Unilateralismus (IPR)
von Giesela Rühl
1. Grundlagen
Das internationale Privatrecht beschäftigt sich mit der Frage, welche Normen in Fällen Anwendung finden, die Beziehungen zu verschiedenen Rechtsordnungen aufweisen. Zur Beantwortung stellt es im Wesentlichen zwei Methoden zur Verfügung: die auf die mittelalterliche Statutentheorie zurückgehende unilaterale Methode einerseits und die von Friedrich Carl von Savigny im 19. Jahrhundert begründete multilaterale Methode andererseits. Beide Methoden unterscheiden sich grundlegend: Während der Unilateralismus bei der Norm ansetzt und durch Auslegung ermittelt, ob sie auf einen bestimmten Lebenssachverhalt Anwendung finden will, geht der Multilateralismus vom Lebenssachverhalt aus und weist diesen mit Hilfe von allseitigen Kollisionsnormen einer bestimmten Rechtsordnung zu. In Europa dominiert seit dem 19. Jahrhundert die zuletzt beschriebene multilaterale Methode. Die unilaterale Methode ist demgegenüber in den USA vorherrschend.
a) Theoretischer Ausgangspunkt
Die Unterscheidung zwischen Unilateralismus und Multilateralismus findet ihren Ausgangspunkt im Verständnis der Natur, der Aufgaben und der Funktionen des Privatrechts: Für den Unilateralismus ist das Privatrecht – ebenso wie das öffentliche Recht – Ausdruck staatlicher Hoheitsgewalt. Es bringt staatliche Interessen zum Ausdruck und nimmt soziale Funktionen wahr. Fälle, die Beziehungen zu mehreren Rechtsordnungen aufweisen, stellen sich vor diesem Hintergrund als Konflikte zwischen Staaten und staatlichen Interessen dar, denen bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Respekt gezollt werden muss. Daraus ergibt sich nahezu zwangsläufig, dass das anwendbare Recht durch Ansatz beim Gesetz und durch Ermittlung seines Anwendungswillens bestimmt werden muss. Dabei sind die Wertungen und Funktionen des materiellen Rechts ebenso wie die Absichten des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Anders sieht es aus der Perspektive des Multilateralismus aus: Für ihn ist das Privatrecht – anders als das öffentliche Recht – ein neutrales und apolitisches Rechtsgebiet. Es verkörpert keine staatlichen Interessen und nimmt auch keine sozial gestaltenden Funktionen wahr. Stattdessen ordnet es die persönlichen Freiheits- und Lebensbereiche Einzelner und bringt die Interessen Privater zum Ausgleich. Fälle, die Beziehungen zu mehreren Rechtsordnungen aufweisen, sind deshalb für den Multilateralismus keine Konflikte zwischen Staaten und staatlichen Interessen, sondern Konflikte zwischen privaten Willensbereichen und Freiheitssphären. Die Bestimmung des anwendbaren Rechts stellt sich dementsprechend als Ausgleich zwischen privaten Interessen dar und hat zu erfolgen, indem der in Rede stehende Lebenssachverhalt mit Hilfe allseitiger Kollisionsnormen eindeutig – ohne Rücksicht auf den Anwendungswillen der betroffenen Normen und ohne Rücksicht auf die Wertungen und Funktionen des materiellen Rechts – einer Rechtsordnung zugewiesen wird. Auf einen Eingriff in die Souveränität der betroffenen Staaten läuft die Bestimmung des anwendbaren Rechts dabei aus Sicht des Multilateralismus nicht hinaus. Zwar wird neben dem Anwendungsbereich inländischer Normen auch der Anwendungsbereich ausländischer Normen festgelegt. Da das Privatrecht allerdings frei von staatlichen Interessen ist, kann die Bestimmung des Anwendungsbereichs ausländischer Normen keine staatlichen Interessen verletzen. Wegen der Neutralität des Privatrechts sind die einschlägigen Regelungen darüber hinaus grundsätzlich gleichwertig und austauschbar.
b) Praktische Implikationen
Die Unterscheidung zwischen Unilateralismus und Multilateralismus hat nicht nur theoretische Bedeutung. Zwar ging der Begründer der multilateralen Methode, Savigny, davon aus, dass diese regelmäßig zum gleichen Ergebnis komme wie die unilaterale Methode („Beide Arten, die Frage aufzufassen, sind nur im Ausgangspunkte verschieden. Die Frage selbst ist hier und dort dieselbe, und die Entscheidung kann in beiden Fällen nicht verschieden ausfallen.“, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, 1849, 3). Für den mit der Bestimmung des anwendbaren Rechts betrauten Richter sind die Unterschiede allerdings enorm: Auf der Grundlage des Unilateralismus ermittelt der Richter, ausgehend vom Gesetz, das anwendbare Recht in zwei Schritten. Im ersten Schritt muss er durch Auslegung der einschlägigen materiellrechtlichen Normen bestimmen, welches Recht dem Grunde nach Anwendung beansprucht. Da die Bestimmung des Anwendungswillens für jede materielle Norm gesondert vorzunehmen ist, kann es passieren, dass das Recht mehrerer Staaten angewandt werden möchte. Ist dies der Fall, muss der Richter im zweiten Schritt festlegen, welchem dieser Rechte der Vorrang gebührt. Auf der Grundlage des Multilateralismus ermittelt der Richter das anwendbare Recht ausgehend vom Lebenssachverhalt demgegenüber im Wesentlichen in einem einzigen Schritt. Mit Hilfe allgemeiner, im Vorfeld festgelegter Kriterien muss er den in Rede stehenden Lebenssachverhalt einem einzigen Recht zuordnen. Da dieses dann – von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise dem ordre public abgesehen – auch Anwendung findet, geht die Entscheidung für die Anwendung eines bestimmten Rechts gleichzeitig mit der Entscheidung gegen die Anwendung anderer Rechte einher.
Der Unilateralismus stellt den Richter damit insgesamt vor größere Herausforderungen und praktische Schwierigkeiten als der Multilateralismus. Ein Gericht, das mit der Lösung eines grenzüberschreitenden Sachverhalts befasst ist, muss nämlich alle in Betracht kommenden Rechtsordnungen nach ihrem Anwendungswillen „absuchen“ und – falls es an ausdrücklichen Regelungen fehlt – den Anwendungswillen jeder möglicherweise einschlägigen ausländischen Norm ermitteln. Da Gerichte dafür aber weder die erforderliche (rechtsvergleichende) Ausbildung noch die notwendigen Ressourcen haben, läuft der Unilateralismus Gefahr, willkürliche und für die Parteien schwer vorhersehbare Ergebnisse zu produzieren. Für die multilaterale Methode, die diese Probleme vermeidet, sprechen damit insbesondere ihre vergleichsweise große Praktikabilität und die damit einhergehende größere Rechtssicherheit.
2. Historischer Hintergrund
a) Die mittelalterliche Statutenlehre
Der kollisionsrechtliche Unilateralismus findet seinen Ursprung in der mittelalterlichen Statutenlehre. Diese wurde im 12. Jahrhundert von den oberitalienischen Gerichten und Gelehrten unter Bezug auf das überlieferte römische Recht entwickelt, um in Fällen, die Bürger verschiedener oberitalienischer Stadtstaaten betrafen, das anwendbare lokale Recht zu bestimmen. Auf der Grundlage des Corpus Juris Civilis und der darin niedergelegten lex cunctos populos gingen sie davon aus, dass der räumliche Geltungsbereich lokaler Normen, der so genannten Statuten, begrenzt sei. Sie bemühten sich deshalb, den Geltungsbereich lokaler Normen zu bestimmen, indem sie diese unterschiedlichen Kategorien mit unterschiedlichem Anwendungswillen zuwiesen. Dabei unterschieden sie anfangs lediglich zwischen Normen mit Bezug zur Person (statuta personalia) und Normen mit Bezug zum Territorium (statuta realia). Vorschriften mit Bezug zur Person waren auf Bürger des jeweiligen Stadtstaates anzuwenden, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Vorschriften mit Bezug zum Territorium fanden demgegenüber auf jeden Anwendung, der sich innerhalb der jeweiligen Stadtmauern aufhielt. Später traten die gemischten Vorschriften (statuta mixta) hinzu, die sich nicht eindeutig einer der hergebrachten Kategorien zuordnen ließen.
Die Statutenlehre dominierte das europäische Kollisionsrecht mit Unterschieden im Detail bis ins 19. Jahrhundert. Trotzdem gelang es ihr bis zum Schluss nicht, allgemein akzeptierte Kriterien zur Einordnung lokaler Normen in die oben genannten Kategorien zu entwickeln. Die oberitalienischen Gerichte und Gelehrten stellten – ebenso wie ihre französischen und holländischen Nachfolger – zunächst auf den Wortlaut des jeweiligen lokalen Rechts ab. Zum Teil wurde die Einordnung sogar vom ersten Wort abhängig gemacht. Später versuchten sie, die tatsächliche oder vermutete Absicht des Gesetzgebers zu ermitteln. Aber auch hier konnte keine Einigkeit über das Vorgehen im Einzelnen erzielt werden. Die Kriterien zur Bestimmung des Geltungsbereichs lokaler Rechte unterschieden sich folglich von Land zu Land und von Stadt zu Stadt. Obwohl das Kollisionsrecht als universell gültiges Recht angesehen wurde, gab es keine universell gültigen Lösungen.
b) Die klassische Theorie des internationalen Privatrechts
Die multilaterale Methode geht auf Savigny, den Begründer der klassischen Theorie des internationalen Privatrechts, zurück. Ihre Grundlage findet sie in seiner – dem Geist des 19. Jahrhunderts entsprechenden – Überzeugung, dass das Privatrecht nicht Bestandteil staatlicher Ordnung und Ausdruck staatlicher Macht ist, sondern Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. Die Abgrenzung verschiedener Rechtsordnungen konnte für Savigny deshalb nicht – wie nach der Statutenlehre – vom staatlichen Gesetz ausgehen, sondern musste beim Rechtsverhältnis ansetzen. Denn wenn das Recht nicht Bestandteil staatlicher Ordnung und Ausdruck staatlicher Macht, sondern organische Lebensäußerung des Volkes und Ausdruck der Willensmacht des einzelnen ist, stellen sich Konflikte zwischen verschiedenen Rechtsordnungen nicht als Konflikte zwischen souveränen Staaten oder staatlichen Gesetzen, sondern als Konflikte zwischen den Willensbereichen und Freiheitssphären Einzelner dar. Und wenn Recht organische Lebensäußerung des Volkes und Ausdruck der Willensmacht des einzelnen ist, dann müssen sich Rechtsverhältnisse räumlich in ein bestimmtes Rechtsgebiet einfügen. Sie müssen – in den Worten Savignys – ihrer „eigenthümlichen Natur nach“ eine natürliche Heimat, einen „Sitz“ haben. Die Aufgabe des internationalen Privatrechts sah Savigny folglich darin, jedes Rechtsverhältnis der Rechtsordnung zuzuweisen, in der es seinen „Sitz“ hat. Und da sich das Privatrecht als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, das frei von staatlichen Interessen und gesetzgeberischen Zwecken ist, wollte er dies tun, indem mit Hilfe allgemeiner Kriterien die „räumlich beste“ Rechtsordnung bestimmt wird. Auf den Inhalt, die Funktionen und die Wertungen des materiellen Rechts sollte es dabei nicht ankommen.
Die multilaterale Methode beherrscht bis heute das Kollisionsrecht der europäischen Rechtsordnungen. Sie liegt außerdem den von der Europäischen Gemeinschaft in den letzten Jahren geschaffenen Kollisionsnormen zugrunde. In sprachlich leicht veränderter Form ist davon die Rede, dass Konflikte zwischen verschiedenen Rechtsordnungen durch die Anwendung des „sachnächsten“ Rechts oder durch die Anwendung des „Rechts der engsten Verbindung“ zu lösen sind. Anders als in den USA, wo sich die klassische Theorie des internationalen Privatrechts nicht, zumindest nicht langfristig, durchsetzen konnte und wo sie lediglich in der most significant relationship des Restatement (Second) of Conflict of Laws durchschimmert, hat sich der Multilateralismus in Europa damit bis heute zumindest dem Grunde nach gehalten.
c) Die politische Schule des internationalen Privatrechts
Während der Multilateralismus Savigny’scher Prägung in Europa bis heute dominiert, erfreut sich der Unilateralismus auf der anderen Seite des Atlantiks großer Beliebtheit. Im Einzelnen bildet er die Grundlage für die Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene politische Schule des internationalen Privatrechts, die im Zuge der American Conflict of Laws Revolution namentlich von Brainerd Currie begründet wurde. Für ihre Ausgestaltung und Orientierung ist wie bei Savigny das Verständnis des Privatrechts von entscheidender Bedeutung. Anders als die klassische Theorie sieht sie das Privatrecht nämlich nicht als neutrales und apolitisches Rechtsgebiet an, das frei von staatlichen Interessen sowie von Ordnungs- und Steuerungsfunktionen ist. Vielmehr betont sie unter dem Einfluss des US-amerikanischen Rechtsrealismus seinen sozialgestaltenden und zweckgerichteten Charakter, mit Hilfe dessen Staaten ihre Interessen und Vorstellungen durchsetzen. Für das internationale Privatrecht hat dieses – im Vergleich zur klassischen Theorie – gewandelte Verständnis des Privatrechts zur Folge, dass sich Konflikte zwischen verschiedenen Privatrechtsordnungen als Konflikte zwischen verschiedenen Staaten und staatlichen Interessen darstellen. Das zentrale Problem, das das internationale Privatrecht lösen muss, ist deshalb nicht das Auffinden der Rechtsordnung, in der das in Rede stehende Rechtsverhältnis seinen „Sitz“ hat. Vielmehr geht es um das Auffinden der Rechtsordnung, die das größte Interesse an ihrer Anwendung hat. Zur Bestimmung des anwendbaren Rechts ist deshalb – wie nach der mittelalterlichen Statutenlehre – der Anwendungswillen der jeweiligen betroffenen materiellen Normen zu bestimmen. Im Unterschied zur Statutenlehre, die die einschlägigen Vorschriften des materiellen Rechts verschiedenen Kategorien mit unterschiedlichem Anwendungswillen zugeordnet hatte, spricht sich die politische Schule allerdings für eine vom Richter durchzuführende Ermittlung und Abwägung der beteiligten staatlichen Interessen aus.
Die politische Schule des internationalen Privatrechts prägt bis heute das US-amerikanische Kollisionsrecht. Als führende Vertreter gelten neben Brainerd Currie insbesondere David Cavers, Robert Leflar, Albert Ehrenzweig, Arthur T. von Mehren, Donald Trautmann sowie Russell Weintraub. In Europa hat sich die politische Schule demgegenüber trotz einiger mächtiger Anhänger nicht, zumindest nicht flächendeckend durchsetzen können. Wie sich bei einem Blick in die mitgliedstaatlichen Kollisionsrechte und die von der Europäischen Gemeinschaft in den letzten Jahren verabschiedeten Rechtsakte auf dem Gebiet des internationalen Privatrechts zeigt, ist hier nach wie vor die klassische Theorie, vorherrschend. Allerdings hat die politische Schule insofern ihre Spuren hinterlassen, als sie zu einer Politisierung und Instrumentalisierung multilateraler Kollisionsnormen geführt hat. Deutlich wird dies an Vorschriften wie Art. 5 und 6 EVÜ sowie Art. 6 und 8 Rom I-VO (VO 593/ 2008) (Verbraucherverträge (IPR und IZPR); Arbeitsrecht, internationales). Diese heben ordnungspolitische Vorstellungen und Wertungen des materiellen Rechts auf die Ebene des internationalen Privatrechts und verhelfen ihnen dort mit Hilfe multilateraler Kollisionsnormen zur Durchsetzung.
3. Moderne Tendenzen
Der Umstand, dass in Europa bis heute – sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft – der Multilateralismus vorherrschend ist, bedeutet nicht, dass der Unilateralismus hier keine Spuren hinterlassen hat. Im Gegenteil: Das Vordringen staatlicher Regulierung im Laufe des 20. Jahrhunderts hat die Anzahl der Eingriffsnormen steigen lassen und die Anzahl der Rechtsgebiete vergrößert, in der bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts nicht nach dem Sitz des Rechtsverhältnisses, sondern nach dem Anwendungswillen des Gesetzes gefragt wird. Da Globalisierung und Europäisierung diesen Trend zusätzlich verstärkt haben, sind die unilateralen Inseln im Meer des multilateral ausgerichteten klassischen internationalen Privatrechts in den letzten Jahren zunehmend größer geworden.
a) Eingriffsnormen
Unilaterale Elemente finden sich im europäischen Kollisionsrecht in erster Linie in der Figur der Eingriffsnormen (overriding provisions, loi d’application immédiate, legge di applicazione necessaria). Sie sind als „Gesetze von streng positiver, zwingender Natur“ schon bei Savigny anzutreffen und werden vom internationalen Privatrecht der Mitgliedstaaten und – wie sich aus Art. 9 Rom I-VO und Art. 16 Rom II-VO (VO 864/2007) ergibt – vom internationalen Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft anerkannt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren eigenen Anwendungsbereich festlegen und unabhängig von dem eigentlich anwendbaren Recht, das mit Hilfe allseitiger Kollisionsnormen ermittelt wird, Anwendung beanspruchen. Wann eine Norm als Eingriffsnorm einzuordnen ist und damit im Sinne des Unilateralismus ihren eigenen räumlichen Geltungsbereich festlegt, entzieht sich einer abschließenden und allgemeingültigen Definition. Grundsätzlich sind Eingriffsnormen allerdings daran zu erkennen, dass sie ein öffentliches Interesse im weitesten Sinne zum Ausdruck bringen und anders als Normen des klassischen Privatrechts nicht nur dem Ausgleich privater Interessen dienen. Häufig sind sie wirtschafts- und sozialpolitischer Natur und bezwecken die staatliche Regulierung einzelner Lebensbereiche. In Übereinstimmung mit dieser – groben Eingrenzung – bestimmt Art. 9(1) Rom I-VO, dass eine Eingriffsnorm „eine zwingende Vorschrift [ist], deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seiner öffentlicher Interessen, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anwendbaren Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen“. Klassische Beispiele sind Devisenbestimmungen und Ein- und Ausfuhrverbote.
b) Internationales Wirtschaftsrecht
Eingriffsnormen gelten im Rahmen des grundsätzlich multilateral geprägten europäischen Kollisionsrechts als „klassische“ Einfallstore des Unilateralismus. Trotzdem stellen sie sich in methodischer Hinsicht als die berühmten Ausnahmen dar, die die Regel – sprich: die Geltung und den Vorrang des Multilateralismus – bestätigt. Anders sieht es im internationalen Wirtschaftsrecht (Wirtschaftskollisionsrecht, International Economic Law) aus. Hier hat sich der Unilateralismus im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend etabliert und damit die klassische multilaterale Methode verdrängt. Hintergrund dieser Entwicklung ist ein langsam um sich greifendes, verändertes Verständnis des Staates und seiner Aufgaben auf der einen Seite und der Leistungsfähigkeit des Marktes auf der anderen Seite: Ging der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, auf dessen Nährboden die multilaterale Methode Savigny’scher Prägung gedeihen konnte, von der unbegrenzten Leistungsfähigkeit des Marktes aus, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gefahren eines unregulierten Wettbewerbs sichtbar. Die daraus folgende Einsicht in die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Ordnungsrahmens zog regulierende staatliche Eingriffe zum Schutz des Wettbewerbs als Institution, aber auch zum Schutz des Einzelnen nach sich. Da diese regulierenden Eingriffe ordnungspolitisch motiviert waren und damit das Privatrecht seiner Neutralität beraubten, konnte die multilaterale Methode für diese Normen keine Geltung mehr beanspruchen. Im gesamten regulierenden Wirtschaftsrecht setzte sich deshalb die unilaterale Methode zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der einschlägigen Normen durch. Sie erstreckt sich heute insbesondere auf das Wettbewerbs- und Kartellrecht (Wettbewerbsrecht, internationales). Aber auch weite Teil des Arbeitnehmerschutzrechts, des Sozialrechts und des Transportrechts sind unilateral geprägt. Im Gegensatz zu den Eingriffsnormen, die sich – zumindest von der theoretischen Konzeption her – lediglich als punktuelle unilaterale Ausprägung darstellen, ist das internationale Wirtschaftsrecht damit flächendeckend als Territorium des Unilateralismus anzusehen.
c) Sekundäres Gemeinschaftsprivatrecht
Der Trend zum Unilateralismus, der sich im internationalen Wirtschaftsrecht auch im europäischen Raum zeigt, setzt sich an anderer Stelle nahtlos fort. Von vielen unbemerkt hat sich der Unilateralismus in den letzten Jahren im sekundären Gemeinschaftsrecht etabliert. Wie eine kürzlich von Stéphanie Francq vorgenommene Untersuchung der Verordnungen und Richtlinien auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts (Wettbewerbsrecht, internationales), des Transportrechts (Transportvertrag), des Verbraucherrechts (Verbraucher und Verbraucherschutz), des Arbeitsrechts (Europäisches Arbeitsrecht) sowie des Handelsvertreterrechts (Handelsvertreter) zeigt, bestimmen diese ihren Anwendungsbereich regelmäßig – explizit oder implizit – selbst. Auf dem Gebiet des Transportrechts ordnet die Verordnung vom 9.10.1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen (VO 2027/1997, geändert durch VO 889/2002) beispielsweise an, dass sie auf alle Luftfahrtunternehmen Anwendung findet, die im Besitz einer von einem Mitgliedstaat erteilten gültigen Betriebsgenehmigung sind. Und im Verbrauchervertragsrecht bestimmt die Pauschalreise-RL (RL 314/1990), dass sie auf alle Pauschalreisen anzuwenden ist, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft verkauft werden.
Das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht folgt damit – aus der Sicht kollisionsrechtlicher Methodik – regelmäßig einem unilateralen Ansatz, und zwar auch in Bereichen, die nicht dem internationalen Wirtschaftsrecht zuzuordnen sind. Ein Blick auf die Tätigkeit des europäischen Gesetzgebers enthüllt damit einen methodischen Dualismus, der sich bereits im internationalen Wirtschaftsrecht andeutet: Während in Bereichen, in denen es unmittelbar um die Bestimmung des anwendbaren Rechts geht, am Multilateralismus der klassischen kollisionsrechtlichen Theorie festgehalten wird, herrscht in Bereichen, die unmittelbar einer sachrechtlichen Regelung zugeführt werden, der Unilateralismus vor. Auffällig ist dabei zweierlei: Zum einen handelt es sich bei dem Unilateralismus des sekundären Gemeinschaftsrechts um einen einseitigen, da er alleine die Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts in den Blick nimmt und ihnen zur Durchsetzung verhilft. Zum anderen ist der Unilateralismus des sekundären Gemeinschaftsrechts nicht mit dem Multilateralismus der kollisionsrechtlichen Verordnungen abgestimmt. Unklar ist deshalb, in welchem Verhältnis der Unilateralismus des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts zum Multilateralismus des europäischen Kollisionsrechts steht. Stellt sich der gegenwärtige Trend zum Multilateralismus im europäischen Kollisionsrecht als widersprüchlich dar? Muss die Rolle multilateraler Kollisionsnormen in Europa grundsätzlich überdacht werden? Welchen Normen gebührt im Zweifelsfall Vorrang? Sind die Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts als „Kollisionsnormen“ des Gemeinschaftsrechts einzuordnen, die nach Art. 23 Rom I-VO und Art. 27 Rom II-VO Vorrang vor den kollisionsrechtlichen Verordnungen Savigny’scher Prägung haben? Antworten auf diese und andere Fragen wird die europäische Kollisionsrechtswissenschaft in den nächsten Jahren finden müssen. Fest steht allerdings, dass die kollisionsrechtliche Dichotomie von Unilateralismus und Multilateralismus in den letzten Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Sie wird die Diskussion um die kollisionsrechtliche Methodik folglich auch in Zukunft bestimmen.
Literatur
Brainerd Currie, Selected Essays on the Conflict of Laws, 1963; Christian Joerges, Zum Funktionswandel des Kollisionsrechts, 1971; Henri Battifol, Le pluralisme des méthodes en droit international privé, Recueil des cours 139 (1973-II) 75 ff; Jürgen Basedow, Wirtschaftskollisionsrecht: Theoretischer Versuch über die ordnungspolitischen Normen des Forumstaates, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internsationales Privatrecht 52 (1988) 8 ff; Friedrich K. Juenger, Choice of Law and Multistate Justice, 1993; Jürgen Basedow, Conflicts of Economic Regulation, American Journal of Comparative Law 42 (1994) 423 ff; Rudolfo de Nova, Historical and Comparative Introduction to Conflict of Laws, Recueil des cours 118 (1966-II) 433 ff; Stéphanie Francq, L’applicabilité du droit communautaire derivé au regard des méthodes du droit international privé, 2005; Symeon C. Symeonides (Hg.), Private International Law at the End of the 20th Century: Progress or Regress?, 2000; Stéphanie Francq, The Scope of Secondary Community Law in the Light of the Methods of Private International Law – or the Other Way Around?, Yearbook of Private International Law 8 (2006) 333 ff; Horatia Muir Watt, Private International Law, in: Jan M. Smits (Hg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006, 566 ff.