Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins japanische Recht

Aus HWB-EuP 2009

von Harald Baum

1. Historischer Ausgangspunkt und politische Dynamik

Während der Zeit des sogenannten Tokugawa Shogunats (1603-1868) gelang es Japan, sich von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hermetisch gegen die Außenwelt abzuschotten und so seine Unabhängigkeit gegenüber den europäischen Kolonialmächten zu wahren. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieb Japan ein konfuzianisch geprägter feudalistischer Ständestaat. Die agrarisch ausgerichtete vorindustrielle Wirtschaft wurde maßgeblich durch staatliche Kontrolle auf allen Ebenen gelenkt, und den Kräften des Marktes wurde nur wenig Spielraum zugestanden. Das Recht war statusabhängig und die Rechtsgewährung wurde, so sie überhaupt erfolgte, als Gnadenerweis der Obrigkeit gegenüber den Untertanen angesehen. Sämtliche für einen modernen Rechtsstaat westlicher Prägung typischen Institutionen fehlten bis zum Beginn der Reformen in den 1860er Jahren: So waren Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz unbekannt, der Berufstand des Juristen und die damit verbundene anwaltliche Vertretung vor Gerichten nicht existent, und es gab keine größeren ausgearbeiteten Gesetze oder eine funktional entsprechende Sammlung von Präjudizien. Durchsetzbare subjektive Rechte der Bürger fehlten weitgehend.

Die Phase obrigkeitsstaatlicher Stabilität unter der Herrschaft der Tokugawa endete abrupt, als die USA 1853, gestützt auf eine Flottille von Kanonenbooten, eine Öffnung der Häfen Japans und eine Einbindung des Landes in die internationale Wirtschaft verlangten. In der Erkenntnis, dass Japan nicht in der Lage war, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen, willigte die Regierung in die Öffnung ein und unterzeichnete mit den meisten westlichen Industriestaaten in den 1850er Jahren in rascher Folge eine Reihe von Handelsverträgen, die sogenannten „ungleichen Verträge“, in denen das Land gezwungen wurde, auf einen erheblichen Teil seiner Souveränität zu verzichten. Danach genossen beispielsweise in Japan ansässige Ausländer einen extraterritorialen Status und unterlagen lediglich der Konsulargerichtsbarkeit. Die Erniedrigung Japans durch die westlichen Mächte führte zu großen politischen Unruhen im Land, die 1868 in die Absetzung der Shogunatsregierung und der Wiedereinsetzung des Tenno als höchste staatliche Autorität mündeten. Bei diesem im Westen als „Meiji-Restauration“, in Japan hingegen treffender als „Meiji-Erneuerung“ (Meiji ishin) bezeichneten Umbruch setzten sich die Modernisierer gegenüber den Vertretern des alten Regimes durch.

Eines der zentralen und mit hoher politischer Priorität vorangetriebenen Reformziele der neuen Regierung war die Schaffung eines modernen Rechtssystems westlicher Prägung. Denn zum einen machten die Vertragspartner Japans eine Revision der für Japan nachteiligen Handelsverträge von dem Aufbau einer solchen Rechtsordnung abhängig, und zum anderen erkannte die Meiji-Regierung, dass eine wirtschaftliche Modernisierung, sprich Industrialisierung Japans nur auf der Grundlage adäquater rechtlicher Institutionen möglich war. Eine prosperierende Volkswirtschaft galt wiederum als Voraussetzung für den Aufbau eines modernen Militärs, das Japans künftige Unabhängigkeit sichern sollte. Das Motto aller Reformen lautete: Wakon yōsai – „Japanischer Geist, westliches Wissen“. Auf diese Weise sollte die kritische Balance zwischen westlichen Ideen und japanischen Traditionen gewahrt werden.

2. Die Entstehung des modernen japanischen Privatrechts

Der Aufbau des modernen Rechtssystems musste aufgrund der innen- und außenpolitischen Gegebenheiten so rasch als möglich erfolgen. Die Meiji-Regierung schickte zu diesem Zweck Japaner ins Ausland, um sie dort zu Juristen ausbilden und Erfahrungen sammeln zu lassen, und holte zugleich zahlreiche juristische Berater aus dem Ausland nach Japan, die bei der Ausarbeitung der Gesetze und dem Aufbau des Justizapparates maßgebliche Hilfestellung leisteten. In einer kulturellen Großleistung, die ihresgleichen sucht, gelang Japan innerhalb von nur drei Jahrzehnten die Errichtung eines voll funktionsfähigen westlichen Rechtssystems. Im Jahr 1900 waren bereits sämtliche wichtigen Gesetze in Kraft gesetzt, und Gerichte, Staats- und Rechtsanwaltschaft hatten ihre Arbeit erfolgreich aufgenommen.

Anders als hierzulande oftmals kolportiert wird, erfolgten die legislativen Reformarbeiten zunehmend auf einer breiten rechtsvergleichenden Grundlage. Allerdings zeigte sich rasch, dass aus praktischen Gründen nur eine Rezeption kodifizierten Rechts in Frage kam, während die Übernahme von Institutionen des durch Präjudizien geprägten anglo-amerikanischen Rechts, trotz eines zunächst großen Interesses am englischen Recht, nur in engen Grenzen praktikabel war. Damit fokussierte sich das japanische Interesse auf Kontinentaleuropa und dort wiederum, wenn auch keineswegs exklusiv, auf Frankreich und Deutschland. Entsprechend wurden zunächst vor allem französische und dann, im Laufe der 1880er Jahre, zunehmend deutsche Juristen als Berater ins Land gerufen. Diese brachten zwar einerseits ihr jeweiliges Heimatrecht mit, andererseits waren sie aber souverän genug, die Gesetzgebungsarbeiten im Zusammenwirken mit den japanischen Juristen rechtsvergleichend auszurichten. Letztere waren ihrerseits durch die Rechtsordnungen derjenigen Länder – vor allem England, Frankreich und Deutschland – geprägt, an deren Hochschulen sie zuvor ausgebildet worden waren.

Die rezipierten Privatrechtsinstitutionen wurden – nach langem Ringen – schließlich in zwei große Kodifikationen gegossen, das Zivilgesetz (Minpô) von 1896 (Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Schuldrecht) und 1898 (Familien- und Erbrecht) und das Handelsgesetz (Shôhô) von 1899. Dem Erlass beider Gesetze gingen lange Vorarbeiten und verschiedene Vorentwürfe mit wechselnden regulatorischen Konzeptionen voraus. Die Arbeiten an einem Zivilgesetz begannen 1870 mit dem Versuch, schlicht den französischen Code civil als die zu der Zeit modernste Privatrechtskodifizierung ins Japanische zu übersetzen. Die Übersetzung stieß, wie auch nachfolgende legislatorische Arbeiten, schon auf der sprachlichen Ebene aufgrund der fehlenden Begrifflichkeit im Japanischen auf große Probleme – so gab es etwa keinen passenden Terminus für den Begriff „subjektives Recht“. Die 1878 vorgelegte Übersetzung wurde als Gesetzentwurf allgemein als zu französisch und für Japan ungeeignet abgelehnt. Deshalb unternahm die Regierung 1880 einen neuen Versuch, eine Zivilrechtskodifikation erarbeiten zu lassen und beauftragte den französischen Juristen Gustave Emile Boissonade de Fontarabie (1829-1912), vormals Hochschullehrer in Grenoble, mit der Ausarbeitung des Vermögensrechts, während der Entwurf des Familien- und Erbrechts heimischen Juristen überlassen blieb, um in diesem Bereich eine Berücksichtigung der japanischen Traditionen sicherzustellen. Boissonade orientierte sich bei seinen Arbeiten zwar am Code civil, gleichwohl handelte es sich bei den von ihm fertig gestellten Teilen um eine eigenständige Kodifikation. Japanische Juristen überarbeiteten und ergänzten seine ins Japanische übersetzten Entwürfe anschließend. Der so verfertige, später als Kyû-minpô (Altes Zivilgesetz) bezeichnete Gesetzentwurf wurde 1890 verabschiedet und sollte ursprünglich 1893 in Kraft treten, wozu es indes nicht kam.

In etwa zeitgleich mit der Beauftragung Boissonades hatte die Regierung den deutschen Juristen Carl Friedrich Hermann Roesler (1834-1894), vormals Hochschullehrer in Rostock, gebeten, den Entwurf eines Handelsgesetzes für Japan auszuarbeiten. Roesler, der auch bereits an der Ausarbeitung der ersten japanischen Verfassung von 1889 mitgewirkt hatte, legte 1884 einen umfassenden Entwurf mit 1.133 Artikeln vor, der neben dem Handelsrecht auch das Gesellschaftsrecht, insolvenzrechtliche Vorschriften und anderes mehr enthielt. Um eine möglichst moderne Kodifikation zu schaffen, kombinierte er in einem rechtsvergleichenden Ansatz Elemente des französischen Code de Commerce von 1870 mit dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHG) von 1861, wobei er zusätzlich den seinerzeit neuen ägyptischen Code de commerce und Code de maritime von 1874 besondere Beachtung schenkte. Explizit blendete er das von ihm als überholt eingestufte japanische kaufmännische Gewohnheitsrecht aus, was sich allerdings rechtspolitisch als verhängnisvoll erweisen sollte. Im formalen Aufbau orientierte sich der Entwurf stark am französischen Recht, in der Sache überwiegend am deutschen. Nach einer intensiven Überarbeitung durch japanische Juristen, die sich bis 1889 hinzog, wurden Teile des später als Kyû-shôhô (Altes Handelsgesetz) bezeichneten Gesetzes von 1893 bis 1899 in Kraft gesetzt. Der Rest fiel, ebenso wie das Alte Zivilgesetz, (zunächst) dem sogenannten „Kodifikationsstreit“ (hôten ronsô) zum Opfer, der 1889 mit der Veröffentlichung einer heftigen Kritik an den Entwürfen des Alten Zivil- und des Alten Handelsgesetzes entbrannte. Die Gegner kritisierten vor allem eine mangelnde Berücksichtigung des japanischen Gewohnheitsrechts und Widersprüche zwischen dem französisch geprägten Zivilrecht einerseits und dem stärker am deutschen Recht orientierten Handelsrecht andererseits. Der letztlich aus Machtinteressen der verschiedenen juristischen Schulen geführte Streit eskalierte und emotionalisierte sich zunehmend. Den Höhepunkt bildete die Veröffentlichung einer berühmten Streitschrift des Verfassungsrechtlers Yatsuka Hozumi im Jahr 1891, in welcher der Autor die nach europäischem Vorbild gestalteten subjektiven Rechte im Alten Zivilgesetz als individualistisch und mit konfuzianischen Moralvorstellungen unvereinbar disqualifizierte und das Gesetz als „Mordwaffe“ gegen das japanische Volk brandmarkte.

Vor dem Hintergrund einer zwischenzeitlich erstarkten allgemeinen nationalen Gegenbewegung gegen den zunehmend als Überfremdung empfundenen westlichen Einfluss blieb der Regierung nichts anderes übrig, als die Verabschiedung der beiden Gesetze aufzuschieben und eine erneute Revision in die Wege zu leiten. Dazu setzte sie 1892 zwei Reformkommissionen ein, die ausschließlich mit japanischen Juristen besetzt und direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt waren. Mit der Revision des Zivilrechts wurden die Rechtsgelehrten Nobushige Hozumi, Masaaki Tomii und Kenjirō Ume beauftragt, die in verschiedenen europäischen Ländern studiert hatten. Die Kommission orientierte sich verstärkt, aber wiederum mitnichten exklusiv, an den deutschen Arbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch, vor allem an dem 1887 veröffentlichten Ersten Entwurf des BGB, aber auch der Zweite Entwurf von 1895 konnte noch hinzugezogen werden. Damit war die Epoche des dominierenden französischen Einflusses auf das japanische Zivilrecht zu einem Abschluss gekommen, auch wenn sich in dem Zivilgesetz bis heute zahlreiche Figuren des französischen Rechts finden. Die stärkere Hinwendung zu Deutschland hatte neben politischen (u.a. deutscher Reputationsgewinn durch den Sieg über Frankreich) auch fachliche Gründe: das im Entstehen befindliche BGB galt als moderner als der fast ein Jahrhundert ältere Code civil. Die sich über mehrere Jahre hinziehende Überarbeitung zielte indes auf die Schaffung eines eigenständigen japanischen Zivilrechts, das zwar von den Defiziten des Boissonadeschen Entwurfes befreit werden sollte, ohne jedoch die französischen Wurzeln zu verneinen oder zu einer Kopie des deutschen BGB zu werden. Dies gelang den drei Reformern. Das novellierte Gesetz, das auch als Meiji-Zivilgesetz bezeichnet wird, und insbesondere dessen vermögensrechtliche Teile wurden von Anfang an zutreffend als die Frucht einer intensiven Rechtsvergleichung beurteilt, die zugleich auch auf japanische Traditionen Rücksicht nahm. Die Fundamentalkritik konservativer Kreise in Japan an der Schaffung subjektiver Rechte blieb indes unbeachtet.

In Abkehr von dem Institutionensystem (Institutionenlehrbücher), welches das alte Zivilgesetz kennzeichnete, erhielt das novellierte Gesetz nach dem Vorbild des Pandektensystems eine Unterteilung in fünf Bände, deren Reihenfolge jedoch leicht von der des BGB abweicht: Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Schuldrecht, Familienrecht und Erbrecht. Es ist mit nur rund halb so vielen Vorschriften wesentlich schlanker gefasst als das BGB. Bis heute verfügt das Zivilgesetz über zahlreiche Vorschriften rein deutschrechtlicher Natur, für die es im französischen Recht keine Entsprechung gibt, und umgekehrt. Im Allgemeinen Teil, der sich stärker am deutschen Recht orientiert, stammen etwa die Vorschriften über Rechtsgeschäfte, Willenserklärungen oder die Vertretung (Stellvertretung) aus dem BGB, während die Regeln über die Verjährung dem französischen Recht folgen. Das Sachenrecht ist stärker am französischen Recht ausgerichtet und kennt beispielsweise kein Abstraktionsprinzip. Auch die verschiedenen Formen der Vorzugsrechte sind dem französischen Recht entnommen. Das im dritten Buch unter dem Titel „Forderungen“ geregelte Schuldrecht orientiert sich an verschiedenen Rechtsordnungen. Bei der Ausgestaltung des Schadensersatzrechts (Schadensersatz) hat das einschlägige englische Fallrecht eine Rolle gespielt; bei den allgemeinen Vorschriften des Schuldrechts soll das schweizerische Obligationenrecht mit herangezogen worden sein; die Normen zur ungerechtfertigten Bereicherung (Bereicherungsrecht) und zur Geschäftsführung ohne Auftrag ähneln denjenigen des BGB; die Gläubigersurrogation ist in Anlehnung an die französische action oblique konzipiert. In die Regelungen des Kaufvertrages ist japanisches Gewohnheitsrecht eingeflossen.

Die ersten drei Bücher traten im Jahr 1896 in Kraft. Die Überarbeitung des in besonderem Maße von japanischer Tradition geprägten Familien- und Erbrechts zog sich weitere zwei Jahre bis 1898 hin. Stärker als in den vermögensrechtlichen Teilen wurde hier den Forderungen der Traditionalisten nach Wahrung der konfuzianischen Ethik Rechnung getragen. Das bis 1947 im Zivilgesetz verankerte Familienkonzept in Form des sogenannten „Haussystems“ spiegelte – in gewissem Widerspruch zu den im übrigen anerkannten subjektiven Rechten – wesentliche Elemente der konfuzianischen Familienethik der Samurai-Klasse mit ihren Herrschaftsbeziehungen und Gehorsamspflichten wider. Hier zeigte sich ein Vorteil des Pandektensystems: die einzelnen Bücher des Meiji-Zivilgesetzes konnten in Teilen westlichen Vorbildern folgen, in Teilen japanische Traditionen bewahren. Über das rezipierte europäische Recht hat zugleich auch das römische Recht Eingang in das japanische Zivilrecht gefunden. Die Ergebnisse des römischen Rechtsdenkens lassen sich bis heute an zahlreichen Stellen quer durch das gesamte Zivilgesetz ausmachen.

Die 1892 eingesetzte Kommission zur Überarbeitung des Handelsgesetzes (Handelsrecht) bestand ebenfalls aus drei japanischen Rechtswissenschaftlern, nämlich Keijirô Okano, Yoshi Tabe und – federführend – Kenjirô Ume, der auch an der Überarbeitung des Zivilgesetzes mitwirkte. Die Überarbeitung lehnte sich noch stärker als die ursprüngliche Fassung an das ADHG von 1861 an und berücksichtigte daneben auch die Aktiennovelle von 1871 in der revidierten Form von 1884, ließ aber erstaunlicherweise das moderne Handelsgesetzbuch von 1897 weitestgehend außer acht. Dies geschah zum einen aus Zeitnot. Zum anderen wurde der Verzicht mit der Überlegung begründet, dass das deutsche HGB zu modern für die noch nicht so weit entwickelte japanische Wirtschaft sei. Das novellierte Handelsgesetz trat im Jahr 1899 in Kraft und hatte ungeachtet verschiedener Teilreformen (1911, 1938, 1950 und passim) im Kern unverändert bis zur grundlegenden Novellierung des Jahres 2005 Bestand, in deren Zuge das Gesellschaftsrecht in ein neu geschaffenes Gesellschaftsgesetz (Kaisha-) ausgegliedert wurde. Mit dem Inkrafttreten des Handelsgesetzes war die Phase der Gesetzesrezeptionen weitgehend abgeschlossen. Es folgte eine Phase intensiver Theorienrezeption (Rezeption).

3. Die Weiterentwicklung des modernen japanischen Privatrechts

Im Gegensatz zu der aus verschiedenen Quellen gespeisten Gesetzesrezeption war die nach dem Inkrafttreten des Zivilgesetzes einsetzende und bis in die frühen 1920er Jahre dauernde Theorienrezeption beinahe ausschließlich auf die deutsche Rechtsdogmatik, namentlich deren Begriffsjurisprudenz, fokussiert. Diese wurde fast exklusiv für die begriffliche und systematische Ordnung und Interpretation des Zivilgesetzes herangezogen. Auf dessen entstehungsgeschichtlich bedingte institutionelle Vielfalt und die unterschiedlichen Ursprünge der einzelnen Normen wurde hingegen kaum Rücksicht genommen, was zu Brüchen zwischen Norm und Theorie führte. Zugleich wurden Rechtsfiguren, welche die Lehre in Deutschland entwickelt hatte, wie etwa die Figur der „positiven Vertragsverletzung“, in das japanische Zivilrecht eingeführt. In jener Zeit entstand das Schlagwort, dass alles, was nicht deutsch sei, kein Recht in Japan sei. Auch wenn die Intensität der Hinwendung ab Mitte der 1920er Jahre nachließ und zunehmend kritische Stimmen laut wurden, dauerte die Vorherrschaft der deutschen Rechtstheorie im innerjapanischen Diskurs noch bis in die 1940er Jahre hinein.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges leiteten die Alliierten Besatzungsmächte unter Federführung der USA die „Demokratisierung“ Japans ein, in deren Zuge die Verfassung und weite Teile des Wirtschaftsrechts nach US-amerikanischem Vorbild neu gestaltet wurden. Gleiches gilt für das Gerichtswesen. Auch im Zivilrecht kam es zu Reformen. Das Familien- und das Erbrecht wurden in den Jahren 1946/47 – gegen erhebliche Widerstände der Traditionalisten – entsprechend dem von den Alliierten formulierten Verfassungsauftrag von Grund auf neu konzipiert. Das konfuzianisch-feudalistisch geprägte „Haussystem“ und das damit korrespondierende „Hauserbe“, welche das vierte und fünfte Buch des Meiji-Zivilgesetzes geprägt hatten, wurden durch moderne Regelungen ersetzt, die in einem individualistischen Ansatz die Gleichbehandlung der Geschlechter und der Abkömmlinge gewährleisten. Mit den zahlreichen Reformen während der Besatzungszeit ging zwangsweise eine Hinwendung zum US-amerikanischen Recht einher, die dieses auf Dauer zu einem festen Bestandteil der Rechtsvergleichung in Japan werden ließ.

Seit den 1980er Jahren gewinnt daneben aber zunehmend auch das europäische Gemeinschaftsrecht – und damit wieder europäisches Recht – an Bedeutung für die rechtsvergleichenden Vorarbeiten zu neueren japanischen Gesetzen. Als Beispiele seien die Produkthaftung und der Verbraucherschutz genannt. Japan verabschiedete 1994 ein modernes Produkthaftungsgesetz (Seizôbutsu sekinin-hô). Das Gesetz orientiert sich in seinen materiellen Regelungen maßgeblich an den in der europäischen Produkthaftungsrichtlinie von 1985 gesetzten Haftungsmaßstäben. Das einschlägige US-amerikanische Recht hat demgegenüber nur eine nachrangige Rolle gespielt, was für eine wichtige neuere Regelungsmaterie die verbreitete Behauptung einer durchgängigen „Amerikanisierung“ des heutigen japanischen Rechts widerlegt. Ähnliches gilt für das im Jahr 2000 verabschiedete Gesetz über Verbraucherverträge (Shôhisha keiyaku-hô). Die Vorarbeiten zu diesem Gesetzt begannen im Jahr 1997 wiederum auf rechtsvergleichender Grundlage. Erneut standen besonders die Regelungen in den USA und in Europa, hier die europäische Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen von 1993 (RL 93/13), im Mittelpunkt des Interesses. Auch wenn das japanische Gesetz zunächst einmal die einschlägige heimische Rechtsprechung aufgreift, finden sich daneben – etwa gleichgewichtig – charakteristische Regelungen sowohl des amerikanischen als auch des europäischen Rechts.

Literatur

Zentaro Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, 1970; Guntram Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, 1990; Petra Schmidt, Die Entwicklung des japanischen Erbrechts nach dem Zweiten Weltkrieg, 1993; Paul-Christian Schenck, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens, 1997; Seiji Ikeda, Yasuhiro Okuda, Japanisches Verbraucherschutzrecht und Einflüsse des europäischen Rechts, Zeitschrift für Japanisches Recht 14 (2002) 113 ff.; Rolf Knütel, Shigeo Nishimura (Hg.), Hundert Jahre Japanisches Zivilgesetzbuch, 2004; Luke R. Nottage, Product Safety and Liability Law in Japan, 2004; Harald Baum, Eiji Takahashi, Commercial and Corporate Law in Japan: Legal and Economic Developments after 1868, in: Wilhelm Röhl (Hg.), A History of Law in Japan since 1868, 2005, 330 ff.; Ronald Frank, Civil Code: General Provisions, in: Wilhelm Röhl (Hg.), A History of Law in Japan since 1868, 2005, 166 ff.; Kunihiro Nakata, Das japanische Vertragsrecht unter dem Einfluß des europäischen und des deutschen Privatrechts, Zeitschrift für Japanisches Recht 24 (2007) 161 ff.; Zentaro Kitagawa, Karl Riesenhuber (Hg.), The Identity of German and Japanese Civil Law in Comparative Perspective, 2007.

Abgerufen von Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins japanische Recht – HWB-EuP 2009 am 11. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).