständige Maßstäbe für das Verbot gesetzeswidriger oder sittenwidriger Vertragsinhalte zu formulieren (vgl. auch Art.&nbsp;4:101 PECL). Allerdings verweisen die PECL für die Ableitung generalklauselartiger Inhaltsverbote auf externe [[Rechtsquellen (des europäischen Privatrechts)|Rechtsquellen]], nämlich auf „fundamental principles“ der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der [[Europäische Union|Europäischen Union]] sowie auf „mandatory rules of law“, die nach den Regeln des [[Internationales Privatrecht|IPR]] Anwendung finden. Während aus einem Verstoß gegen „fundamental principles“ mitgliedstaatlichen Rechts die Unwirksamkeit der Vereinbarung folgen soll (Art.&nbsp;15:101 PECL), ist für Verstöße gegen kollisionsrechtlich anwendbare „mandatory rules of law“ ein flexibles, am Inhalt der Vorschrift, deren Zweck und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientiertes Rechtsfolgenprogramm verankert, das von unveränderter Aufrechterhaltung der Vereinbarung über deren Anpassung bis zu ihrer Nichtigkeit reicht (Art.&nbsp;1:103, 15:102 PECL). Diese Regelungen enthalten als richtigen Kern das Gebot der schutzzweckorientierten, verhältnismäßigen Rechtsfolgenbestimmung. Sie drücken insoweit aber nur Selbstverständliches überkompliziert aus. Im Übrigen lassen die Regelungen keine hinreichend deutlichen Rückschlüsse über die Art der „fundamental principles“ und des „mandatory law“ erkennen.


=== b) Legitimitätsanforderungen ===
Ferner finden sich verschiedene „besondere“ Schranken für die Leistungsbestimmung durch (nur) eine Vertragspartei bzw. durch Dritte (Art.&nbsp;6:105, 6:106(2) PECL, „grossly unreasonable“), für den Ausschluss der Rechtsbehelfe bei elementaren Willensmängeln (Art.&nbsp;4:118 PECL) sowie bei Leistungsstörungen (Art.&nbsp;8:109 PECL, „good-faith“-Vorbehalt), für [[Vertragsstrafe]]n (Art.&nbsp;9:509(2) PECL, „grossly excessive“) und für Verjährungsvereinbarungen (Art.&nbsp;14:601 (2) PECL). In den „Notes“ zur Kündigungsvorschrift für zeitlich unbegrenzte [[Dauerschuldverhältnisse]] (Nr.&nbsp;1 zu Art.&nbsp;6:109 PECL) wird ferner das allgemeine Rechtsprinzip hervorgehoben, dass eine zeitlich unbegrenzte Bindung unwirksam sei.
Ein Eingriff in individuelle Parteidispositionen muss einer strengen Argumentationslast Rechnung tragen, die im Wesentlichen auf drei – hier grob vereinfacht dargestellten – Erwägungen beruht: Erstens rechtfertigen die (dezentralen) Informations- und Bewertungsressourcen der Parteien deren kognitive Prärogative gegenüber (zentralen) Festlegungen des objektiven Rechts. Zweitens verwirklicht die Argumentationslast den sozial-ethisch fundamentalen Vorrang der Anreizgerechtigkeit gegenüber der Verteilungsgerechtigkeit. Drittens trägt die Argumentationslast den spezifischen Kosten Rechnung, die notwendig mit der Abweichung von der Parteivereinbarung bzw. vom Parteiwillen verbunden sind (Rechtsverfolgungskosten durch Unsicherheiten der Rechtsverfolgung oder aufgrund überschießender Effekte; Kosten der alternativen Interessenverwirklichung etc.).


Im Einzelnen hängt die Legitimierung von der Art des verfolgten Zwecks ab (vgl. oben 2. a)). Der Eingriff zugunsten besonderer, überindividueller Zwecke und Werte ist durch deren soziales Gewicht zu legitimieren. Bei verkehrsschützenden Normen ist die Legitimität zwingender Anordnungen nach Maßgabe der jeweiligen Verkehrsinteressen und einer Plausibilisierung ihrer sozialen bzw. ökonomischen Schutzwürdigkeit zu bemessen. Die Begründung sozialschützender Vorschriften im Privatrecht hat indessen zwei besonderen Bedenken Rechnung zu tragen: Die Inanspruchnahme des Privatrechts für Verteilungszwecke bedarf erstens einer Rechtfertigung dafür, dass gerade der im individuellen Privatrechtsverhältnis betroffenen Partei die Last des sozialen Schutzes zugewiesen wird und nicht der Allgemeinheit, etwa nach Maßgabe des Steuersystems. Denn der sozialen Belastung von individuellen Privatrechtsakteuren wohnt ein Element der Zufälligkeit inne, sofern nicht ein spezifischer Zusammenhang zwischen dem Verteilungszweck und dem jeweiligen Privatrechtsverhältnis dargetan werden kann (Zufälligkeitsproblem). Der zweite Einwand betrifft die über das konkrete Privatrechtsverhältnis hinausgehenden Auswirkungen des Eingriffs: Sozialschützende Normen verursachen bei dem belasteten Privatrechtsakteur Kosten, die dieser regelmäßig in seinen Preisen berücksichtigt. Sie führen daher zu einer Anhebung des Preisniveaus und belasten damit auch diejenigen, die sie begünstigen sollen (paradoxe Wirkungen).
=== b) UNIDROIT ''Principles of International Commercial Contracts'' ===
Die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT'' Principles of International Commercial Contracts'']] (UNIDROIT PICC) verankern ebenfalls die Vertragsfreiheit sowie den dispositiven Charakter der Modellregeln als Grundsatz (Art.&nbsp;1.1 und 1.5 UNIDROIT PICC). Die Gebote von [[Treu und Glauben]] sind in den UNIDROIT PICC – anders als in den PECL – nicht als Vorbehalt der Inhaltsfreiheit aufgenommen, wohl aber als indisponible, allgemeine Verhaltenspflicht (Art.&nbsp;1.7 UNIDROIT PICC). Von einer allgemeinen Regelung gesetzes- und sittenwidriger Vertragsinhalte wurde bislang abgesehen (Art.&nbsp;3.1(b) UNIDROIT PICC). Im Übrigen finden sich in den UNIDROIT PICC für dieselben „besonderen“ Regelungsgegenstände wie in den PECL zwingende Schranken, die freilich im Detail von den PECL abweichen und in der Tendenz weniger weitreichend sind. Insgesamt liegt den UNIDROIT PICC eine deutlich liberalere Grundtendenz zugrunde als den PECL.


== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
== 4. Modellgesetze unter Einbeziehung des geltenden EG-Rechts ==
=== a) Die Tradition des Ausnahmecharakters zwingenden Rechts ===
=== a) Acquis Principles ===
Die Reichweite der Dispositivität des Privatrechts korreliert mit derjenigen der Privatautonomie bzw. der [[Vertragsfreiheit]]. Diese Prinzipien sind systemtragend in allen freien (Privatrechts‑) Gesellschaften und damit auch in allen europäischen Rechtsordnungen seit langem fest verankert.
Die [[Acquis Principles|ACQP]] enthalten ihrer Grundkonzeption entsprechend insbesondere auch zahlreiche Übernahmen und Verallgemeinerungen aus dem europäischen [[Verbraucher und Verbraucherschutz|Verbraucherschutzrecht]] ([[Widerrufsrecht]]e, [[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)|Informationspflichten]], Klauselkontrolle etc.). Die starke Orientierung der EG-Richtlinien und damit auch der ACQP am Verbraucherschutz haben zur Folge, dass die ACQP verhältnismäßig breitflächig zwingenden Charakter haben. Insbesondere ist der zwingende Charakter des Verbraucherschutzes allgemein in Art.&nbsp;1:203 ACQP niedergelegt, freilich versehen mit einer Ausnahme für Vergleiche. Dieser Grundsatz wird in verschiedenen Einzelvorschriften wiederholt und zwar z.T. mit ausdrücklichem Bezug zur allgemeinen Vorschrift des Art.&nbsp;1:203 ACQP (Art.&nbsp;1:302, 2:205(2), 2:301; 4:108(4) ACQP; <nowiki>vgl. dazu auch die Verwahrung gegen einen Umkehrschluss im Kommentar zu Art.&nbsp;1:203, Rn. 8). Für den gesamten Regelungskomplex der Widerrufsrechte ist eine gesonderte Bekräftigung dessen zwingenden Charakters ohne Bezugnahme auf Art.&nbsp;1:203 ACQP in Art.&nbsp;5:101 ACQP vorgesehen. Dahinter steht die – höchst angreifbare – Erwägung, dass die Schutzwirkung der Widerrufsrechte möglicherweise über das b2c-Rechtsverhältnis hinaus erweitert werden kann (vgl. Kommentar zu Art.&nbsp;5:101 Rn. 2, 9 unter Berufung auf Art.&nbsp;2 der Lebensversicherungs-RL [RL&nbsp;2002/83]).</nowiki>


Im [[Römisches Recht|römischen Recht]] war der Ausnahmecharakter des zwingenden Rechts besonders deutlich ausgeprägt. Die Prätoren respektierten grundsätzlich die privatautonomen Gestaltungen der (rechtsfähigen) Parteien und verhalfen diesen zur Durchsetzung. Die materiellrechtlichen Schranken, die dem Vertragsinhalt insbesondere über bestimmte gesetzliche Verbote (''leges perfectae'') und über den Maßstab der Sittenwidrigkeit (''contra bonos mores'') gesetzt wurden, vermittelten keine allzu intensive Kontrolldichte; namentlich der Gesichtspunkt des Sozialschutzes spielte insoweit keine gewichtige Rolle. Gewisse Schranken der Vertragsinhaltsfreiheit ergaben sich zwar aus dem ''numerus clausus'' der durchsetzbaren ''actiones''. Die damit verbundene Typengebundenheit war allerdings nur Begleiterscheinung einer noch nicht voll entwickelten und daher überformalisierten Verfahrensordnung, nicht aber Ausdruck zielgerichteter Gebote. Demgemäß wurde die Typengebundenheit in der Praxis stark ausgehöhlt, und zwar insbesondere durch die weite Verwendbarkeit der ''stipulatio'' ([[Versprechen]]) sowie durch Zulassung individueller Klagen für den Einzelfall (''actiones in factum''). Auch in der Tradition des [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'' (Gemeines Recht)]] wurde die breite materiellrechtliche Gewährleistung der Vertragsinhaltsfreiheit mit Variationen in den Einzelheiten aufrechterhalten; die verfahrensmäßigen Schranken des Aktionensystems waren im Laufe des Mittelalters weitgehend aufgegeben worden. Auch in den neuzeitlichen Kodifikationen, namentlich dem [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten]], wurde die vertragliche Gestaltungsfreiheit der Parteien sehr weitgehend respektiert.
Auch außerhalb von Verbraucherverträgen enthalten die ACQP zwingende Regelungen (vgl. Kommentar zu Art.&nbsp;1:203 Rn. 9). So wird die Verpflichtung von Unternehmen, beim elektronischen Vertragsschluss auf die verwendeten Vertragsbedingungen hinzuweisen und diese abrufbar zu halten, auch im Hinblick auf b2b-Rechtsverhältnisse für zwingend erklärt (Art. 2:205(1) ACQP). In Anlehnung an die Zahlungsverzugs-RL sind ferner bestimmte Vereinbarungen über die Zahlungspflicht des Schuldners nicht bindend, wenn der Gläubiger dadurch in grob unangemessener Weise benachteiligt wird (Art.&nbsp;8:407 ACQP).


In der ursprünglichen Fassung des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] wurde der vertraglichen Gestaltungsfreiheit insbesondere dadurch großzügig Raum gegeben, dass die Inhaltskontrolle von Verträgen nach Maßgabe der Kriterien Gesetzes- bzw. Sittenwidrigkeit (§§&nbsp;134, 138&nbsp;BGB; [[Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen]]) auf die Einhaltung eines rechtlichen bzw. rechtsethischen Mindeststandards beschränkt wurde. Dieser bereits im [[Römisches Recht|römischen Recht]] anerkannte Mindeststandard ist jeder Privatrechtsordnung immanent; er drückt nur deklaratorisch aus, was auch im Wege der Auslegung aus dem Verbotsgesetz (§&nbsp;134 BGB) bzw. aus der richterlichen Aufgabe zu außerpositiver Rechtsverwirklichung (vgl. auch Art.&nbsp;20 Abs.&nbsp;3&nbsp;GG) folgt. Im Übrigen war die gesetzliche Ausgestaltung der Vertragstypen grundsätzlich ebenso dispositiv wie das Leistungsstörungsrecht; vereinzelte zwingende Vorschriften dienten überwiegend der Gewährleistung ethischer Minimalstandards (vgl. z.B. Vorgängervorschriften zu den heutigen §§&nbsp;276 Abs.&nbsp;3, 444 S.&nbsp;2&nbsp;BGB). Wesentliche Anwendungsfelder hatten zwingende Elemente aber immerhin in den stark ethisch vorgeprägten Bereichen des Familien- und Erbrechts sowie in fixierten Verkehrsschutzstrukturen, wie etwa dem sachen- und gesellschaftsrechtlichen Typenzwang.
Ohne gesonderte Anordnung hat auch der für „nicht im Einzelnen ausgehandelte“ Vertragsklauseln vorgesehene und an der Klausel-RL ausgerichtete Regelungskomplex (Art.&nbsp;6:301&nbsp;ff. ACQP) zwingenden Charakter. Der Klausel-RL entnommen – damit aber auch der Formel der PECL ähnlich (vgl. oben 3.&nbsp;a) und c)) – ist insbesondere auch der für b2c- (und c2c-)Verträge geltende, allgemeine Maßstab der Inhaltskontrolle (Art.&nbsp;6:301(1) ACQP). Über den Anwendungsbereich der Klausel-RL hinaus erstrecken die ACQP die Klauselkontrolle jedoch nach Art.&nbsp;6:301(2) ACQP auch auf b2b-Verträge. Insoweit wird aber – anders als in den PECL – ein besonderer Kontrollstandard formuliert: Eine Klausel ist nur dann „unfair“, wenn sie in grober Weise von der „good commercial practice“ abweicht. Ohne weiteres indisponibel sind ferner auch die [[Diskriminierungsverbot im allgemeinen Vertragsrecht|Diskriminierungsverbote]] (vgl. Kommentar zu Art.&nbsp;1:203 Rn. 8), die nach Art.&nbsp;3:101 ACQP für die Merkmale [[Geschlecht]], Rasse und ethnische Herkunft vorgesehen sind und sich offenbar – ebenfalls unter radikaler Erweiterung der Vorgaben des EG-Rechts – auf alle Privatrechtsakte erstrecken sollen.


Eine vergleichbar enge Ausgestaltung zwingenden Rechts lässt sich im Grundsatz auch für die anderen europäischen Rechtsordnungen nachzeichnen. Namentlich für den französischen ''[[Code civil]]'' und die angelsächsische Tradition des ''[[common law]]'' ist eine starke Betonung der Parteiautonomie kennzeichnend.
Bemerkenswert ist schließlich die Behandlung der Gebote von [[Treu und Glauben]] in den ACQP, die hier lediglich für den vorvertraglichen Kontakt und als Leitlinie für die Erfüllung und die Rechtsausübung vorgesehen sind (Art.&nbsp;2:101, 7:101, 102 ACQP). Die Verfasser der ACQP gehen zwar von einem zwingenden Charakter des Rechtsprinzips aus, verzichten aber darauf, diesen regelhaft auszudrücken (vgl. Kommentar zu Art.&nbsp;1:203 Rn. 9). Dahinter steht die – gerade im Vergleich zum nebulösen Ansatz der PECL – überzeugende Erwägung, dass eine Parteivereinbarung im Regelfall schon wegen des freiwilligen Einverständnisses der Parteien mit den Geboten von Treu und Glauben im Einklang steht, dass also in diesem Sinne dem Willen der Parteien Vorrang gegenüber den Geboten von Treu und Glauben einzuräumen ist (vgl. Kommentar zu Art.&nbsp;2:101 Rn. 18). Der zwingende Charakter beschränkt sich somit darauf, dass die Parteien die Gebote von Treu und Glauben nicht vollständig suspendieren können: Sofern ein Interessenkonflikt von den Parteien nicht durch eine konkrete Vereinbarung gelöst ist, kommen die Gebote von Treu und Glauben stets ergänzend zur Anwendung. Somit besteht eine Wechselwirkung zwischen der Parteivereinbarung und den Anforderungen von Treu und Glauben, und diese wird durch eine ausdrückliche Verankerung des zwingenden Charakters von Treu und Glauben verschleiert.


=== b) Erweiterung zwingenden Rechts im 20. Jahrhundert ===
=== b) ''Draft Common Frame of Reference'' ===
Im Verlaufe des 20.&nbsp;Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein wurden die Anwendungsfelder zwingenden Rechts in der deutschen Privatrechtsordnung und den anderen europäischen Staaten stark erweitert, so dass die Konturen des Regel-/Ausnahmeverhältnisses zwar noch erkennbar, aber deutlich verblasst sind. Hinter dieser Entwicklung steht vor allem eine Tendenz, in verschiedenen Ungleichgewichtslagen die Position der (typischerweise) schwächeren Seite durch besondere Vorschriften zu stärken.
In der Einleitung zum ''[[Common Frame of Reference|Draft Common Frame of Reference]]'' (s. dort ''Principles'') deutet die insgesamt wertungsoffene Ausrichtung darauf hin, dass die Verfasser der traditionell liberalen Ausrichtung des Privatrechts eine stärker regulativ orientierte Tendenz entgegensetzen wollen (DCFR ''Principles'', Nr. 1 ff.). Immerhin wird aber der grundsätzliche Vorrang der [[Vertragsfreiheit]] im Ansatz bekräftigt und für Eingriffe in diese der „Vorrang des milderen Mittels“ propagiert. Auch Billigkeitsvorbehalte werden indes im Vergleich zu zwingendem Recht als milderes Mittel qualifiziert (DCFR ''Principles'', Nr. 11). Dabei wird übersehen, dass Billigkeitsvorbehalte jedenfalls dann, wenn sie die Geltung vertraglicher Vereinbarungen einschränken, eine besondere Form zwingenden Rechts darstellen, deren Besonderheit lediglich darin liegt, dass die Konkretisierung der zwingenden Norm den Gerichten überantwortet wird (vgl. [[Zwingendes Recht (Grundlagen)]]). Hinsichtlich der Einzelvorschriften wirkt sich die konzeptionelle Orientierung des DCFR an den PECL und den ''Acquis Principles'' aus.


So wurde etwa in Deutschland der Inhalt von Mietverhältnissen über Wohnraum vor dem Hintergrund kriegsbedingter Wohnungsnot zum Schutze des Mieters sehr weitgehend der Parteigestaltung entzogen, bis hin zur sog. Wohnraumbewirtschaftung. Seit den 1960er Jahren wurden zwar die Regulierungen wieder gelockert, es verblieben aber wesentliche zwingende Vorgaben, etwa für die ordentliche Kündigung des Vermieters (§§&nbsp;573&nbsp;ff. BGB) und die Erhöhung des Mietzinses (§§&nbsp;557&nbsp;ff. BGB; [[Miete und Pacht]]). Auch für Arbeitsverträge wurde ein zunehmend dichter werdendes Geflecht zwingender Arbeitnehmerschutzvorschriften geschaffen, teils durch richterliche Rechtsfortbildung, teils durch legislative Eingriffe. Zu nennen sind hier z.B. ebenfalls besondere Kündigungsbeschränkungen (insbesondere KSchG), Entgeltregelungen, Urlaubsansprüche etc. Der recht weitgehend zwingenden Ausgestaltung von Miet- und Arbeitsverträgen liegt die Erwägung zugrunde, dass Mieter und Arbeitnehmer in ihrer sozialen Stellung in besonderem Maße auf die Wohnung bzw. den Arbeitsplatz angewiesen sind und ihre Interessen gegenüber dem typischerweise sozial stärkeren Arbeitgeber bzw. Vermieter nicht hinreichend durchsetzen können.
Aus den PECL ist der grundsätzliche Vorrang der Parteidispositionen übernommen worden, allerdings ist bemerkenswerterweise der Treu-und-Glauben-Vorbehalt, der im ersten Entwurf des DCFR noch enthalten war, in der endgültigen Fassung gestrichen worden; ergänzend findet sich im DCFR der Hinweis, dass zwingende Vorschriften nicht den bewussten Verzicht auf ein bereits entstandenes Recht ausschließen sollen (Art.&nbsp;II.-1:102 DCFR). Im Übrigen ist die Pflicht zur Befolgung der Gebote von [[Treu und Glauben]] im DCFR sowohl für den vorvertraglichen Kontakt (Art.&nbsp;II.-3:301(2) DCFR) als auch als vertragliche Pflicht (Art.&nbsp;III.-1:103(1) und (2) DCFR) ausdrücklich der Parteidisposition entzogen (vgl. dazu soeben unter 4. a)). Ferner finden sich im DCFR im Wesentlichen dieselben inhaltlichen Schranken für Vertragsinhalte wie in den PECL (vgl. oben 3. a)) Hinsichtlich der Freizeichnung für Leistungsstörungen ist der allgemeine ''good-faith''-Vorbehalt der PECL allerdings im DCFR um ein ausdrückliches Verbot des Haftungsausschlusses für vorsätzliche und grob fahrlässige Körperverletzungen ergänzt worden (Art.&nbsp;III.-3:105 DCFR).


Ein weiteres wichtiges Entwicklungsfeld zwingenden Rechts ist die vertragliche Inhaltskontrolle, die deutlich über die ursprünglich im [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] vorgesehenen Minimalstandards der §§&nbsp;134, 138&nbsp;BGB hinaus erweitert wurde. Den wichtigsten Baustein in dieser Tendenz bildet die besondere Inhaltskontrolle von AGB, die zunächst von den Gerichten, insbesondere seit 1956 unter (contralegaler) Heranziehung von §&nbsp;242&nbsp;BGB (BGH 13.3.1956, NJW&nbsp;1956, 1065, 1066), entwickelt, mit Inkrafttreten des AGBG (1977) einer positivrechtlichen Regelung zugeführt wurde und im Rahmen der großen Schuldrechtsmodernisierung (2002) in das BGB einging (§§&nbsp;305&nbsp;ff. BGB; [[Allgemeine Geschäftsbedingungen]]). Der Grundgedanke dieses Kontrollmechanismus liegt darin, dass AGB aufgrund ihres Umfangs und ihrer inhaltlichen Komplexität im Regelfall vom Verwendungsgegner nicht mit angemessenem Aufwand berücksichtigt und erst recht nicht „ausverhandelt“ werden können, aber auch keiner hinreichenden Marktkontrolle unterliegen. Das für die zwingende Regelung Anlass gebende Ungleichgewicht bezieht sich also auf den relativen Kontroll- bzw. Informationsvorsprung des Klauselverwenders, so dass die Inhaltskontrolle nach deutschem Recht konsequenterweise auch zu Gunsten von Unternehmern durchgeführt wird.
Diejenigen zwingenden Schranken Gebote, die das geltende EG-Recht im DCFR abbilden sollen, sind an den ACQP orientiert. Dies gilt insbesondere für verschiedene Ausprägungen des Verbraucherschutzrechts ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]), etwa die Regelungen über [[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)|Informationspflichten]] (Art.&nbsp;II.-3:101&nbsp;ff. DCFR) oder über das verbraucherschützende [[Widerrufsrecht]] (Art.&nbsp;II.-5:101&nbsp;ff. DCFR). Eine allgemeine Anordnung des zwingenden Charakters des Verbraucherschutzes findet sich nicht, wohl aber sachgebietsspezifische Einzelanordnungen (vgl. z.B. Art.&nbsp;II.-3:107(5) und Art.&nbsp;II.-3:201(3) DCFR, Informationspflichten; Art.&nbsp;II.-5:101(2) DCFR, Widerrufsrechte).


Eine dritte Tendenz betrifft den Verbraucherschutz, also rollenspezifische Schutzvorkehrungen für (nicht-unternehmerisch tätige) Privatpersonen im Kontakt mit Unternehmern ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Die verbraucherschützende Tendenz eines Regelungskomplexes ist geradezu naturgemäß mit einer zwingenden Ausgestaltung der betreffenden Schutzinstrumente zu Gunsten des Verbrauchers verbunden (vgl oben 2.&nbsp;a)). Die Verankerung zwingender, rollenspezifischer Vorkehrungen findet im historischen AbzG (1894; später durch das VerbrKrG ersetzt, dessen Inhalt schließlich in die §§&nbsp;491&nbsp;ff. BGB überführt wurde) ein frühes Modell. Abgesehen davon ist die (rein) nationale (d.h.: eine Veranlassung durch EG-Recht entbehrende) Initiative für die Einführung von verbraucherschützenden Vorschriften im Privatrecht indes schwach geblieben, auch wenn der Topos des Verbraucherschutzes seit den 1960er Jahren im rechtspolitischen Diskurs zunehmend Aufmerksamkeit gefunden hat. Neben den bereits erwähnten, de facto (auch) verbraucherschützenden Elementen des AGB-Rechts kann allenfalls noch auf die – wenig repräsentativen – Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht und des Heimgesetzes verwiesen werden. Im Übrigen ist die massive Durchdringung des deutschen Privatrechts mit verbraucherschützenden Mechanismen auf zahlreiche – sogleich näher anzusprechende – EG-Richtlinien zurückzuführen ([[Richtlinie]]).
Ausdrücklich und umfassend für zwingend erklärt wird auch die besondere Inhaltskontrolle für nicht im Einzelnen ausgehandelte Verträge (Art.&nbsp;II.-9:401 DCFR). Dieser Regelungskomplex ähnelt in vielfacher Hinsicht der in den ACQP vorzufindenden „Bearbeitung“ der Klausel-RL; insbesondere wird der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle auch auf b2b- und c2c-Rechtsverhältnisse erstreckt. Allerdings wird für b2c-Verträge (anders als in den ACQP) die Möglichkeit offen gehalten, dass die Inhaltskontrolle auch auf nicht individuell ausgehandelte Verträge ausgedehnt werden kann (Art.&nbsp;II.-9:403, 9:404 DCFR). Bemerkenswert (und geradezu kurios) ist auch der „gedoppelte“ Billigkeitsmaßstab für die Inhaltskontrolle von b2b-Verträgen: Hier soll eine Klausel dann „unfair” sein, wenn sie „grossly deviates from good commercial practice, contrary to good faith and fair dealing“ (Art.&nbsp;II.-9:405 DCFR).


Zunächst sei aber auf eine vierte Tendenz verwiesen, deren Genese ebenfalls durch zahlreiche EG-Richtlinien, aber auch durch die wachsende Sensibilität für grundrechtliche Ausstrahlungswirkungen auf das Privatrecht geprägt worden ist: die Beschränkung der [[Vertragsfreiheit]] durch [[Diskriminierungsverbot im allgemeinen Vertragsrecht|Diskriminierungsverbote]]. Auch privatrechtlicher Diskriminierungsschutz hat einen gleichsam naturgemäß zwingenden Charakter (vgl. oben 2.&nbsp;a). Nachdem der Diskriminierungsschutz zunächst zum Gegenstand verschiedener grundrechtlicher Einzelausprägungen und zahlreicher Einzelgesetze gewesen war, die der Umsetzung von EG-Richtlinien dienten, wurde das Diskriminierungsverbot zuletzt im AGG einer allgemeinen gesetzlichen Regelung zugeführt. Das allgemeine privatrechtliche Diskriminierungsverbot benennt als Kriterien die Rasse, die ethnische Herkunft, das [[Geschlecht]], die Religion, eine Behinderung, das Alter und die sexuelle Identität (§&nbsp;1&nbsp;AGG). Das in §&nbsp;1&nbsp;AGG geregelte Benachteiligungsverbot kann – mit verschiedenen Vorbehalten – insbesondere auch sehr weitgehend den Abschluss und den Inhalt privatrechtlicher Verträge betreffen (vgl. etwa §§&nbsp;2, 19&nbsp;AGG). Abgesehen von Verträgen mit Hoheitsträgern oder Monopolunternehmen ist die Legitimität von Diskriminierungsverboten allerdings schon deswegen bedenklich, weil die Vorschriften dem Böswilligen – innerhalb seines im Grundsatz intakten Entscheidungsspielraums – unvermeidbar breitflächige Umgehungsmöglichkeiten eröffnen, während sie für den Gutwilligen u.U. erheblichen Aufwand durch querulatorische Behauptung von Rechtsverstößen veranlassen können.
Ein weiterer, in Anlehnung an die ''Acquis Principles'' formulierter und naturgemäß zwingender (vgl. [[Zwingendes Recht (Grundlagen)]] 2.&nbsp;a)) Regelungskomplex des DCFR betrifft das [[Diskriminierungsverbot (allgemein)]] (Art.&nbsp;II.-2:101&nbsp;ff., III.-1:105 DCFR). Seine Reichweite wird allerdings in Abweichung von den ACQP (und in engerer Bindung an die EG-Richtlinien) beschränkt auf Diskriminierungen „in relation to a contract or other juridical act the object of which is to provide access to, or supply, goods or services which are available to the public“ (Art.&nbsp;II.-2:101 DCFR).


Für die anderen europäischen Staaten lassen sich in den erwähnten Regelungsbereichen ähnliche Ansätze einer Ausdehnung zwingender Privatrechtsschranken ausmachen, wobei freilich – von den einheitlichen Einflüssen der EG-Rechtssetzung abgesehen – sehr unterschiedliche Gewichtungen verfolgt werden. So schlagen sich etwa im Wohnungsmiet- und Arbeitsrecht unterschiedliche sozialstaatliche Prägungen besonders deutlich nieder. Die Inhaltskontrolle wird z.B. in den Nordischen Staaten auf alle Vertragsklauseln, also auch auf ausgehandelte, erstreckt, während in anderen europäischen Staaten (z.B. Frankreich und England) für b2b-Verträge keine bzw. nur sehr begrenzte richterliche Eingriffe zugelassen sind. Im Übrigen gilt aber für die Mitgliedstaaten der [[Europäische Union|EU]], dass sich das Verbraucherschutzrecht und das Antidiskriminierungsrecht ganz überwiegend auf die Vorgaben der europäischen Rechtsakte konzentrieren.
Schließlich finden sich auch in den Vorschriften für besondere Vertragstypen an einigen Stellen des DCFR Vorschriften mit zwingendem Charakter. Maßgebend ist hier zunächst wiederum der Gedanke des Verbraucherschutzes, namentlich die Sicherung der Rechte des Käufers beim [[Verbrauchsgüterkauf]] (Art.&nbsp;IV.A.-2:309, 4:102, 5:103(4), 6:101&nbsp;ff. DCFR) und bestimmter Mieterrechte (Art.&nbsp;IV.B.-1:104, 2:103(2), 6:102 DCFR). Die übrigen zwingenden Einzelvorschriften des besonderen Vertragsrechts sind z.T. durch EG-rechtliche Vorgaben veranlasst und folgen keinem übergreifenden systematischen Plan. Zu nennen sind etwa Konkretisierungen für zulässige Haftungsbeschränkungen in „service contracts“ (vgl. etwa Art.&nbsp;IV.C.-4:108, 5:109, 6:107 DCFR) und Dispositionsschranken für den Zahlungsanspruch von [[Handelsvertreter]]n (Art. IV.E.-3:302(2) DCFR) sowie für verschiedene Rechte des Franchisenehmers (''[[Franchising]]'') (Art.&nbsp;IV.E.-4:102(3), 4:202(2), 4:204(3), 4:206(4), 4:303(4) DCFR).


== Literatur==
== Literatur==
''Hein Kötz'', Europäisches Vertragsrecht, Bd.&nbsp;I, 1996; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996; ''Claus-Wilhelm Canaris'', Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Privatrecht, 1997; ''Jörg Neuner'', Privatrecht und Sozialstaat, 1999; ''Oliver Remien'', Zwingendes Vertragsrecht, 2003; ''Sibylle Hofer'', Vor § 241, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd.&nbsp;II/1, 2007; ''Matthias E. Storme'', Freedom of Contract: Mandatory and Non-Mandatory Rules, European Review of Contract Law 2007, 233&nbsp;ff.; ''Andreas Thier'', §&nbsp;311, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd.&nbsp;II/2, 2007; ''Horst Eidenmüller'', ''Florian Faust'', ''Hans-Christoph Grigoleit'', ''Nils Jansen'', ''Gerhard Wagner'', ''Reinhard Zimmermann'', Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht, Juristenzeitung 2008, 529&nbsp;ff.; ''Hans-Christoph Grigoleit'', Anforderungen des Privatrechts an die Rechtstheorie, in: Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 52&nbsp;ff.
''Hein Kötz'', Europäisches Vertragsrecht, Bd.&nbsp;I, 1996; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996; ''Claus-Wilhelm Canaris'', Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Privatrecht, 1997; ''Jörg Neuner'', Privatrecht und Sozialstaat, 1999; ''Oliver Remien'', Zwingendes Vertragsrecht, 2003; ''Sibylle Hofer'', Vor §&nbsp;241, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd.&nbsp;II/1, 2007; ''Matthias E. Storme'', Freedom of Contract: Mandatory and Non-Mandatory Rules, European Review of Contract Law 2007, 233&nbsp;ff.; ''Andreas Thier'', §&nbsp;311, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd.&nbsp;II/2, 2007; ''Horst Eidenmüller'', ''Florian Faust'', ''Hans-Christoph Grigoleit'', ''Nils Jansen'', ''Gerhard Wagner'', ''Reinhard Zimmermann'', Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht, Juristenzeitung 2008, 529&nbsp;ff.; ''Hans-Christoph Grigoleit'', Anforderungen des Privatrechts an die Rechtstheorie, in: Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 52&nbsp;ff.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Mandatory_Law_(Basic_Features_of_Regulation_in_European_Private_Law)]]
[[en:Mandatory_Law_(Fundamental_Regulatory_Principles)]]

Version vom 28. September 2021, 13:40 Uhr

von Hans Christoph Grigoleit

1. Rechtsakte der EG

Die Richtlinien der EG im Bereich des Privatrechts dienen ganz überwiegend dem Verbraucherschutz; soweit dies der Fall ist, enthalten sie konsequenterweise (vgl. Zwingendes Recht (Grundlagen)) Anordnungen, welche ihren zwingenden Charakter zu Gunsten des Verbrauchers („einseitig zwingendes Recht“) festschreiben. Dies betrifft die wichtigsten Verbraucherschutzinstrumente, nämlich die Widerrufsrechte und die Informationspflichten sowie deren Rahmenbedingungen (vgl. Art. 6 Haustürgeschäfte-RL [RL 85/577]; Art. 12 Fernabsatz-RL [RL 97/7]; Art. 12(1) Finanzdienstleistungen-Fernabsatz-RL [RL 2002/65]; Art. 8 Teilzeitnutzungsrechte-RL [RL 94/47]; Art. 11 E‑Commerce-RL [RL 2000/31]). Auch die verbraucherschützende Inhaltskontrolle nach der Klausel-RL (RL 93/13) wird ausdrücklich der Parteidisposition entzogen (Art. 6(1) Klausel-RL). Neben einem umfangreichen Verbotskatalog ist in der Klauselrichtlinie ein generalklauselartiger Maßstab für die Inhaltskontrolle vorgesehen; danach sind im Einzelnen ausgehandelte Vereinbarungen unverbindlich, wenn sie „zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten“ verursachen (Art. 3 Klausel-RL). Darüber hinaus ist auch für bestimmte Vertragstypen aufgrund von EG-Richtlinien ein weitergehender Kernbereich der vertraglichen Rechte des Verbrauchers vorgesehen, der ebenfalls zwingenden Charakter hat. Dies gilt insbesondere für den Verbrauchsgüterkauf (Art. 7 Verbrauchsgüterkauf-RL [RL 99/44]), für Verbraucherkreditverträge (Art. 22 Verbraucherkredit-RL [RL 87/102, ab 12.5.2010 RL 2008/48]; Verbraucherkreditrecht der Gemeinschaft) und für den Reisevertrag, hinsichtlich dessen der zwingende Charakter zwar nur für einen Teilbereich ausdrücklich festgelegt (Art. 5(3) Pauschalreise-RL [RL 90/314]), aber auch im Übrigen wegen des verbraucherschützenden Zweckes unzweifelhaft ist. Schließlich ist der zwingende Charakter des Verbraucherschutzes auch im Entwurf für eine allgemeine Verbraucherrechte-RL (KOM(2008) 614 endg.) vorgesehen (Art. 43).

Ein weiteres Feld „naturgemäß“ zwingender (vgl. Zwingendes Recht (Grundlagen)) Vorgaben des EG-Rechts bilden die europarechtlichen Diskriminierungsverbote. Diese sind schon im EG-Vertrag angelegt (Art. 12, 13, 141 EG/18, 19, 157 AEUV) und werden durch zahlreiche, recht unübersichtliche Antidiskriminierungs-Richtlinien ausgestaltet. Im allgemeinen Geschäftsverkehr, namentlich bei den sog. Massengeschäften, betreffen die Diskriminierungsverbote nur das Geschlecht (RL 2004/113) sowie Rasse und ethnische Herkunft (RL 2000/43). Weitergehende Diskriminierungsverbote (Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung) sind auf der Grundlage von Art. 13 EG/ 19 AEUV lediglich für den Bereich Beruf und Beschäftigung niedergelegt, so dass die Reichweite des AGG (vgl. Zwingendes Recht (Grundlagen)) deutlich über den europarechtlich veranlassten Mindestschutz hinausgeht.

Auch jenseits des Verbraucher- und Diskriminierungsschutzes finden sich einzelne zwingend ausgestaltete Regelungsbereiche des EG-Rechts. So stellt etwa die für den Geschäftsverkehr geltende Zahlungsverzugs-RL (RL 2000/35) abweichende Vereinbarungen über den Zahlungstermin oder die Folgen des Zahlungsverzugs unter den Vorbehalt grober Nachteiligkeit für den Gläubiger (Art. 3(3)1). Auch die Handelsvertreter-RL (RL 86/653) verlangt nach einer zwingenden Ausgestaltung der Ausgleichs- bzw. Schadensersatzansprüche des Handelsvertreters sowie nach einer Einschränkung von Wettbewerbsabreden (Art. 19, 20). Die Produkthaftungs-RL (RL 85/374) ordnet an, dass[Haftungsbeschränkungen zu Lasten des Geschädigten grundsätzlich auszuschließen sind (Art. 12; Produkthaftung). Schließlich mögen noch die verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Richtlinien genannt werden, deren Vorschriften sich in den – europaweit praktizierten – gesellschaftsrechtlichen Typenzwang fügen und damit jedenfalls mittelbar zwingendes Recht betreffen.

Insgesamt gelten auch für die zwingenden Privatrechtsvorschriften auf europäischer Ebene die oben angeführten Legitimitätsanforderungen. Das Ziel der Rechtsvereinheitlichung bildet demgegenüber keine eigenständige Legitimierung für die zwingende Ausgestaltung privatrechtlicher Regelungen. Denn die Harmonisierung ist kein Selbstzweck, sondern sie dient dazu, für die Privatrechtssubjekte grenzüberschreitend Rechtssicherheit herzustellen und einheitliche Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt zu schaffen (vgl. auch Art. 95 EG/ 114 AEUV). Die Zulassung freiwilliger Dispositionen der Parteien über das zwischen ihnen bestehende Rechtsverhältnis beeinträchtigt die Rechtssicherheit nicht. Sie behindert auch keinesfalls den Binnenmarkt, vielmehr trägt sie zu dessen Stärkung bei. Diesen Erwägungen hat auch die gegenwärtige Debatte Rechnung zu tragen, ob der Rechtsvereinheitlichungsprozess dem Prinzip der Mindestharmonisierung oder demjenigen der Vollharmonisierung folgen sollte: Der Gedanke der Vollharmonisierung allein kann den Vorrang der Parteidisposition nicht in Frage stellen.

2. Internationales Einheitsrecht: UN‑Kaufrecht

Das UN-Kaufrecht (CISG; Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) steht nach Art. 6 CISG sowohl im Ganzen als auch hinsichtlich einzelner Anordnungen zur Disposition der Parteien. Ein Vorbehalt gilt gemäß Art. 12 CISG nur insoweit, als ein Vertragsstaat, in dem eine der Parteien ihre Niederlassung hat, durch Erklärung nach Art. 96 CISG – unter Abweichung von der grundsätzlichen Formfreiheit nach Art. 11, 29 CISG – die Schriftform als verbindliche Wirksamkeitsvoraussetzung von Vereinbarungen festgelegt hat. Inhaltliche Schranken für Parteivereinbarungen sind im CISG nicht vorgesehen.

3. Modellgesetze ohne Einbeziehung des geltenden EG-Rechts

a) Principles of European Contract Law

Auch in den Principles of European Contract Law (PECL) ist der grundsätzliche Vorrang der Parteidispositionen in Art. 1:102 PECL ausdrücklich verankert. Eine potentielle Öffnung für zwingende Vorgaben ist hier aber dadurch angelegt, dass die Vertragfreiheit von vornherein unter den Vorbehalt von Treu und Glauben gestellt wird (Art. 1:102(1) PECL: „subject to the requirements of good faith and fair dealing, and the mandatory rules established by these Principles“). Auch werden die Gebote von Treu und Glauben als Quelle für allgemeine Vertragspflichten qualifiziert, die der Parteivereinbarung entzogen sein sollen (Art. 1:201 PECL). Der konkrete Regelungsgehalt dieser Vorschriften, namentlich die Reichweite daraus abzuleitender zwingender Inhaltsschranken, ist allerdings unklar. Durch den Wortlaut der genannten Regelungen wird zwar der Eindruck hervorgerufen, dass die Gebote von Treu und Glauben als generalklauselartige Quelle zwingenden Richterrechts grundsätzlichen Vorrang vor den Festlegungen der Parteien beanspruchen würden. Indessen dürfte dies eher unvollkommener Regelungstechnik geschuldet sein als dem Ausdruck eines wohlerwogenen Regelungsplans (vgl. auch unten 4. a)). Dafür spricht auch, dass in den PECL im Übrigen nur wenige Regelungen den Parteivereinbarungen zwingende Schranken setzen, dabei aber sehr strenge Eingriffsschwellen definieren.

Eine solche Schranke betrifft insbesondere die sog. Wuchergeschäfte: Der Bewucherte ist zur Anfechtung berechtigt, wenn der Wucherer eine bestimmte Zwangslage zu einer Vereinbarung ausgenutzt hat, die „grossly unfair“ ist oder ihm einen „excessive benefit“ einbringt (Art. 4:109 PECL). Eine weitere zwingende Anordnung begrenzt die Inhaltsfreiheit im Hinblick auf Klauseln, die nicht im Einzelnen ausgehandelt sind. Eine solche Klausel ist anfechtbar, wenn „… contrary to the requirements of good faith and fair dealing it causes a significant imbalance in the parties’ rights and obligations …” (Art. 4:110 PECL). Diese Inhaltskontrolle ist keinen personalen Anwendungsschranken unterworfen, sie gilt damit insbesondere auch für Verträge zwischen Unternehmern.

Die Verfasser der PECL haben davon abgesehen, eigenständige Maßstäbe für das Verbot gesetzeswidriger oder sittenwidriger Vertragsinhalte zu formulieren (vgl. auch Art. 4:101 PECL). Allerdings verweisen die PECL für die Ableitung generalklauselartiger Inhaltsverbote auf externe Rechtsquellen, nämlich auf „fundamental principles“ der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie auf „mandatory rules of law“, die nach den Regeln des IPR Anwendung finden. Während aus einem Verstoß gegen „fundamental principles“ mitgliedstaatlichen Rechts die Unwirksamkeit der Vereinbarung folgen soll (Art. 15:101 PECL), ist für Verstöße gegen kollisionsrechtlich anwendbare „mandatory rules of law“ ein flexibles, am Inhalt der Vorschrift, deren Zweck und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientiertes Rechtsfolgenprogramm verankert, das von unveränderter Aufrechterhaltung der Vereinbarung über deren Anpassung bis zu ihrer Nichtigkeit reicht (Art. 1:103, 15:102 PECL). Diese Regelungen enthalten als richtigen Kern das Gebot der schutzzweckorientierten, verhältnismäßigen Rechtsfolgenbestimmung. Sie drücken insoweit aber nur Selbstverständliches überkompliziert aus. Im Übrigen lassen die Regelungen keine hinreichend deutlichen Rückschlüsse über die Art der „fundamental principles“ und des „mandatory law“ erkennen.

Ferner finden sich verschiedene „besondere“ Schranken für die Leistungsbestimmung durch (nur) eine Vertragspartei bzw. durch Dritte (Art. 6:105, 6:106(2) PECL, „grossly unreasonable“), für den Ausschluss der Rechtsbehelfe bei elementaren Willensmängeln (Art. 4:118 PECL) sowie bei Leistungsstörungen (Art. 8:109 PECL, „good-faith“-Vorbehalt), für Vertragsstrafen (Art. 9:509(2) PECL, „grossly excessive“) und für Verjährungsvereinbarungen (Art. 14:601 (2) PECL). In den „Notes“ zur Kündigungsvorschrift für zeitlich unbegrenzte Dauerschuldverhältnisse (Nr. 1 zu Art. 6:109 PECL) wird ferner das allgemeine Rechtsprinzip hervorgehoben, dass eine zeitlich unbegrenzte Bindung unwirksam sei.

b) UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts

Die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts (UNIDROIT PICC) verankern ebenfalls die Vertragsfreiheit sowie den dispositiven Charakter der Modellregeln als Grundsatz (Art. 1.1 und 1.5 UNIDROIT PICC). Die Gebote von Treu und Glauben sind in den UNIDROIT PICC – anders als in den PECL – nicht als Vorbehalt der Inhaltsfreiheit aufgenommen, wohl aber als indisponible, allgemeine Verhaltenspflicht (Art. 1.7 UNIDROIT PICC). Von einer allgemeinen Regelung gesetzes- und sittenwidriger Vertragsinhalte wurde bislang abgesehen (Art. 3.1(b) UNIDROIT PICC). Im Übrigen finden sich in den UNIDROIT PICC für dieselben „besonderen“ Regelungsgegenstände wie in den PECL zwingende Schranken, die freilich im Detail von den PECL abweichen und in der Tendenz weniger weitreichend sind. Insgesamt liegt den UNIDROIT PICC eine deutlich liberalere Grundtendenz zugrunde als den PECL.

4. Modellgesetze unter Einbeziehung des geltenden EG-Rechts

a) Acquis Principles

Die ACQP enthalten ihrer Grundkonzeption entsprechend insbesondere auch zahlreiche Übernahmen und Verallgemeinerungen aus dem europäischen Verbraucherschutzrecht (Widerrufsrechte, Informationspflichten, Klauselkontrolle etc.). Die starke Orientierung der EG-Richtlinien und damit auch der ACQP am Verbraucherschutz haben zur Folge, dass die ACQP verhältnismäßig breitflächig zwingenden Charakter haben. Insbesondere ist der zwingende Charakter des Verbraucherschutzes allgemein in Art. 1:203 ACQP niedergelegt, freilich versehen mit einer Ausnahme für Vergleiche. Dieser Grundsatz wird in verschiedenen Einzelvorschriften wiederholt und zwar z.T. mit ausdrücklichem Bezug zur allgemeinen Vorschrift des Art. 1:203 ACQP (Art. 1:302, 2:205(2), 2:301; 4:108(4) ACQP; vgl. dazu auch die Verwahrung gegen einen Umkehrschluss im Kommentar zu Art. 1:203, Rn. 8). Für den gesamten Regelungskomplex der Widerrufsrechte ist eine gesonderte Bekräftigung dessen zwingenden Charakters ohne Bezugnahme auf Art. 1:203 ACQP in Art. 5:101 ACQP vorgesehen. Dahinter steht die – höchst angreifbare – Erwägung, dass die Schutzwirkung der Widerrufsrechte möglicherweise über das b2c-Rechtsverhältnis hinaus erweitert werden kann (vgl. Kommentar zu Art. 5:101 Rn. 2, 9 unter Berufung auf Art. 2 der Lebensversicherungs-RL [RL 2002/83]).

Auch außerhalb von Verbraucherverträgen enthalten die ACQP zwingende Regelungen (vgl. Kommentar zu Art. 1:203 Rn. 9). So wird die Verpflichtung von Unternehmen, beim elektronischen Vertragsschluss auf die verwendeten Vertragsbedingungen hinzuweisen und diese abrufbar zu halten, auch im Hinblick auf b2b-Rechtsverhältnisse für zwingend erklärt (Art. 2:205(1) ACQP). In Anlehnung an die Zahlungsverzugs-RL sind ferner bestimmte Vereinbarungen über die Zahlungspflicht des Schuldners nicht bindend, wenn der Gläubiger dadurch in grob unangemessener Weise benachteiligt wird (Art. 8:407 ACQP).

Ohne gesonderte Anordnung hat auch der für „nicht im Einzelnen ausgehandelte“ Vertragsklauseln vorgesehene und an der Klausel-RL ausgerichtete Regelungskomplex (Art. 6:301 ff. ACQP) zwingenden Charakter. Der Klausel-RL entnommen – damit aber auch der Formel der PECL ähnlich (vgl. oben 3. a) und c)) – ist insbesondere auch der für b2c- (und c2c-)Verträge geltende, allgemeine Maßstab der Inhaltskontrolle (Art. 6:301(1) ACQP). Über den Anwendungsbereich der Klausel-RL hinaus erstrecken die ACQP die Klauselkontrolle jedoch nach Art. 6:301(2) ACQP auch auf b2b-Verträge. Insoweit wird aber – anders als in den PECL – ein besonderer Kontrollstandard formuliert: Eine Klausel ist nur dann „unfair“, wenn sie in grober Weise von der „good commercial practice“ abweicht. Ohne weiteres indisponibel sind ferner auch die Diskriminierungsverbote (vgl. Kommentar zu Art. 1:203 Rn. 8), die nach Art. 3:101 ACQP für die Merkmale Geschlecht, Rasse und ethnische Herkunft vorgesehen sind und sich offenbar – ebenfalls unter radikaler Erweiterung der Vorgaben des EG-Rechts – auf alle Privatrechtsakte erstrecken sollen.

Bemerkenswert ist schließlich die Behandlung der Gebote von Treu und Glauben in den ACQP, die hier lediglich für den vorvertraglichen Kontakt und als Leitlinie für die Erfüllung und die Rechtsausübung vorgesehen sind (Art. 2:101, 7:101, 102 ACQP). Die Verfasser der ACQP gehen zwar von einem zwingenden Charakter des Rechtsprinzips aus, verzichten aber darauf, diesen regelhaft auszudrücken (vgl. Kommentar zu Art. 1:203 Rn. 9). Dahinter steht die – gerade im Vergleich zum nebulösen Ansatz der PECL – überzeugende Erwägung, dass eine Parteivereinbarung im Regelfall schon wegen des freiwilligen Einverständnisses der Parteien mit den Geboten von Treu und Glauben im Einklang steht, dass also in diesem Sinne dem Willen der Parteien Vorrang gegenüber den Geboten von Treu und Glauben einzuräumen ist (vgl. Kommentar zu Art. 2:101 Rn. 18). Der zwingende Charakter beschränkt sich somit darauf, dass die Parteien die Gebote von Treu und Glauben nicht vollständig suspendieren können: Sofern ein Interessenkonflikt von den Parteien nicht durch eine konkrete Vereinbarung gelöst ist, kommen die Gebote von Treu und Glauben stets ergänzend zur Anwendung. Somit besteht eine Wechselwirkung zwischen der Parteivereinbarung und den Anforderungen von Treu und Glauben, und diese wird durch eine ausdrückliche Verankerung des zwingenden Charakters von Treu und Glauben verschleiert.

b) Draft Common Frame of Reference

In der Einleitung zum Draft Common Frame of Reference (s. dort Principles) deutet die insgesamt wertungsoffene Ausrichtung darauf hin, dass die Verfasser der traditionell liberalen Ausrichtung des Privatrechts eine stärker regulativ orientierte Tendenz entgegensetzen wollen (DCFR Principles, Nr. 1 ff.). Immerhin wird aber der grundsätzliche Vorrang der Vertragsfreiheit im Ansatz bekräftigt und für Eingriffe in diese der „Vorrang des milderen Mittels“ propagiert. Auch Billigkeitsvorbehalte werden indes im Vergleich zu zwingendem Recht als milderes Mittel qualifiziert (DCFR Principles, Nr. 11). Dabei wird übersehen, dass Billigkeitsvorbehalte jedenfalls dann, wenn sie die Geltung vertraglicher Vereinbarungen einschränken, eine besondere Form zwingenden Rechts darstellen, deren Besonderheit lediglich darin liegt, dass die Konkretisierung der zwingenden Norm den Gerichten überantwortet wird (vgl. Zwingendes Recht (Grundlagen)). Hinsichtlich der Einzelvorschriften wirkt sich die konzeptionelle Orientierung des DCFR an den PECL und den Acquis Principles aus.

Aus den PECL ist der grundsätzliche Vorrang der Parteidispositionen übernommen worden, allerdings ist bemerkenswerterweise der Treu-und-Glauben-Vorbehalt, der im ersten Entwurf des DCFR noch enthalten war, in der endgültigen Fassung gestrichen worden; ergänzend findet sich im DCFR der Hinweis, dass zwingende Vorschriften nicht den bewussten Verzicht auf ein bereits entstandenes Recht ausschließen sollen (Art. II.-1:102 DCFR). Im Übrigen ist die Pflicht zur Befolgung der Gebote von Treu und Glauben im DCFR sowohl für den vorvertraglichen Kontakt (Art. II.-3:301(2) DCFR) als auch als vertragliche Pflicht (Art. III.-1:103(1) und (2) DCFR) ausdrücklich der Parteidisposition entzogen (vgl. dazu soeben unter 4. a)). Ferner finden sich im DCFR im Wesentlichen dieselben inhaltlichen Schranken für Vertragsinhalte wie in den PECL (vgl. oben 3. a)) Hinsichtlich der Freizeichnung für Leistungsstörungen ist der allgemeine good-faith-Vorbehalt der PECL allerdings im DCFR um ein ausdrückliches Verbot des Haftungsausschlusses für vorsätzliche und grob fahrlässige Körperverletzungen ergänzt worden (Art. III.-3:105 DCFR).

Diejenigen zwingenden Schranken Gebote, die das geltende EG-Recht im DCFR abbilden sollen, sind an den ACQP orientiert. Dies gilt insbesondere für verschiedene Ausprägungen des Verbraucherschutzrechts (Verbraucher und Verbraucherschutz), etwa die Regelungen über Informationspflichten (Art. II.-3:101 ff. DCFR) oder über das verbraucherschützende Widerrufsrecht (Art. II.-5:101 ff. DCFR). Eine allgemeine Anordnung des zwingenden Charakters des Verbraucherschutzes findet sich nicht, wohl aber sachgebietsspezifische Einzelanordnungen (vgl. z.B. Art. II.-3:107(5) und Art. II.-3:201(3) DCFR, Informationspflichten; Art. II.-5:101(2) DCFR, Widerrufsrechte).

Ausdrücklich und umfassend für zwingend erklärt wird auch die besondere Inhaltskontrolle für nicht im Einzelnen ausgehandelte Verträge (Art. II.-9:401 DCFR). Dieser Regelungskomplex ähnelt in vielfacher Hinsicht der in den ACQP vorzufindenden „Bearbeitung“ der Klausel-RL; insbesondere wird der Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle auch auf b2b- und c2c-Rechtsverhältnisse erstreckt. Allerdings wird für b2c-Verträge (anders als in den ACQP) die Möglichkeit offen gehalten, dass die Inhaltskontrolle auch auf nicht individuell ausgehandelte Verträge ausgedehnt werden kann (Art. II.-9:403, 9:404 DCFR). Bemerkenswert (und geradezu kurios) ist auch der „gedoppelte“ Billigkeitsmaßstab für die Inhaltskontrolle von b2b-Verträgen: Hier soll eine Klausel dann „unfair” sein, wenn sie „grossly deviates from good commercial practice, contrary to good faith and fair dealing“ (Art. II.-9:405 DCFR).

Ein weiterer, in Anlehnung an die Acquis Principles formulierter und naturgemäß zwingender (vgl. Zwingendes Recht (Grundlagen) 2. a)) Regelungskomplex des DCFR betrifft das Diskriminierungsverbot (allgemein) (Art. II.-2:101 ff., III.-1:105 DCFR). Seine Reichweite wird allerdings in Abweichung von den ACQP (und in engerer Bindung an die EG-Richtlinien) beschränkt auf Diskriminierungen „in relation to a contract or other juridical act the object of which is to provide access to, or supply, goods or services which are available to the public“ (Art. II.-2:101 DCFR).

Schließlich finden sich auch in den Vorschriften für besondere Vertragstypen an einigen Stellen des DCFR Vorschriften mit zwingendem Charakter. Maßgebend ist hier zunächst wiederum der Gedanke des Verbraucherschutzes, namentlich die Sicherung der Rechte des Käufers beim Verbrauchsgüterkauf (Art. IV.A.-2:309, 4:102, 5:103(4), 6:101 ff. DCFR) und bestimmter Mieterrechte (Art. IV.B.-1:104, 2:103(2), 6:102 DCFR). Die übrigen zwingenden Einzelvorschriften des besonderen Vertragsrechts sind z.T. durch EG-rechtliche Vorgaben veranlasst und folgen keinem übergreifenden systematischen Plan. Zu nennen sind etwa Konkretisierungen für zulässige Haftungsbeschränkungen in „service contracts“ (vgl. etwa Art. IV.C.-4:108, 5:109, 6:107 DCFR) und Dispositionsschranken für den Zahlungsanspruch von Handelsvertretern (Art. IV.E.-3:302(2) DCFR) sowie für verschiedene Rechte des Franchisenehmers (Franchising) (Art. IV.E.-4:102(3), 4:202(2), 4:204(3), 4:206(4), 4:303(4) DCFR).

Literatur

Hein Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd. I, 1996; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996; Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Privatrecht, 1997; Jörg Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht, 2003; Sibylle Hofer, Vor § 241, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd. II/1, 2007; Matthias E. Storme, Freedom of Contract: Mandatory and Non-Mandatory Rules, European Review of Contract Law 2007, 233 ff.; Andreas Thier, § 311, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-Kritischer Kommentar, Bd. II/2, 2007; Horst Eidenmüller, Florian Faust, Hans-Christoph Grigoleit, Nils Jansen, Gerhard Wagner, Reinhard Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht, Juristenzeitung 2008, 529 ff.; Hans-Christoph Grigoleit, Anforderungen des Privatrechts an die Rechtstheorie, in: Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 52 ff.