Geschäftspraktiken, irreführende

Aus HWB-EuP 2009
Version vom 23. November 2021, 18:05 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (→‎Literatur)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

von Olaf Sosnitza

1. Begriffsbestimmung

Bei irreführenden Geschäftspraktiken bzw. bei der irreführenden Werbung handelt es sich um ein Element unlauteren Wettbewerbs. Eine Definition des Begriffes der irreführenden Werbung findet sich in Art. 2(b) der Irreführungs-RL (RL 2006/‌114). Um eine irreführende Werbung handelt es sich danach bei jeder Werbung, „die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist“. „Werbung“ ist gemäß Art 2(a) der Irreführungs-RL „jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern“.

In der Unlautere Geschäftspraktiken-RL (RL 2005/‌29, UGP-RL) wird der allgemeine Begriff der „irreführenden Geschäftspraxis“ verwendet, wobei dieser nach Art. 2(d) UGP-RL auch die Werbung einschließt. Gemäß Art. 6(1) UGP-RL gilt eine Geschäftspraxis als irreführend, wenn sie falsche Angaben enthält und somit unwahr ist oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf bestimmte Punkte, welche in der Richtlinie abschließend aufgezählt werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte.

2. Rechtsentwicklung

Auf der Revisionskonferenz in Lissabon im Jahr 1958 wurde in Art. 10bis der PVÜ, der die Verbandsländer zum wirksamen Schutz gegen unlauteren Wettbewerb verpflichtet, in Abs. 3 Nr. 3 die Irreführung als Beispieltatbestand unlauteren Wettbewerbs eingefügt. Zu untersagen sind demnach „Angaben oder Behauptungen, deren Verwendung im geschäftlichen Verkehr geeignet ist, das Publikum über die Beschaffenheit, die Art der Herstellung, die wesentlichen Eigenschaften, die Brauchbarkeit oder die Menge der Waren irrezuführen“. Art. 10bis PVÜ bildete auch die Grundlage für die Modellvorschriften der World Intellectual Property Organization zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 1996, welche in Art. 4 ebenfalls die Unlauterkeit der Irreführung regeln.

Die Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union führten zum Erlass der ursprünglichen Irreführungs-RL (RL 84/‌450). Die ursprüngliche Irreführungsrichtlinie wurde später durch Einbeziehung der vergleichenden Werbung durch die RL 97/‌55 modifiziert und schließlich in der RL 2006/‌114 neu kodifiziert. Ursprünglich galt die Irreführungsrichtlinie sowohl für die Irreführung von Gewerbetreibenden als auch von Verbrauchern (Verbraucher und Verbraucherschutz). Nunmehr gilt für irreführende Geschäftspraktiken im Verhältnis von Unternehmen zu Verbrauchern (b2c) ausschließlich die UGP-RL (vgl. Art. 3(1) UGP-RL).

Das Verbot der irreführenden Werbung dient sowohl dem Schutz der Verbraucher als auch der Gewerbetreibenden, wobei letztere nicht nur im Vertikalverhältnis als angesprochener Verkehrskreis der Marktgegenseite, sondern auch im Horizontalverhältnis als Mitbewerber vor den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen irreführender Werbung geschützt werden sollen. Zugleich dient das Irreführungsverbot damit auch dem Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. Die verschiedenen Schutzzwecke sind insbesondere im sekundären Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund des Anwendungsbereichs der einschlägigen Richtlinien von Bedeutung, da durch die Irreführungs-RL nur noch Gewerbetreibende vor Irreführung geschützt werden (b2b), während der Verbraucherschutz durch die UGP-RL geregelt wird.

Neben den allgemeinen Irreführungstatbeständen existieren im sekundären Gemeinschaftsrecht zahlreiche Spezialvorschriften zur Irreführung, z.B. die Kosmetik-RL (RL 76/‌768) oder die Etikettierungs-RL (RL 2000/‌13). Diese sektoral begrenzten Regelungen schließen eine Anwendung der allgemeinen Irreführungsbestimmungen jedoch nicht aus.

3. Einzelausgestaltung

Die UGP-RL enthält in Art. 6(1) und (2) UGP-RL einen umfassenden Katalog von Verhaltensweisen, die irreführende Geschäftspraktiken darstellen. Hierzu gehören gemäß Art. 6(1) UGP-RL Täuschungen über (a) das Vorhandensein oder die Art des Produkts, (b) seine wesentlichen Merkmale, (c) Vertriebspraktiken, (d) den Preis und Preisberechnung, (e) Leistungen und Zusatzleistungen, (f) die Person, die Eigenschaften oder die Rechte des Gewerbetreibenden oder seines Vertreters und (g) die Rechte des Verbrauchers oder die Risiken, denen er sich möglicherweise aussetzt. Zudem gelten gemäß Art. 6(2) UGP-RL im Einzelfall Geschäftspraktiken als irreführend, wenn sie einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen oder zu veranlassen geeignet sind, die er ansonsten nicht getroffen hätte, und entweder eine Verwechslungsgefahr mit einem Konkurrenzprodukt, ‑warenzeichen, ‑namen oder anderem Kennzeichen begründen oder der Gewerbetreibende Verpflichtungen eines von ihm eingegangenen Verhaltenskodexes nicht einhält.

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist die irreführende Werbung in unterschiedlicher Form geregelt. Sowohl die Irreführungs-RL als auch die UGP-RL gewähren den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Sanktionierung der irreführenden Werbung einen Umsetzungsspielraum. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, „geeignete und wirksame Mittel zur Bekämpfung“ der irreführenden Werbung bzw. Geschäftspraktiken bereitzustellen (Art. 5(1) Irreführungs-RL, Art. 11(1) UGP-RL). Dabei steht es ihnen frei, Gerichte oder Verwaltungsbehörden mit der Rechtsdurchsetzung zu betrauen. Vielfach unterliegt die Sanktionierung irreführender Werbung den Zivil- und Strafgerichten der Mitgliedstaaten. In Deutschland beispielsweise enthalten die §§ 12 ff. UWG Verfahrensvorschriften für die zivilgerichtliche Anspruchsdurchsetzung. § 16 Abs. 1 UWG regelt daneben die strafbare Irreführung, wobei die Strafverfolgungsbehörden auf Grundlage der Strafprozessordnung von Amts wegen tätig werden. In Großbritannien können Verbraucher aufgrund der in Umsetzung der UGP-RL erlassenen Consumer Protection from Unfair Trading Regulations 2008 die Sanktionierung von irreführender Werbung auf strafrechtlicher Ebene durch das Office of Fair Trading veranlassen. Mitbewerber können sowohl die strafrechtliche Verfolgung (aufgrund der Business Protection from Misleading Marketing Regulations 2008) durch das Office of Fair Trading herbeiführen als auch zivilrechtlich gegen irreführende Werbung vorgehen. Zudem wurde durch den British Code of Advertising, Sales Promotion and Direct Marketing ein leistungsfähiges System der Selbstkontrolle installiert. In Italien obliegt der Schutz vor irreführender Werbung einer staatlichen Verwaltungsbehörde (Wettbewerbsbehörde), der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato. In Finnland werden Wettbewerbsverstöße gegenüber Verbrauchern vom Konsumentenombudsmann verfolgt; Gewerbetreibende sind auf Privatklagen vor dem Marktordnungsgericht angewiesen.

Irreführende Werbung setzt das tatsächliche Eintreten einer Täuschung des Verkehrs nicht voraus. Es genügt vielmehr, dass eine Angabe geeignet ist, die angesprochenen Verkehrskreise irrezuführen. Voraussetzung der Täuschungseignung ist, dass die zu beurteilende Werbeangabe einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Reine Werturteile und bloße Werbeappelle können nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden und fallen somit nicht unter das Irreführungsverbot.

Bei der Frage, ob eine Werbung zur Täuschung geeignet und damit irreführend ist, kommt der Person des Umworbenen entscheidende Bedeutung zu. Der Europäische Gerichtshof hat den Irreführungsbegriff durch Herausbildung eines normativen Verbraucherleitbildes – Rs. C-210/‌96 – Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4681 und Rs. C-220/‌98 – Lifting-Creme, Slg. 2000, I-117 – geprägt. Dieses Verbraucherleitbild wurde aus einer rechtsvergleichenden Betrachtung gewonnen, insbesondere unter Heranziehung der französischen und britischen Auslegung der Irreführungstatbestände. Der Bundesgerichtshof ging demgegenüber früher vom Leitbild des flüchtigen, unkritischen und oberflächlichen Verbrauchers aus; diese Auffassung hat die deutsche Rechtsprechung jedoch mittlerweile aufgegeben und sich dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Verbraucherleitbild angeschlossen.

Maßgeblich für die Beurteilung der Täuschungseignung einer Werbung ist die Sichtweise eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers. Gegenstand der Beurteilung ist das Verständnis eines fiktiven, typischen Verbrauchers von der Werbeangabe (vgl. Erwägungsgrund 18 UGP-RL). Dabei handelt es sich um ein normatives Leitbild, denn entscheidend ist nicht das tatsächliche Verständnis des angesprochenen Verkehrs, sondern das von einer fiktiven Referenzperson zu erwartende Verständnis. Eine Werbung ist erst dann irreführend, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles (EuGH Rs. C-220/‌98 – Lifting-Creme, Slg. 2000, I-117) zur Täuschung des Durchschnittsverbrauchers geeignet ist. Empirische Verbraucherbefragungen und daraus ermittelte Irreführungsquoten können auf Basis des normativen Verbraucherleitbildes nur eines von mehreren Kriterien sein, anhand derer die Täuschungseignung zu beurteilen ist. Tatsächliche Irreführungen oder Täuschungen (z.B. einzelner Minderheiten oder flüchtiger, uninteressierter Verbraucher) sind hinzunehmen, soweit ihnen die jeweilige Referenzperson nach Ansicht der zuständigen Gerichte oder Behörden nicht unterliegen würde. In diesem Bereich tritt der Irreführungsschutz im Rahmen einer Interessenabwägung hinter die Warenverkehrsfreiheit bzw. die Dienstleistungsfreiheit und das durch Art. 10 EMRK gewährleistete Recht zur freien Meinungsäußerung der Werbenden zurück.

Bei der Prüfung der Irreführungsgefahr ist zunächst der angesprochene Verkehrskreis zu bestimmen. Dabei handelt es sich um die Personengruppe, an die sich die Werbung richtet und deren Verhalten sie beeinflussen soll. In einem zweiten Schritt ist nach der Vorstellung zu fragen, welche die Werbung bei einer Durchschnittsperson dieses Personenkreises hervorruft. Verfügt der angesprochene Verkehrskreis über spezielle Fähigkeiten oder Kenntnisse, so sind diese auch für das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers zu berücksichtigen. Gleiches gilt für etwaige soziale, sprachliche, kulturelle oder nationale Besonderheiten des Verkehrskreises. Zu beachten ist auch, dass die Aufmerksamkeit des Referenzverbrauchers in Abhängigkeit von den betroffenen Waren und Dienstleistungen variiert (EuGH Rs. C-342/‌97 – Lloyd, Slg. 1999, I-3819). Einer Werbung für geringwertige Bedarfsgegenstände wird regelmäßig geringere Aufmerksamkeit zuteil als dies bei höherwertigen und teureren Waren bzw. Dienstleistungen der Fall ist. In einem weiteren Schritt muss die Übereinstimmung des ermittelten Verständnisses mit der Wirklichkeit überprüft werden. Sofern die Auffassung der Durchschnittsperson von der Realität abweicht, ist schließlich zu fragen, ob diese Irreführung relevant ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Fehlvorstellung auf Faktoren bezieht, die geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten der Empfänger der Werbebotschaft tatsächlich zu beeinflussen. Die Irreführung über Umstände, die für die Entscheidung der Abnehmer gänzlich irrelevant sind, ist daher unbeachtlich.

Das Referenzverbraucherleitbild des EuGH wird in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt. Teilweise wird von einem generell flüchtigen, unterdurchschnittlichen Verbraucher ausgegangen, der der Werbung nahezu ohne eigene Sachkunde entgegentritt. Auf der anderen Seite wird in manchen Ländern auch auf das Verständnis eines höchst kritischen und skeptischen Verbrauchers mit umfassender eigener Sachkunde abgestellt. Zwischen diesen beiden Extrempositionen existieren weitere Verbraucherleitbilder, mit jeweils abgestuften Anforderungen an die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Durchschnittsverbrauchers.

Richtet sich die Werbung nicht an Verbraucher, sondern an Gewerbetreibende, so ist auf deren Sichtweise als angesprochener Verkehrskreis abzustellen, wobei auch hier ein dem Verbraucherleitbild entsprechendes normatives Unternehmerleitbild gilt. Allerdings kann bei Fachkreisen im Allgemeinen ein höherer Grad an Informiertheit, Aufmerksamkeit und Verständigkeit zu Grunde gelegt werden als beim Verbraucher, weil Vorbildung, Erfahrung und Kenntnis der Verhältnisse auf dem konkreten Markt den Gewerbetreibenden eine genauere Prüfung der an sie gerichteten Informationen ermöglichen und erleichtern.

Literatur

Tobias Lettl, Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irreführender Werbung in Europa, 2004; Christian Twigg-Flesner, Deborah Parry, Geraint Howells, Annette Nordhausen, An Analysis of the Application and Scope of the Unfair Commercial Practices Directive: A Report for the Department of Trade and Industry, 18 May 2005, veröffentlicht unter http://www.berr.gov.uk/‌files/‌file32095.pdf (zuletzt abgerufen am 7.7.2009); Giuseppe Abbamonte, The Unfair Commercial Practices Directive, Columbia Journal of European Law 2006, 695 ff; Frauke Henning-Bodewig, Unfair Competition Law. European Union and Member States, 2006; Geraint Howells, Hans-Wolfgang Micklitz, Thomas Wilhelmsson, European Fair Trading Law: The Unfair Commercial Practices Directive, 2006; Hans-Wolfgang Micklitz, in: Peter Heermann, Günter Hirsch (Hg.), Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd. 1, 2006, EG F; Jules Stuyck, Evelyne Terryn, Tom van Dyck, Confidence through Fairness?, Common Market Law Review 43 (2006) 107 ff.; Roger W. de Vrey, Towards a European Unfair Competition Law. A Clash Between Legal Families, 2006; Reto M. Hilty, Frauke Henning-Bodewig (Hg.), Law Against Unfair Competition: Towards a New Paradigm in Europe?, 2007; Henrik Saugmandsgaard, The EU Consumer Policy Framework: Mission Nearly Accomplished?, in: Liber amicorum en l’honneur de Bo Vesterdorf, 2007; Helmut Köhler, Einl. UWG, Kap. 4 und §§ 8 ff. UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm (Hg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27. Aufl. 2009.

Abgerufen von Geschäftspraktiken, irreführende – HWB-EuP 2009 am 15. Oktober 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).