Vertragsfreiheit

Aus HWB-EuP 2009

von Hannes Unberath

1. Gegenstand und Zweck

Privatautonomie ist „die Befugnis, innerhalb der Grenzen des dispositiven Rechts die privaten Angelegenheiten im Wege des Rechtsgeschäfts zu regeln“ (Motive). Die Vertragsfreiheit als zentrales Element der Privatautonomie folgt aus der Funktion des Vertrages: Die staatlich sanktionierte Bindung an den Vertrag eröffnet die Möglichkeit der Kooperation durch den Austausch von Leistungen zwischen Fremden. Zu welchen Leistungen und wem gegenüber eine solche Selbstbindung erfolgt, entscheiden die Privatrechtssubjekte. Legte der Staat hingegen die Parteien (Abschlussfreiheit) und mittels zwingenden Rechts (ius cogens) den Inhalt des Schuldverhältnisses (Inhaltsfreiheit) fest, würde nicht nur die Vertragsfreiheit aufgehoben, was nach verfassungsrechtlicher Dogmatik der Institutsgarantie der Vertragsfreiheit zuwider liefe, vielmehr könnte schon nicht mehr von einem „Vertrag“ gesprochen werden. Wenn gleichwohl oft zu lesen ist, die Geschichte der Vertragsfreiheit sei die Geschichte ihrer Einschränkung, muss zugleich an ein bekanntes Zitat Sir Henry Maines erinnert werden, dass die Entwicklung von primitiven Gesellschaftsformen zum klassischen römischen Recht die Entwicklung from status to contract war.

Strukturelle Normen, die vom Wesen des Vertrages abgeleitet werden können, sind von Eingriffen in die Vertragsfreiheit zu unterscheiden, die vertragsexterne, aus der Rechtsordnung im übrigen gewonnene Maßstäbe an den Vertrag anlegen. Zurechnungsnormen, die die Voraussetzungen formulieren, unter denen Gerichte die Erklärungen der Parteien, insbesondere den Vertragsschluss, als „freiwillig“, also selbstverantwortet bewerten, enthalten die Bedingungen der Möglichkeit eines Vertrages und können daher wiederum nicht selbst vertraglich determiniert werden. Beispiele sind das Erfordernis der Geschäftsfähigkeit und die Regeln über den Irrtum. Welchen Grad an Selbstverantwortung eine Person im Rechtsverkehr aufbringen muss und wie sie näher zu bestimmen ist, berührt die Fundamente der Privatrechtsordnung und ist Gegenstand grundsätzlicher Kontroversen. Zwar erheben die Vertreter der rivalisierenden Schulen wechselseitig den Vorwurf, die jeweils andere Position verkenne die Prämissen der Privatautonomie, gemeinsames Ziel der Theorien ist jedoch Verwirklichung, nicht Aufhebung der Vertragsfreiheit. Keine Schranken sind ferner alle Regeln, die die Bindung an den Vertrag verwirklichen, etwa die Anordnung von Schadensersatz bei einer Vertragsverletzung. Die zwangsweise Durchsetzung des aus dem Vertrag erwachsenden subjektiven Rechts ist der Vertragsfreiheit nicht hinderlich, sondern dieser immanent: Das Wesen des Rechtsgeschäfts ist ein sich betätigender Wille des Individuums, den die Rechtsordnung dadurch anerkennt, dass sie die gewollte rechtliche Gestaltung „in der Rechtswelt verwirklicht“ (Motive). Ebenfalls bereits prinzipiell keine externe Einschränkung der Vertragsfreiheit ist die Existenz dispositiven Rechts. Weil Vertragsparteien unter realen Bedingungen ihren Willen stets lückenhaft artikulieren, bedarf es ergänzenden Rechts, das, da es die Intention der Parteien nur vervollständigen aber nicht derogieren soll, dispositiv sein muss. Idealtypisches Beispiel ist § 269 Abs. 1 BGB.

Dagegen wird die Vertragsfreiheit aufgrund externer Erwägungen eingeschränkt, wenn Verträgen die Anerkennung versagt wird, die von der Rechtsordnung missbilligte Zwecke verfolgen, etwa weil sie auf die Begehung einer Straftat gerichtet sind. Die Unwirksamkeit folgt aus dem Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Einschränkungen der Vertragsfreiheit, mit denen ein Regelungsziel verfolgt wird, das nicht der Verwirklichung der Intention der Parteien und auch nicht der Verhinderung missbilligter Zwecke dient, bedürfen als intensivste Form des externen Eingriffs stets besonderer Rechtfertigung. Paradigmatisch sind solche Normen, die mittels zwingenden Rechts den Inhalt der Verträge bestimmen, etwa die Höhe des Entgelts festlegen, das Ende von Dauerschuldverhältnissen regulieren, oder Bedingungen der Wahl des Vertragspartners formulieren, wie etwa die Regelungen zum Schutz gegen Diskriminierung (Diskriminierungsverbot im allgemeinen Vertragsrecht).

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

a) Wirtschaftsordnung

Sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen der Ausübung der Vertragsfreiheit als auch hinsichtlich externer Einschränkungen der Vertragsfreiheit hat im Laufe des 20. Jahrhunderts in den meisten westeuropäischen Staaten und in der Europäischen Union eine restriktive, die Privatrechtssubjekte zu ihrem Schutz bevormundende Sichtweise (Paternalismus) die Oberhand gewonnen. Dies ist bemerkenswert, weil in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts einerseits die europäische Wirtschaftsverfassung mit Wettbewerbsrecht und Grundfreiheiten auch und gerade auf europäischer Ebene die faktischen Rahmenbedingungen des Marktes verbessert hat, und andererseits mit dem Ausbau des Sozialstaats die Zahl und Intensität materieller Notlagen, die die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen, faktisch stark gemindert wurde. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa erlebt die Vertragsfreiheit allerdings gegenwärtig wieder eine neue Blütezeit.

Das Wettbewerbsrecht beruht zwar auf materiellen Kriterien, da es danach trachtet, die realen Bedingungen der Vertragsfreiheit im Sinne von realen Auswahlmöglichkeiten zu verbessern und in das Marktgeschehen mit einer Vielzahl von Maßnahmen, insb. zur Verhinderung von Monopolen, einzugreifen, jedoch ist der ordnungspolitische Rahmen des Marktes ohne die Autarkie des darin wirkenden, von privater Initiative getragenen Vertragsrechts sinn- und zwecklos. Die Beschränkung auf die möglichst unverfälschte Durchsetzung des Parteiwillens ist nicht zuletzt auch eine Forderung der ökonomischen Analyse, für die der Vertrag in einer idealen Welt ohne Transaktionskosten und externe Effekte Ausgangs- und Endpunkt effizienter Güterallokation ist.

b) Prozedurale und materielle Ansätze

Hinsichtlich der Maßstäbe der Verantwortlichkeit bei Vertragsschluss wird traditionell zwischen prozeduralen und materiellen Theorien unterschieden. Als „prozedural gerecht“ wird dabei ein Vertrag angesehen, wenn die vertragschließende Person grundsätzlich zu rechtsgeschäftlichem Handeln in der Lage ist und keine den Prozess des Vertragsschlusses störenden Faktoren vorgelegen haben. Als solche die Freiwilligkeit ausschließenden Gründe gelten klassischerweise Zwang und Irrtum. Materielle Ansätze stellen demgegenüber auf den Inhalt des Vertrages ab. Ein Beispiel ist die laesio enormis des gemeinen Rechts (ius commune), heute etwa § 934 ABGB, wonach eine Unterschreitung des „wahren“ Wertes um die Hälfte als solche bereits zur Unwirksamkeit führen kann. Bei diesem Ansatz wird ein iustum pretium nicht von den Parteien selbst bestimmt, sondern vom Staat, womit letztlich externe Schranken gesetzt werden. Die vielzitierte These Walter Schmidt-Rimplers von der „Richtigkeitsgewähr“ des Vertrages ist Teil einer materiellen Theorie, die zwar zunächst an prozedurale Elemente anknüpft, den Vertrag als bloßes Ordnungsmittel aber unter den Vorbehalt der externen Kontrolle des Ergebnisses stellt. Nach wohl auch rechtsvergleichend geteiltem heutigem Verständnis bedürfen demgegenüber zwar der Vertrag wie das Eigentum notwendig der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, doch sind deren Regeln wiederum am Ideal der Vertragsfreiheit und damit der Befugnis zur prinzipiell eigenverantwortlichen Gestaltung der Rechtsverhältnisse zu messen.

Die ursprüngliche Position des deutschen und französischen Rechts betont die prozeduralen Maßstäbe, die jedoch gelegentlich mit materiellen Kriterien kombiniert werden. Formal-prozedurale Elemente sind im englischen Recht heute noch dominant. Das BGB sah neben Regeln der Geschäftsfähigkeit und der Willensmängel Drohung, Täuschung und Irrtum keine sonstigen, die Wirksamkeit der Willenserklärung einschränkenden Bedingungen vor (vgl. im französischen Recht erreur, Art. 1110, violence, Art. 1112, dol, Art. 1116 des Code civil). Ein auffälliges Missverhältnis der Leistungen reichte nach § 138 Abs. 2 BGB zur Unwirksamkeit nur aus, wenn zudem die Zwangslage oder die Unfähigkeit der benachteiligten Partei „ausgebeutet“ wurden (im Ausgangspunkt die Unwirksamkeit wegen lésion ablehnend auch das französische Recht, vgl. Art. 1118 Code civil mit Ausnahmen, etwa Art. 1674 bezüglich Grundstücken). Aufgegeben wurde das Erfordernis eines Willensdefizits auch später nicht, jedoch verlegte die Rechtsprechung den Schwerpunkt auf die materiellen Kriterien, als sie bei „wucherähnlichen“ Rechtsgeschäften dazu überging, bei Vorliegen materiell bestimmter Nachteile prozedurale Mängel zu vermuten (RG 13.3.1936, RGZ 150, 1).

Verhältnismäßig früh wurden in Deutschland Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen inhaltlich überprüft (zunächst auf der Grundlage von § 138 BGB sowie Treu und Glauben ohne explizite gesetzliche Ermächtigung, nunmehr Klausel-RL [RL 93/13], §§ 305 ff. BGB). Obwohl sich die Rechtsprechung dabei vom „Gerechtigkeitsgehalt“ des dispositiven Rechts leiten lässt (BGH 17.2.1964, BGHZ 41, 151), beruht der richterliche Eingriff in den Vertrag auf einem im Kern prozeduralen Manko, denn es ist angesichts knapper Verhandlungsressourcen nicht durchweg praktikabel, den Inhalt vorgefertigter Klauseln auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Daneben gab es immer schon extern, gesamtwirtschaftlich motivierte Einschränkungen, etwa den Kontrahierungszwang bei Transportverträgen.

c) Vertragsparität und sozialer Rechtsstaat

Für den Strukturwandel seit dem Ende des 19. Jahrhunderts steht also eine andere Entwicklung, die Ludwig Raiser schon 1958 mit den Worten zusammenfasst, dass das dem BGB zugrunde liegende Leitbild der „freien selbstverantworteten Persönlichkeit“ nicht „unverändert“ übernommen werden könne. In den siebziger Jahren attestierte sodann Ernst A. Kramer liberalem Vertragsdenken eine „Krise“. Diese bereits von zeitgenössischen Kritikern des BGB formulierte Gegenposition zu seinem Prinzip „formal gleicher Freiheit“ (Joachim Rückert) hält vordergründig an der prozeduralen Konzeption des Vertrages fest, bestimmt die Freiwilligkeit des Vertragsschlusses aber nun nicht mehr allein negativ-„formal“, durch die Abwesenheit von Zwang oder Irrtum, sondern verlangt positiv, dass den Vertragsparteien „reale“ Entscheidungsfreiheit zukommt. Begrifflich kommt dies unter anderem in der Forderung nach „Vertragsparität“ zum Ausdruck (so insb. Günther Hönn, der den Ansatz des BAG 31.10.1969, NJW 1970, 1145, aufnimmt; in England steht Patrick Atiyah für eine ähnliche Analyse; dagegen ist Lord Dennings Ansatz einer inequality of bargaining power in Lloyd’s Bank Ltd v. Bundy [1975] 1 QB 326 (CA), isoliert geblieben). Sei die Parität „gestört“, drohe Fremdbestimmung und das Vertragsrecht müsse „kompensierend“ zum Schutz der schwächeren Partei eingreifen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung dürfte mit der sog. „Bürgen-Entscheidung“ des BVerfG vom 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, erreicht worden sein, in der das BVerfG die Zivilgerichte nachdrücklich aufforderte, jeden materiell für eine Seite ungewöhnlich nachteiligen Vertrag daraufhin zu überprüfen, „ob die vereinbarte Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist“. Die Kehrseite des wohlmeinenden Schutzes der „schwächeren“ Partei, wie jedes paternalistischen Ansatzes, ist die Übertragung der Verantwortung auf den Staat und die Einschränkung der Fähigkeit des Einzelnen, insofern rechtsgeschäftlich tätig zu sein.

Dass die Fälle, die Anlass dieser Entwicklung waren und die aus emotionaler Verbundenheit übernommene, ruinöse Bürgschaften naher Angehöriger des Hauptschuldners betrafen, mit Hilfe klassisch-prozeduraler Kategorien erfasst werden können, zeigen die Parallelentscheidungen englischer Gerichte (Royal Bank of Scotland v. Etridge (No. 2)[2001] UKHL 44 (HL)). Auch der auf den Vertragsschluss bezogene Verbraucherschutz (Verbraucher und Verbraucherschutz)), der den Schutz des „kleinen Mannes“ gegen den „großen Konzern“ auf der Stirn zu tragen scheint (so Lord Denning in George Mitchell (Chesterhall) Ltd v. Finney Lock Seeds Ltd [1983] 2 AC 803 (HL)), kann überwiegend als Reaktion auf klassisch prozedurale Mängel des Vertragsschlusses rationalisiert werden, wenn diese Mechanismen auch mit groben Typisierungen operieren. Paradigmatisch dafür steht der Vertragsschluss in einer Haustürsituation, bei dem angenommen wird, dass der „überrumpelte“ Verbraucher in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt war. Auch die vielfältigen Informationspflichten (etwa über den effektiven Jahreszins eines Darlehens, § 492 Abs. 5 S. 5 Nr. 5 BGB) bezwecken einen prozedural einwandfreien Vertragsschluss und sind daher grundsätzlich gleichfalls mit klassischen Zurechnungskriterien vereinbar.

Der Übergang von Regelungen des Vertragsrechts, die die Vertragsfreiheit prozedural ausformen, zur Förderung außerhalb des Vertrages liegender Zwecke unter den Schlagworten der Parität und des „Ethos des sozialen Rechtsstaats“ (Franz Wieacker) ist fließend. Die Tendenz, einzelne Vertragstypen mit präsumtiv „unterlegenen“ Vertragspartnern inhaltlich zwingend auszugestalten (Zwingendes Recht), löst sich bewusst weitgehend vom klassisch-liberalen Vertragsmodell. Die Entwicklung in Deutschland ist typisch auch für andere europäische Länder, insbesondere Frankreich (dirigisme, Code de la consommation von 1992). Praktisch bedeutsam sind die Regelungen des Individualarbeitsrechts sowie des „sozialen“ Mietrechts und einzelne dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnende und zwingend ausgestaltete Vertragstypen (Verbrauchsgüterkauf (Kauf), Verbraucherdarlehen (Darlehen), Pauschalreise (Reisevertrag (Pauschalreisen)) usw.). Waren die Einschränkungen im Wohnraummietrecht zunächst jedenfalls noch durch eine Schieflage des Marktes und Wohnraumnot bedingt, so wurde die Regulierung des Arbeitsvertrages in einer Periode relativ großer Nachfrage nach Arbeitnehmern nach Ende des zweiten Weltkrieges intensiviert. Zwingend ausgestaltet sind dabei einzelne Aspekte (etwa der Urlaub des Arbeitsnehmers, die Modernisierung des Wohnraums), restriktiv reguliert ist aber vor allem die Beendigung dieser Dauerschuldverhältnisse (etwa bezüglich der Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung nach § 1 Abs. 3 KSchG oder dem Erfordernis der Rechtfertigung der ordentlichen Kündigung des Vermieters gemäß § 573 BGB). Darüber hinaus sind bestimmte Typen der Dienstleistung umfassend reguliert, etwa die Vergütung von ärztlicher Behandlung (u.a. Gebührenordnung für Ärzte) oder Rechtsdienstleistungen (RVG). Schließlich ist der Bereich der sog. „Daseinsvorsorge“, in dem der Staat bestimmte wirtschaftlich relevante Leistungen erbringt und damit ein Monopol in Anspruch nimmt, noch ganz überwiegend reguliert, selbst wenn in bestimmten Bereichen, wie etwa Energie und Telekommunikation, die Privatisierung und mit ihr der Wettbewerb eingesetzt hat. In diesen Bereichen ist regelmäßig ein sog. Kontrahierungszwang (als Einschränkung der Abschlussfreiheit) vorgesehen.

Welche verteilungspolitischen und gesamtwirtschaftlichen Effekte durch diese flächendeckenden Eingriffe in die Vertragsfreiheit mittels externer Schranken erzielt werden, ist ebenso umstritten, wie die grundsätzliche Frage, ob der Vertrag aus prinzipieller und ökonomischer Sicht überhaupt ein geeignetes Mittel zur Erzielung distributiver Gerechtigkeit ist. Die Gegenposition fordert dabei nicht notwendig den Abbau des Schutzes des „Schwächeren“, etwa des Arbeitnehmers oder des Mieters, sondern weist diese Aufgabe vielmehr dem Sozialstaat zu. Eine solch strenge Trennung von Privatrecht mit prozeduralem, inhaltlich neutralem Charakter und öffentlichem Recht, dem die Aufgabe zufällt, die faktischen Rahmenbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung zu schaffen, entspricht am ehesten auch der ursprünglichen Konzeption des BGB.

Neben diesen am Marktmechanismus des Vertrages ansetzenden Schutzmechanismen geht eine neuere Tendenz dahin, die Wahl des Vertragspartners sowie die inhaltliche Gestaltung des Vertrages auf ihre Richtigkeit nach einem staatlich vorgebebenen Wertekanon hin zu überprüfen, so insb. im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Geschlechter und den Schutz vor Diskriminierung aufgrund rassischer oder sonstiger Merkmale (Diskriminierungsverbot (allgemein)). Verträge sind danach kein Wert an sich selbst, sondern werthaltig, weil die vertraglich verfolgten Ziele anerkennenswert sind (so dezidiert insb. der perfektionistische Liberalismus des Joseph Raz). Die Kritik hieran stellt nicht die mit dieser Materialisierung des Vertrages verfolgten Ziele als solche in Frage, sondern stellt lediglich die Kompetenz des Staates zur Regelung dieser nach ihrer Auffassung dem Bereich der Tugendlehre zugewiesenen Fragen in Abrede.

3. Europäisches Einheitsrecht

Die Reichweite der Vertragsfreiheit wird in den PECL einerseits und dem DCFR andererseits unterschiedlich interpretiert. Hauptgrund dafür ist das Bestreben des DCFR, nach entsprechender Vorarbeit der sog. Acquis-Gruppe, dem Regelungsansatz des Europäischen Sekundärrechts Rechnung zu tragen, der eine verbraucherschützende Tendenz aufweist. Weil zwingendes Recht im Lichte der Privatautonomie als Anomalie erscheint, ist das Unternehmen, die Vertragsprinzipien dem gegenwärtigen acquis communautaire durch Induktion zu entnehmen, auf Widerspruch gestoßen.

Die PECL (insoweit ähnlich die UNIDROIT PICC) gehen nicht auf externe Schranken (Rechtswidrigkeit, Sittenwidrigkeit) der Vertragsfreiheit ein, bei denen die nationalen Traditionen stark divergieren. Insgesamt beschränken sich die Grundregeln auf die Kernelemente des Vertragsrechts und lassen weitgehend offen, welche der vorgesehenen Regeln überhaupt zwingenden Charakter aufweisen, der somit lediglich aus der Natur der Regelung geschlossen werden kann. Kap. 4 regelt detailliert den Irrtum, die Täuschung und Drohung, das Ausnutzen eines Willensdefizites sowie die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Weitergehende Anforderungen an „reale“ Vertragsparität enthalten die Grundregeln nicht; insbesondere wird die Problematik der „Bürgen-Entscheidung“ mit Hilfe prozeduraler Mittel gelöst (unter Hinweis auf das Ausnutzen der Zwangslage oder Unerfahrenheit des Bürgen). Kap. 8 und 9 beschreiben die Rechtsbehelfe zur Durchsetzung des Vertrages.

Der DCFR nimmt die in den PECL enthaltenen strukturellen Normen des Vertragsrechts weitgehend unverändert auf, ergänzt diese jedoch in wesentlicher Hinsicht. So wird etwa hinsichtlich der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Regelungsansatz der Grundregeln fortgeführt und die im Sekundärrecht vorgesehene Beschränkung auf den Verbraucherschutz aufgegeben, andererseits aber auch die Klausel-RL berücksichtigt und eine Liste regelmäßig unzulässiger Klauseln vorgeschlagen (Art. II.-9:411). Der DCFR greift zudem die den Vertragsschluss betreffenden, prozedural erklärbaren und aus dem Sekundärrecht (wie etwa der Haustürwiderrufs-RL [RL 85/577] ) stammenden Mechanismen des Verbraucherschutzes auf (insb. Informationspflichten, z.B. Art. II.-3:102, und Widerrufsrechte, z.B. Art. II.-5:201). Hinsichtlich externer Schranken wird zum einen erstmals normiert, dass von der Rechtsordnung der EU oder der Mitgliedstaaten missbilligte Zwecke nicht Gegenstand eines Vertrages sein können (Art. II.-7:401). Des Weiteren werden die Vorgaben der Antidiskriminierungsrichtlinien umgesetzt (Art. II.-2:101 ff.). In den Bereichen, in denen der DCFR auf Europäischer Ebene erstmals systematisch die besonderen Vertragsverhältnisse regelt, nimmt er die gleiche die Vertragsfreiheit einschränkende Haltung wie das Sekundärrecht ein. So wird etwa in Art. IV.A.-4:102 der zwingende Charakter der Regelung der Rechtsbehelfe bei Schlechtleistung, wie sie die Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) vorsieht, repliziert und sogar noch auf den Schadensersatz ausgedehnt. Aber auch in Bereichen, in denen das Sekundärrecht keine zwingende Regelung kennt, bevorzugt der DCFR diese wiederholt (z.B. Art. IV.C.-8:103). Der DCFR spiegelt damit die restriktive Tendenz des Sekundärrechts wider, die in der Rechtsprechung des EuGH meist noch verstärkt wird.

Das Europarecht hat jedoch seit seinen Anfängen insgesamt überwiegend deregulierend gewirkt, weil der EuGH früh dazu übergegangen war, nationale Beschränkungen des Handels mit Waren und Dienstleistungen, des Kapitalverkehrs und der Freizügigkeit unmittelbar an den Grundfreiheiten des EG-Vertrages zu messen. Externe Schranken der Vertragsfreiheit bedürfen somit, sofern sie den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr signifikant beeinflussen, der Rechtfertigung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Es sind damit zwei gegenläufige Effekte innerhalb des europäischen Rechts zu beobachten: einerseits Restriktion und paternalistischer Verbraucherschutz durch Rechtsakte der EG, andererseits das Leitprinzip freien Handels, sofern es um nationale Beschränkungen der Ausübung der Vertragsfreiheit geht.

Literatur

Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftpolitik, 2. Aufl. 1959, 276 ff.; Franz Wieacker, Das Bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, 1960, 1 ff.; Arthur T. von Mehren, A General View of Contract, in: IECL VII/1, Kap. 1-64 ff, 1980; Patrick S. Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract, 1985; Wolfram Höfling, Vertragsfreiheit, 1991; Werner Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, 6 ff.; Michael J. Treblicock, The Limits of Freedom of Contract, 1993; Joachim Rückert, Vor § 1, Rn. 43 ff., 72 ff., in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. I, 2003; François Terré, Philippe Simler, Yves Lequette, Les obligations, 9. Aufl. 2005, 37 ff., 379 ff.; Nils Jansen, Reinhard Zimmermann, Grundregeln des bestehenden Gemeinschaftsprivatrechts?, Juristenzeitung 2007, 1113 ff.

Abgerufen von Vertragsfreiheit – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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