Aufsichtsrat/Board/Vorstand und Auslegung des Gemeinschaftsrechts: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Klaus J. Hopt]]''
von ''[[Hannes Rösler]]''
== 1. Leitung und Kontrolle durch Vorstand und Aufsichtsrat oder durch den ''Board''? ==
== 1. Gegenstand und Zweck ==
Leitung und Kontrolle in der Aktiengesellschaft werden nicht mehr unmittelbar durch die Aktionäre, sondern für sie durch Organe der Aktiengesellschaft wahrgenommen. Dabei haben sich international zwei Systeme herausgebildet: das ''board''-System, das einstufig ist (''one tier'') und das zweistufige System von Vorstand und Aufsichtsrat (''two tier''). In Deutschland hat das letztere System mit einer grundsätzlichen, zwingenden Aufgabenteilung zwischen einem Leitungs- und einem Kontrollorgan eine weit über hundertjährige Geschichte und ist bei keiner Aktienrechtsreform ernsthaft in Frage gestellt worden. Trotzdem ist dieses sogenannte ''two tier''-System im internationalen Vergleich eher ein Sonderweg. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis, aber auch in der Schweiz und vielen anderen Ländern herrscht das ''one tier''-System mit nur einem einzigen Unternehmensleitungs- und ‑kontrollorgan, dem ''board''. Innerhalb desselben wird allerdings heutzutage häufig zwischen geschäftsführenden und nicht geschäftsführenden bzw., weitergehend, unabhängigen ''directors'' getrennt. Wenn dann noch zusätzlich zwischen dem Amt des ''chief executive'' und des ''chairman of the board ''getrennt wird und auch kein unmittelbarer Wechsel von dem ersteren in das letztere stattfindet bzw. stattfinden soll und schließlich sogar unter den ''independent directors'' ein ''lead director'' gewählt wird, dann findet sich auch im einstufigen System eine Separierung von Leitung und Kontrolle.
Das primäre und sekundäre Unionsrecht enthält keine allgemeinen Bestimmungen zu seiner Auslegung, wie sie sich in Art. 7-9 CISG, Art. 5:101-5:107 PECL und Art. 4.1-4.8 UNIDROIT PICC, aber auch in Art. 31-33 WVK ([[Auslegung des internationalen Einheitsrechts]]) finden. Stattdessen wurde der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] (EuGH) als unabhängiges überstaatliches Gericht geschaffen, das ausschließlich zur Auslegung des Gemeinschafts- und Unionsrechts berufen ist (Art. 220 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007)). Das politikferne Organ stellt die Einheit, Kontinuität und Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts sicher. Vor allem auf dem Gebiet des verfassungsgleichen Rechts wurde der EuGH mit seinem Auslegungsmonopol zum „Motor der Integration“, indem er den Vorrang und die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung der römischen Verträge gewährte und ausbaute.


Über die Vor- und Nachteile beider Systeme wird heftig gestritten. Das zweistufige System hat den Vorteil einer klaren, auch institutionellen Trennung zwischen der Leitungs- und Kontrollaufgabe, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die diesbezüglichen Erwartungen des deutschen Gesetzgebers sich, wie die fortdauernde Aufsichtsratsdiskussion seit Ende des 19. Jahrhunderts und die zahlreichen Reformen und Reformvorschläge zeigen, nicht erfüllt haben. Der deutsche Aufsichtsrat ist nie ein bloßes Kontrollorgan gewesen, sondern hat immer auch über Netzwerkbildung und Beratung auf die Leitung Einfluss genommen. Auch ist die zwingende Trennung zwischen beiden Organen rechtlich nur eine formale. Aufsichtsratsmitglieder sind nicht ''eo ipso'' unabhängig, im traditionellen Rheinischen Kapitalismus schon ganz und gar nicht. Das einstufige System hat demgegenüber den Nachteil, dass alle Direktoren, auch die unabhängigen, letztlich für die Leitung verantwortlich sind, was die Kontrolle schwieriger macht. Es hat andererseits den Vorteil, dass auch die unabhängigen Direktoren voll und direkt in den Informationsfluss im Zentrum der Gesellschaft eingebunden sind, was nach manchen bei der Waage den Ausschlag gibt (''Paul Davies'').
Von den vier Auslegungsmethoden, die ''Friedrich Carl'' ''von Savigny ''herausgearbeitet hat, verwendet der EuGH vorrangig die grammatische, die systematische und die teleologische. Dagegen stellt er den historisch-politischen Interpretationsansatz hintan. Gründe dafür sind die häufig schwierigen, teils unveröffentlichten Gesetzgebungsprozesse und kompromisshaften Ergebnisse. Allerdings führt der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Erwägungsgründe auf, die der EuGH vor allem zur teleologischen Betrachtung heranzieht. Die Berücksichtigung von Protokollerklärungen von Kommission, Rat oder Parlament, die sich nicht im Rechtsakt niedergeschlagen haben, lehnt der EuGH jedoch ab (EuGH Rs. C-404/06 – ''Quelle'', Slg. 2008, I-2685, Rn. 32).  


Wenn es somit einen klaren Vorrang des einen oder anderen Systems nicht gibt, sondern diese eher auf historischen Entwicklungen und Pfadabhängigkeiten beruhen und wenn andererseits die Trennung zwischen zwei Organen in mittleren und kleinen Gesellschaften zu aufwendig ist und in Deutschland für die GmbH ja auch nicht zwingend verlangt wird, dann liegt es nahe, den Gesellschaften selbst die Wahl zwischen beiden Systemen einzuräumen. Das ist in Frankreich mit zwei und in Italien mit sogar drei Wahlmöglichkeiten geschehen. Auch das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft sieht eine Wahlmöglichkeit zwischen dem ein- und dem zweistufigen System vor. Das wird auch für Deutschland für alle Aktiengesellschaften gefordert, auch wenn die (quasi)paritätische Mitbestimmung dabei Besonderheiten bedingt.
Zunächst verwendet der Gerichtshof aber die wörtliche Auslegungsmethode. Dies hat er dem französischen ''Conseil d’Etat ''ebenso entlehnt wie den bündigen und deduktiven Argumentationsstil, der auch im europäischen Privatrecht nur bedingt Beiträge zur angezeigten Systembildung leistet. Das Apodiktische und Selbstreferenzielle der Urteile ist auch den allgemeinen Umständen eines internationalen Richtergremiums geschuldet, das verschiedene Rechtskulturen und Sprachen versöhnen muss. Allein darum stößt die Auslegung nach dem grammatikalischen Zusammenhang und die Erforschung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs innerhalb des (autonomen) EU-Rechts an seine Grenzen: Die EU verwendet gleichrangige Textfassungen in ihren verschiedenen Amtssprachen.


Dazu, wie Leitung und Kontrolle im ein- oder zweistufigen System rechtlich geregelt werden können oder sollten, gibt es, wie die Aktienrechte und die ''Corporate Governance'' Kodices der verschiedenen Länder zeigen, sehr unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen, die hier nicht näher dargestellt werden können ([[Aktiengesellschaft]]). Für Deutschland ergeben sie sich aus den Kommentierungen zum Aktienrecht und zum Deutsche ''Corporate Governance'' Kodex (DCGK). Beispiele sind die Leitungsmacht des Vorstands, die Bestellung und Abberufung von Vorstand und Aufsichtsrat, ihre Vergütung, unabhängige Direktoren, Beziehung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, die innere Ordnung beider Organe, insbesondere Ausschüsse, Sorgfalts- und Treuepflichten, Interessenkonflikte, Haftung u.a. Diese Fragen sind Teil der breiteren ''[[Corporate Governance]]'' Problematik.
Entscheidendes Argumentationsmittel des EuGH ist darum – aber nicht nur bei abweichenden Textfassungen – die teleologische Betrachtung. Diese Methode liegt auch deswegen nahe, da die EU einen funktionalen Ansatz gewählt hat, also die im Primärrecht festgelegten Integrationsziele verwirklichen will, zu denen vor allem die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes zählt. Problematisch kann diese Orientierung am Geist und Zweck einer Vorschrift und am Gesamtprogramm der EU werden, wenn innerhalb des Primär- oder und Sekundärrechts verschiedene Teleologien (z.B. wirtschaftsliberale und soziale) zugleich verfolgt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen Richtlinien, die sowohl dem Gesamtinteresse der Verwirklichung des Binnenmarktes als auch einem bestimmten Schutz (etwa des Arbeitnehmers oder Verbrauchers) dienen.


== 2. Banken und Mitbestimmung im Aufsichtsrat ==
In der Summe spiegeln die Entscheidungen regelmäßig das Ziel eines ''effet utile'' wider. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts scheint häufig das wichtigste Ziel des Gerichtshofs bei seiner Auslegung und Rechtsfortbildung ([[Effektivitätsgrundsatz]]). Deutlich wird dies z.B. an der Qualifizierung von Teilzeitarbeitern als Arbeitnehmer. Eine solche Auslegung entspreche „den Zielen des Vertrages“, der die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und damit – als ökonomisches Argument – eine Hebung der Lebenshaltung bezweckt (EuGH Rs. 53/81 – ''Levin'', Slg. 1982, 1035, Rn. 15).
Bankenvertreter im Aufsichtsrat großer deutscher Aktiengesellschaften entsprachen einer in Deutschland herkömmlichen, verbreiteten Praxis. Überhaupt ist hierzulande der Einfluss der Banken auf die Unternehmen gegenüber anderen Ländern wie insbesondere den USA und Großbritannien erheblich. Kritisiert wird vor allem die Kombination von Kreditvergabe, Bankbeteiligungen, Vorsitz und Mandaten im Aufsichtsrat und Stimmrechtsvollmacht. Hinzu kommt noch der Einfluss, den die privaten Banken über ihre Investmenttochtergesellschaften haben. Unter dem Einfluss des Globalisierung und des Vordringens der Investmentbanken hat sich jedoch auch in Deutschland eine Entwicklung weg vom Rheinischen Kapitalismus ergeben, und die von den Banken gehaltenen Mandate, insbesondere die Vorsitze, sind zurückgegangen. Die in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Forderung, die „Macht der Banken“ einzuschränken, hat sich überholt.


Demgegenüber ist es in Deutschland bisher bei der Unternehmensmitbestimmung geblieben, auf Grund derer die deutschen Arbeitnehmer und Gewerkschaften Sitz und Stimme im Aufsichtsrat aller großen deutschen Kapitalgesellschaften haben (ab 1000 Arbeitnehmer hälftig, aber 500 drittelparitätisch). International gesehen ist diese Mitbestimmung in ihrer paritätischen bzw. quasiparitätischen Form ein deutscher und niederländischer Sonderweg geblieben. In den Niederlanden galt das paritätische Kooptationssystem interessanterweise nicht für multinationale Unternehmen, die dadurch abgeschreckt werden könnten, und es ist dort inzwischen zugunsten einer Drittelparität mit einer Verstärkung der Rechte des Betriebsrates aufgegeben worden. In anderen europäischen Ländern gilt die Arbeitnehmermitbestimmung seit jeher nur drittelparitätisch. Im anglo-amerikanischen Bereich wird sie von der Praxis und nachdrücklich auch von der ökonomischen Theorie strikt abgelehnt. Die Kontroverse hat mittlerweile auch auf die deutsche Diskussion übergegriffen, in der die Kritiker sich unter dem Eindruck des globalen Wettbewerbs und der Standortnachteile, die sich für Deutschland aus der im Ausland (zu Recht oder zu Unrecht) gefürchteten deutschen Mitbestimmung ergeben, in jüngster Zeit verstärkt artikulieren, während unter dem Eindruck der Finanzkrise in Deutschland sogar Forderungen nach noch mehr Mitbestimmung laut werden. Die Praxis, jedenfalls innerhalb von Deutschland, scheint sich mit der Mitbestimmung hingegen ganz gut arrangiert zu haben.
Dagegen tritt die wertende [[Rechtsvergleichung]] grundsätzlich nicht klar als fünfte Methode zu Tage. Nur in den Ausführungen des Generalanwaltes finden sich häufiger detaillierte Bezugnahmen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Einmal abgesehen von dem Faktum, dass die Richtlinien regelmäßig auf Rechtsvergleichung beruhen, ist diese Methode dem internationalen Richtergremium mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten gleichsam immanent. Freilich wird die vergleichende Betrachtung nicht explizit miteinbezogen, auch damit die autonomen Gesetzestexte nicht durch fremde Wertungen unterlaufen werden. Bei der Lückenfüllung und Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gewinnt die Rechtsvergleichung jedoch an Bedeutung. So begründet der EuGH die Staatshaftung ergänzend mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen im mitgliedstaatlichen Recht und nach den Grundsätzen des Völkerrechts (EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – ''Brasserie du pêcheur'', Slg. 1996, I-1029, Rn. 29 ff.). Ein verfassungsrechtlicher Vergleich ist zudem in Art. 6(2) EU (1992)/11(3) EU (2007) vorgesehen, denn hiernach sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle für die zu achtenden Grundrechte genannt.


== 3. Europäische Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat bzw. ''Board'' ==
Eine weitere Besonderheit des EU-Rechts besteht in der autonomen Begriffsbildung. Dies hat es mit dem Konventionsrecht gemein, für das der EuGH übrigens ebenfalls zuständig sein kann. So hat er aufgrund von Auslegungsprotokollen die wichtige Jurisdiktionsbefugnis für das EuGVÜ und später auch für das EVÜ erhalten ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]). Damit jede Bestimmung und jedes Konzept des Europarechts europaweit einheitlich angewendet wird, haben sich die Rechtsanwender also vom nationalen und sonstigem nicht-gemeinschaftsrechtlichen Begriffsvorverständnis zu lösen. Dazu sind auch Mitgliedstaaten aufgerufen. Doch vorrangig ist es der EuGH, der – abhängig von der Vorlagebereitschaft und ‑verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 234 EG/ 267 AEUV – entsprechende Auslegungsvorgaben mit faktischer Bindungswirkung (''[[Precedent, Rule of]]'') schafft.
a) Die [[Europäische Kommission]] hat sich seit Jahrzehnten um eine Harmonisierung des Kernaktienrechts bemüht. Der Vorschlag einer fünften Richtlinie, der sogenannten Struktur-RL (vom 9.10.1972, geändert am 19.8.1983 und 20.11.1991) befasste sich mit der Struktur der Aktiengesellschaft und den Befugnissen und Verpflichtungen ihrer Organe. Sein Hauptproblem lag aber in der Mitbestimmungsfrage. Der Vorschlag ist deshalb gescheitert und wird von der Kommission nicht mehr weiterverfolgt. Die Europäische Kommission hat sich stattdessen in ihrem Aktionsplan vom 21.5.2003 und mit den inzwischen umgesetzten Maßnahmen der ersten Stufe desselben verstärkt der ''[[Corporate Governance]] ''und dem Aktionärsschutz zugewandt.


b) Europäische Regeln über den Vorstand und Aufsichtsrat bzw. den ''board'' sind dagegen notwendigerweise in europäischen Gesellschaftsrechtsformen enthalten. So regelt die Verordnung vom 8.10.2001 über das Statut der [[Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)|Europäischen Aktiengesellschaft (SE)]] (VO 2157/2001) den Aufbau der SE. Diese muss entweder ein Aufsichtsorgan und ein Leitungsorgan (dualistisches System) oder ein Verwaltungsorgan (monistisches System), entsprechend der in der Satzung gewählten Form haben (Art. 38). Das Statut enthält dann ausführliche Vorschriften für das dualistische System (Art. 39-42) und das monistische System (Art. 43-45) und gemeinsame Vorschriften für beide Systeme (Art. 46-51). Zu diesem Statut tritt die Richtlinie vom selben Tag über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE hinzu. Diese europäischen Vorschriften sind mittlerweile in den Mitgliedstaaten umgesetzt, so dass auch in Deutschland die Aktionäre einer deutschen SE ein Wahlrecht zwischen dem zweistufigen und dem einstufigen System haben. Die Mitbestimmung in der SE basiert auf dem Prinzip der Verhandlung zwischen Kapital und Arbeit, die bis zu sechs Monaten dauern kann, und der Auffangregelung für den Fall, dass die Verhandlung scheitert. Dann bleibt es für die SE grundsätzlich bei dem am weitesten gehenden Mitbestimmungssystem unter den beteiligten Gesellschaften. Praktisch führt die SE-Mitbestimmung zur Beteiligung von ausländischen Arbeitnehmern und zu anderen international und ökonomisch angezeigten Erleichterungen im Vergleich zum deutschen System, so namentlich zu Aufsichtsräten mit weniger Mitgliedern (etwa Umwandlung der Allianz in eine SE).
== 2. Auslegung des Primärrechts ==
Im verfassungsgleichen Recht ist der EuGH gewillt, ''judicial activism'' zu betreiben. Gerade hier sind die Richter nicht mehr, wie noch von ''Montesquieu'' gefordert, „la bouche de la loi“, sondern sie gehen bei der „Auslegung“ über den möglichen Wortlaut hinaus und überschreiten damit die Grenze zur Rechtsfortbildung ([[Richterrecht]]). Sie wird sowohl bei der gemeinschaftsrechtlichen als auch z.B. der französischen ''interprétation ''nicht klar gezogen. Diese Abgrenzung wäre aber angezeigt, denn die Rechtsfortbildung erfordert eine planwidrige Lücke und damit einen erheblich höheren Begründungsaufwand. Die Richter des EuGH – und billigend die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – sehen die Befugnis zur Fortbildung durch ihre Aufgabe gerechtfertigt, nach Art. 220 (1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19(1) (I) EU (2007), die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrags sicherzustellen, wobei das „Recht“ über die in den Verträgen niedergelegten Regelungen hinausgeht.


c) An europäischen Regelungen für Vorstand und Aufsichtsrat bzw. ''board'' von Aktiengesellschaften allgemein, also nicht nur der SE, sind vor allem zwei Richtlinien und zwei Empfehlungen zu nennen. Sie betreffen den Prüfungsausschuss bestimmter Unternehmen nach der Richtlinie vom 17.5.2006 (RL 2006/43), die Offenlegung und Haftung nach der Richtlinie vom 14.6.2006 (RL 2006/46), die Vergütung von Direktoren nach der Empfehlung vom 14.12.2004 und die Aufgaben von Aufsichtsratsmitgliedern und Ausschüssen nach der Empfehlung vom 15.2. 2005 und der die Vergütungs-Empfehlung ergänzenden Empfehlung vom 30.4.2009.
Wichtigste Rechtsgrundsätze, die vom EuGH dementsprechend zur Ergänzung des geschriebenen Primärrechts entwickelt wurden, sind der Vorrang (EuGH Rs. 26/62 – ''Van Gend & Loos'', Slg. 1963, 3) und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das jeden unmittelbar verpflichten oder berechtigen kann (EuGH Rs. 6/64 – ''Costa/E.N.E.L.'', Slg. 1964, 1141). Ebenfalls maßgeblich sind die Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaft (EuGH Rs. 29/69 – ''Stauder/Stadt Ulm'', Slg. 1969, 419), die Präzisierung der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 120/78 – ''Cassis de Dijon'', Slg. 1979, 649), die Staatshaftung (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – ''Francovich'', Slg. 1991, I-5357) und die Reichweite der Unionsbürgerschaft (EuGH Rs. C-184/99 – ''Grzelczyk'', Slg. 2001, I-6193).


(i) Nach der RL 2006/43 muss jedes Unternehmen von öffentlichem Interesse einen Prüfungsausschuss haben. Unternehmen von öffentlichem Interesse sind mitgliedstaatliche Unternehmen, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt eines Mitgliedstaates zugelassen sind, sowie Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen. Mindestens ein Mitglied des Prüfungsausschusses muss unabhängig sein und über Sachverstand in Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung (''financial literacy'') verfügen. Mitgliedstaaten können dazu weiter gehen. Was unabhängig ist, ist im Einzelnen definiert. Der Prüfungsausschuss hat den Rechnungslegungsprozess, die Wirksamkeit des internen Kontrollsystems und des Risikomanagementsystems des Unternehmens und die Abschlussprüfung zu überwachen und die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu überprüfen und zu überwachen. Die Verantwortung der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans des geprüften Unternehmens wird dadurch nicht berührt.
Damit schafft und präzisiert der Gerichtshof diejenigen rechtsstaatlichen Elemente, die eine vollwertige Rechtsordnung erfordert. Schließlich zählt das Europarecht nach Auffassung des EuGH nicht zum Völkerrecht, das von einer starken Beachtung staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist: Der E(W)G-Vertrag sei zwar in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen worden, er stelle aber im Gegensatz zu üblichen völkerrechtlichen Verträgen nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer eigenständigen Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Gutachten 1/91 – ''EWR I'', Slg. 1991, I-6079, Rn. 21). Darum hat der EuGH in ''Francovich ''ausgeführt, die Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge von dem Staat zurechenbaren Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, begründe sich aus dem Wesen der mit dem Vertrag von Rom geschaffenen und mit voller Wirksamkeit und Vorrang ausgestatteten Rechtsordnung.  


Nach der Ergänzungs-Empfehlung vom 30.4. 2009, die unter dem Eindruck der internationalen Kritik an überhöhten Managervergütungen ergangen ist, sollten unter anderem Höchstgrenzen für variable Vergütungskomponenten vorgesehen werden und diese an im Voraus festgelegte, messbare, langfristig angelegte Leistungskriterien geknüpft sein. Ein Großteil der variablen Vergütungskomponenten sollte während eines Mindestzeitraums nicht ausgezahlt werden. Abfindungen sollten in der Regel nicht mehr als zwei Jahreseinkommen aus der nicht variablen Vergütungskomponente betragen. Aktienoptionen sollten frühestens nach drei Jahren ausübbar sein und nicht an Aufsichtsratsmitglieder vergeben werden. Mindestens ein Mitglied des Vergütungsausschusses des Aufsichtsrats sollte über Fachkenntnis und Erfahrungen im Bereich der Vergütungspolitik verfügen. Zu den diesbezüglichen Regelungen im deutschen VorstAG und im Deutschen ''Corporate Governance'' Kodex siehe [[Private Rechtsetzung und Codes of Conduct|Private Rechtsetzung und ''Codes of Conduct'']].
Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Rechtsprechung zur Wirkung des Rechtsinstruments der [[Richtlinie]]. Dazu zählt etwa die nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Umständen mögliche „vertikale“ Direktwirkung einer Richtlinie, die also nur gegenüber dem Staat gilt. Eine unmittelbare „horizontale“ Direktwirkung von Richtlinien besteht gerade nicht (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 108). Hierzu stützt sich der EuGH auch auf das systematische Argument, eine Horizontalwirkung von Richtlinien würde die im EG-Vertrag vorgegebene Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen aufheben (EuGH Rs. C-91/92 – ''Faccini Dori'', Slg. 1994, I-3325, Rn. 24).


(ii) Die RL 2006/46 enthält unter anderem Vorschriften über den von der Gesellschaft, deren Wertpapiere an einem geregelten Markt zugelassen sind, jährlich zu erstellenden ''Corporate Governance'' Bericht (Erklärung zur Unternehmensführung) und über die Pflicht und Haftung hinsichtlich der Aufstellung und der Veröffentlichung der Jahresabschlüsse, des Lageberichts, der konsolidierten Abschlüsse und des konsolidierten Lageberichts. Die Erklärung zur Unternehmensführung muss in den Lagebericht aufgenommen werden und hat unter anderem einen Verweis auf den Unternehmensführungskodex, dem die Gesellschaft unterliegt, und Abweichungen davon mit Begründungen sowie eine Beschreibung der wichtigsten Merkmale des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems der Gesellschaft zu enthalten. Die Mitglieder der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane der Gesellschaften müssen kollektiv die Pflicht haben sicherzustellen, dass die Rechnungslegung den entsprechenden Anforderungen gemäß erstellt und veröffentlicht wird. Dafür sind sie zumindest gegenüber der Gesellschaft haftbar.
== 3. Auslegungsvorgaben für Nationalgerichte ==
Die Rechtsschöpfungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene wirken sich auch auf das europäische Privatrecht aus. Dies gilt nicht nur für die deliktsrechtliche Ausgestaltung der Staatshaftung, sondern auch für die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Als eine Art Meta-Regel stellt sich dies aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts steuernd über die vier besagten Auslegungsmethoden und ähnelt darum der verfassungskonformen Auslegung, wie sie das deutsche Recht kennt. Darüber hinaus umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur europarechtskonformen Auslegung neben der vorrangigen Vereinbarkeit mit dem Primärrecht auch die Konformität mit dem Sekundärrecht. Diese wird durch die Pflicht der Nationalgerichtsbarkeit zur richtlinienkonformen Auslegung gesichert. Sie erfolgt durch die Anwendung der nationalstaatlichen Auslegungsmethoden (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 116).


(iii) Die Empfehlung vom 14.12.2004 versucht, eine angemessene Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften zu finden. Das allgemeine Konzept der Vergütung soll offengelegt werden, und die Hauptversammlung soll darüber beraten und Beschluss fassen. Die Bezüge der einzelnen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder sollen individualisiert offen gelegt werden. Das ist auf dem Hintergrund zu sehen, dass die ''International Financial Reporting Standards ''(IFRS) ab 2005 verlangen, dass Aktienoptionen nach einer gängigen ''Fair Value''-Methode bewertet und als Personalaufwand über die Sperrfrist verrechnet werden. Die Empfehlung eines zumindest beratenden Beschlusses der Hauptversammlung über das Vergütungssystem, was auf britisches Vorbild zurückgeht, hat Deutschland ebensowenig wie die meisten Mitgliedstaaten umgesetzt.
Danach ist das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auszulegen (EuGH Rs. C-106/89 – ''Marleasing'', Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; auch EuGH Rs. 14/83 – ''von Colson und Kamann'', Slg. 1984, 1891, Rn. 28). Da das nationale Recht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch Private benachteiligen kann, entsteht erst hierdurch eine Horizontalwirkung, die ansonsten – wie erwähnt – grundsätzlich ausgeschlossen ist. Je großzügiger man zudem die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung erlaubt, desto mehr verringert sich der Anwendungsbereich der Staatshaftung für legislatives Unrecht (s. jedoch für judikatives Unrecht EuGH Rs. C-224/01 – ''Köbler'', Slg. 2003, I-10239; EuGH Rs. C-173/03 – ''Traghetti del Mediterraneo'', Slg. 2006, I-5177).


(iv) Zentraler ist die Empfehlung vom 15.2. 2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats. Wichtig für Deutschland ist, dass als Normfall empfohlen wird, dass der ausscheidende Vorstandsvorsitzende nicht unmittelbar Aufsichtsratsvorsitzender wird. Davon kann zwar abgewichen werden, aber das sollte begleitet werden von Informationen über die getroffenen Schutzvorkehrungen.
Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt (EuGH Rs. C-456/98 – ''Centrosteel'', Slg. 2000, I-6007, Rn. 17), ist Folge der Verpflichtung zur allgemeinen Loyalität nach Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007), Art. 4(3) EU (1992)/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 15(6) (I)(d) EU (2007) und zur konkreten Richtlinienumsetzung gemäß Art. 249(3) EG/288 AEUV. Sie ist auch dem EG-Vertrag „immanent“, denn durch sie kann das nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Europarechts gewährleisten (so EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 114).  


Sodann sind als Norm mit Ausnahmen für kleine und mittlere Unternehmen ein Nominierungs-, ein Vergütungs- und ein Rechnungslegungsausschuss zu etablieren, in denen die Mehrheit der Mitglieder unabhängig sein soll. Unabhängig ist ein Mitglied der Unternehmensleitung, „wenn es in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte.“ Anhang&nbsp;II der Empfehlung enthält dazu eine zweiseitige Liste zusätzlicher Hinweise für die Auslegung der in der Empfehlung niedergelegten Grundsätze, wonach u.a. folgende Umstände gegen Unabhängigkeit sprechen: Vorstandsmitglieder der Mutter oder Tochter innerhalb der letzten fünf Jahre; umfangmäßig bedeutende zusätzliche Vergütungen von Müttern oder Töchtern, insbesondere über ''stock options''<nowiki>; Repräsentanten der Mutter; umfangmäßig bedeutendes Geschäftsverhältnis mit Mutter oder Tochter, und zwar direkt oder als Partner, Anteilseigner, Direktor oder leitender Angestellter eines Unternehmens oder einer Organisation mit einem solchen Geschäftsverhältnis.</nowiki>
Der Vorrang der europarechtsfreundlichen Auslegung und Rechtsfortbildung, die sich auf das gesamte nationale Recht erstreckt, findet seine Grenze in der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit. Darum darf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch nicht zu einer ''contra legem''-Auslegung einer nationalen Vorschrift führen (EuGH Rs.&nbsp;C-212/04 – ''Adeneler'', Slg. 2006, I-6057, Rn.&nbsp;110). In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte die Vorschrift vorzulegen oder für unanwendbar zu erklären. (Der dahinter stehende Gewaltenteilungsgrundsatz gilt auch auf der europäischen Ebene: Der EuGH kann primärrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht durch Auslegung „heilen“, sondern muss es im Wege einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsverfahrens für nichtig erklären; EuGH Rs.&nbsp;314/85 – ''Foto-Frost'', Slg. 1987, 4199, 4230&nbsp;ff.) Das nationale Gericht hat aber zur Ermittlung eines zutreffenden Verständnisses einer Richtlinienvorschrift nicht nur die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, sondern soweit möglich auch die in den anderen Mitgliedstaaten praktizierte Auslegung.  


Obwohl dann letztlich der Aufsichtsrat entscheidet, ob Unabhängigkeit anzunehmen ist, wäre die Umsetzung in Deutschland wegen der Beschneidung der Kontrollmöglichkeiten im Konzern und vor allem angesichts der (quasi) paritätischen Mitbestimmung ein tiefer Eingriff in das System. Diese Empfehlungen beruhen auf anglo-amerikanischen Vorstellungen und sind auf Gesellschaften ohne herrschende Aktionäre und ohne Mitbestimmung wie in den USA oder Großbritannien gemünzt. Bei einer Aktionärsstruktur wie typischerweise in Deutschland und in vielen kontinentaleuropäischen Ländern muss das zu Schwierigkeiten führen.
== 4. Auslegungsreichweite beim Sekundärrecht ==
=== a) Allgemein ===
Während der EuGH mit den erwähnten Entscheidungen zum Primärrecht häufig einen ''constitutional activism'' betreibt, schwankt er ansonsten zwischen ''effet utile''-Orientierung und Zurückhaltung. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidungen in der Praxis häufig schwer vorhersehbar sind. Beispiele für ''judicial activism'' im Privatrecht sind die Entscheidungen EuGH Rs.&nbsp;C-168/00 – ''Leitner'', Slg. 2002, I-2631, wonach Art.&nbsp;5 Pauschalreise-RL (RL&nbsp;90/314) auch einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, sowie EuGH Rs.&nbsp;C-350/03 – ''Schulte'', Slg. 2005, I-9215 und EuGH Rs.&nbsp;C-229/04 – ''Crailsheimer Volksbank'', Slg. 2005, I-9273 über die Rechte eines Verbrauchers bei kreditfinanzierten Immobilienkaufverträgen nach der Haustürgeschäfte-RL (RL&nbsp;85/577). Doch mehrheitlich muss sich der EuGH, der vorrangig ein Verfassungs- und Verwaltungsgericht darstellt, in Zivilsachen eher im ''self restraint'' üben. Die Ursachen liegen in den Akzeptanz- und Kapazitätsgründen, denn die steigende Vorlageflut im Wege des Verfahrens nach Art.&nbsp;234 EG/267 AEUV wird dadurch etwas eingedämmt.


== 4. Forderungen nach weiteren europäischen Regelungen für Vorstand und Aufsichtsrat bzw. ''Board'' ==
=== b) Generalklauseln ===
Aus der Agenda des Aktionsplans vom 21.5.2003 stehen vor allem noch zwei Vorstand und Aufsichtsrat bzw. den ''board'' betreffende Regelungsprobleme aus. Dabei handelt es sich erstens um die Einführung der Möglichkeit einer Wahl zwischen einem dualistischen und einem monistischen System für alle börsennotierten Gesellschaften. Zweitens war die Stärkung der Verantwortung der Mitglieder des Leitungs- bzw. Verwaltungsorgans mit den drei Untergruppen (Recht auf Sonderprüfung, Insolvenzverschleppungshaftung und Verbot der Tätigkeit als Direktor) vorgesehen. Für Deutschland hat das allerdings verhältnismäßig geringe Bedeutung, weil das Recht der Sonderprüfung verschiedentlich reformiert und mit dem MoMiG das Verbot der Tätigkeit als Direktor verstärkt worden ist. Darüber, ob die deutsche Insolvenzverschleppungshaftung ausreicht, besteht Streit. Diesbezügliche Pläne des Justizministeriums bei der GmbH-Reform konnten nicht realisiert werden.
Hieraus erklärt sich auch EuGH Rs.&nbsp;C-237/02 – ''Freiburger Kommunalbauten'', Slg. 2004, I-3403. Danach ist das nationale Gericht für die Beurteilung zuständig, ob eine vorformulierte Vertragsklausel missbräuchlich im Sinne von Art.&nbsp;3(1) RL&nbsp;93/13 ist. Dahingegen ließen noch EuGH verb. Rs.&nbsp;C-240/98 bis C-244/98 – ''Océano Grupo'', Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs.&nbsp;C-473/00 – ''Cofidis'', Slg. 2002, I-10875 eine großzügigere eigene Klauselkontrolle vermuten. In ''Océano Grupo'' ging es freilich um eine Klausel, die die Wirksamkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes unabhängig vom Vertragstyp in Frage stellte. Der EuGH bejahte darum die Missbräuchlichkeit. In ''Cofidis'' hat der EuGH dann aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes eine Ausschlussfrist des Verbraucherkreditrechts im französischen ''Code de la consommation'' für unvereinbar mit der RL&nbsp;93/13 erklärt, und zwar obschon die Richtlinie keine Verjährungs- und Ausschlussfristen vorsieht.
 
In ''Freiburger Kommunalbauten'' unterscheidet der EuGH danach, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt werden kann, ohne dass alle Vertragsumstände geprüft und die verbundenen Vor- und Nachteile der Klausel anhand des nationalen Rechts gewürdigt werden müssen. Nach ''Freiburger Kommunalbauten ''ist es Aufgabe des EuGH, die in der Richtlinie zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen. Die eigentliche Überprüfung von Klauseln obliegt aber den nationalen Gerichten. Wie diese Konkretisierungskompetenz genau abzugrenzen ist, bleibt ebenso fraglich wie die allgemeinen Kriterien der Missbrauchskontrolle. Außer Betracht lässt der EuGH ohnehin die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen, da deren Betrachtung eine Auseinandersetzung mit den nationalen Besonderheiten erfordern würde.
 
=== c) Überschießende Umsetzung ===
Überschießende Umsetzungen von Richtlinien entstehen, wenn das Schutzniveau infolge des Vorliegens einer Mindestharmonisierung ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]) angehoben oder der Anwendungsbereich im Zuge der nationalen Umsetzung ausgedehnt wird. Da Deutschland im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gerade im Verbraucherrecht zahlreiche überschießende Umsetzungen vorgenommen hat, stellte sich hier die Frage einer gespaltenen oder einheitlichen Auslegung.
 
Der BGH hat sich bei den [[Haustürgeschäfte]]n für Letzteres entschieden (BGH 9.4. 2002, BGHZ&nbsp;150,&nbsp;248). Im Unterschied zur Richtlinie besteht ein Widerrufsrecht nach §&nbsp;355 BGB nicht nur, wenn der Vertrag in einer entsprechenden Situation abgeschlossen wurde. Vielmehr genügt es gemäß §&nbsp;312 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;1 BGB, dass der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt und dann später außerhalb derselben regulär abgeschlossen wurde. Als Argumente gegen eine gespaltene Auslegung und damit für eine freiwillige Auslegung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht führte der BGH die Kohärenz und die Verhinderungen von Wertungswidersprüchen an.
 
Eine andere Sache ist jedoch, inwieweit eine Vorlage an den EuGH erfolgen kann. Der Gerichtshof hat dies in EuGH Rs.&nbsp;C-3/04 – ''Poseidon Chartering'','' ''Slg. 2006, I-2505 zur überschießenden Umsetzung der Handelsvertreter-RL (RL&nbsp;86/ 653; [[Handelsvertreter]]) im ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' bejaht. Es bestehe ein Gemeinschaftsinteresse daran, Auslegungsdivergenzen zu verhindern und damit die Begriffe einheitlich auszulegen. Zudem überprüft der EuGH Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur eingeschränkt. Der Gerichtshof wird eine Vorlage nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder die Frage allgemeiner oder hypothetischer Natur ist. Damit hat der EuGH einen weitreichenden Einfluss auf das z.B. im [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] ebenfalls überschießend umgesetzte Kaufrecht ([[Verbrauchsgüterkauf]]) und eröffnet einen Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten zur Auslegung auch des nationalen Rechts.


==Literatur==
==Literatur==
''Paul Davies'', Struktur der Unternehmensführung in Großbritannien und Deutschland, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 2001, 268&nbsp;ff.; ''Markus Roth'', Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001; ''High Level Group of Company Law Experts'', A Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe: Report of the High Level Group of Company Law Experts, in: Guido Ferrarini, Klaus J. Hopt, Jaap Winter, Eddy Wymeersch (Hg.), Reforming Company and Takeover Law in Europe, 2004, Annex 3, 925&nbsp;ff.; ''Klaus J. Hopt'', ''Patrick C. Leyens'', Board Models in Europe, European Company and Financial Law Review 2004, 135&nbsp;ff.; ''Klaus J. Hopt'', ''Markus Roth'', ''Andrea Peddinghaus'', §§ 95-116 AktG, in: Klaus J. Hopt, H. Wiedemann (Hg.), Aktiengesetz, 4.&nbsp;Aufl. 2005;'' Patrick C. Leyens'', Information des Aufsichtsrats, Ökonomisch-funktionale Analyse und Rechtsvergleich zum englischen Board, 2006; ''Elmar Gerum'', Das deutsche Corporate Governance-System, 2007; ''Marcus Lutter'', ''Gerd Krieger'', Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 5.&nbsp;Aufl. 2008; ''Henrik-Michael Ringleb'', ''Thomas'' ''Kremer'', ''Marcus'' ''Lutter'', ''Axel von Werder'', Deutscher Corporate Governance Kodex, 3.&nbsp;Aufl. 2008; ''Reinier Kraakman'', ''John Armour'', ''Paul Davies'', ''Luca Enriques'', ''Henry Hansmann'', ''Gérard'' ''Hertig'', ''Klaus J. Hopt'', ''Hideki'' ''Kanda'', ''Edward B. Rock'', Anatomy of Corporate Law, 2. Aufl. 2009.
''Joxerramon Bengoetxea'', The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993; Reiner Schulze'' ''(Hg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999; ''Rodríguez Iglesias'', Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten: Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 1889&nbsp;ff.; ''Claus-Wilhelm Canaris'', Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 47&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', Nationale Justiz und Europäisches Privat- recht: Eine Vernetzungsaufgabe, 2003; ''Mariele Dederichs'', Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 2004, 345&nbsp;ff.; ''Anne Röthel'', Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 309&nbsp;ff.; ''Martin Gebauer'', Europäische Auslegung des Zivilrechts, in: idem, Thomas Wiedmann (Hg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap.&nbsp;3; ''Hannes Rösler'', Auslegungsgrundsätze des Europäischen Verbraucherprivatrechts in Theorie und Praxis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 495&nbsp;ff.; ''Katja Langenbucher'', Europarechtliche Methodenlehre, in: eadem (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2.&nbsp;Aufl. 2008, 1&nbsp;ff.


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Version vom 28. September 2021, 14:54 Uhr

von Hannes Rösler

1. Gegenstand und Zweck

Das primäre und sekundäre Unionsrecht enthält keine allgemeinen Bestimmungen zu seiner Auslegung, wie sie sich in Art. 7-9 CISG, Art. 5:101-5:107 PECL und Art. 4.1-4.8 UNIDROIT PICC, aber auch in Art. 31-33 WVK (Auslegung des internationalen Einheitsrechts) finden. Stattdessen wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) als unabhängiges überstaatliches Gericht geschaffen, das ausschließlich zur Auslegung des Gemeinschafts- und Unionsrechts berufen ist (Art. 220 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007)). Das politikferne Organ stellt die Einheit, Kontinuität und Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts sicher. Vor allem auf dem Gebiet des verfassungsgleichen Rechts wurde der EuGH mit seinem Auslegungsmonopol zum „Motor der Integration“, indem er den Vorrang und die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung der römischen Verträge gewährte und ausbaute.

Von den vier Auslegungsmethoden, die Friedrich Carl von Savigny herausgearbeitet hat, verwendet der EuGH vorrangig die grammatische, die systematische und die teleologische. Dagegen stellt er den historisch-politischen Interpretationsansatz hintan. Gründe dafür sind die häufig schwierigen, teils unveröffentlichten Gesetzgebungsprozesse und kompromisshaften Ergebnisse. Allerdings führt der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Erwägungsgründe auf, die der EuGH vor allem zur teleologischen Betrachtung heranzieht. Die Berücksichtigung von Protokollerklärungen von Kommission, Rat oder Parlament, die sich nicht im Rechtsakt niedergeschlagen haben, lehnt der EuGH jedoch ab (EuGH Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685, Rn. 32).

Zunächst verwendet der Gerichtshof aber die wörtliche Auslegungsmethode. Dies hat er dem französischen Conseil d’Etat ebenso entlehnt wie den bündigen und deduktiven Argumentationsstil, der auch im europäischen Privatrecht nur bedingt Beiträge zur angezeigten Systembildung leistet. Das Apodiktische und Selbstreferenzielle der Urteile ist auch den allgemeinen Umständen eines internationalen Richtergremiums geschuldet, das verschiedene Rechtskulturen und Sprachen versöhnen muss. Allein darum stößt die Auslegung nach dem grammatikalischen Zusammenhang und die Erforschung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs innerhalb des (autonomen) EU-Rechts an seine Grenzen: Die EU verwendet gleichrangige Textfassungen in ihren verschiedenen Amtssprachen.

Entscheidendes Argumentationsmittel des EuGH ist darum – aber nicht nur bei abweichenden Textfassungen – die teleologische Betrachtung. Diese Methode liegt auch deswegen nahe, da die EU einen funktionalen Ansatz gewählt hat, also die im Primärrecht festgelegten Integrationsziele verwirklichen will, zu denen vor allem die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes zählt. Problematisch kann diese Orientierung am Geist und Zweck einer Vorschrift und am Gesamtprogramm der EU werden, wenn innerhalb des Primär- oder und Sekundärrechts verschiedene Teleologien (z.B. wirtschaftsliberale und soziale) zugleich verfolgt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen Richtlinien, die sowohl dem Gesamtinteresse der Verwirklichung des Binnenmarktes als auch einem bestimmten Schutz (etwa des Arbeitnehmers oder Verbrauchers) dienen.

In der Summe spiegeln die Entscheidungen regelmäßig das Ziel eines effet utile wider. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts scheint häufig das wichtigste Ziel des Gerichtshofs bei seiner Auslegung und Rechtsfortbildung (Effektivitätsgrundsatz). Deutlich wird dies z.B. an der Qualifizierung von Teilzeitarbeitern als Arbeitnehmer. Eine solche Auslegung entspreche „den Zielen des Vertrages“, der die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und damit – als ökonomisches Argument – eine Hebung der Lebenshaltung bezweckt (EuGH Rs. 53/81 – Levin, Slg. 1982, 1035, Rn. 15).

Dagegen tritt die wertende Rechtsvergleichung grundsätzlich nicht klar als fünfte Methode zu Tage. Nur in den Ausführungen des Generalanwaltes finden sich häufiger detaillierte Bezugnahmen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Einmal abgesehen von dem Faktum, dass die Richtlinien regelmäßig auf Rechtsvergleichung beruhen, ist diese Methode dem internationalen Richtergremium mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten gleichsam immanent. Freilich wird die vergleichende Betrachtung nicht explizit miteinbezogen, auch damit die autonomen Gesetzestexte nicht durch fremde Wertungen unterlaufen werden. Bei der Lückenfüllung und Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gewinnt die Rechtsvergleichung jedoch an Bedeutung. So begründet der EuGH die Staatshaftung ergänzend mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen im mitgliedstaatlichen Recht und nach den Grundsätzen des Völkerrechts (EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 29 ff.). Ein verfassungsrechtlicher Vergleich ist zudem in Art. 6(2) EU (1992)/11(3) EU (2007) vorgesehen, denn hiernach sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle für die zu achtenden Grundrechte genannt.

Eine weitere Besonderheit des EU-Rechts besteht in der autonomen Begriffsbildung. Dies hat es mit dem Konventionsrecht gemein, für das der EuGH übrigens ebenfalls zuständig sein kann. So hat er aufgrund von Auslegungsprotokollen die wichtige Jurisdiktionsbefugnis für das EuGVÜ und später auch für das EVÜ erhalten (Verbraucherverträge (IPR und IZPR)). Damit jede Bestimmung und jedes Konzept des Europarechts europaweit einheitlich angewendet wird, haben sich die Rechtsanwender also vom nationalen und sonstigem nicht-gemeinschaftsrechtlichen Begriffsvorverständnis zu lösen. Dazu sind auch Mitgliedstaaten aufgerufen. Doch vorrangig ist es der EuGH, der – abhängig von der Vorlagebereitschaft und ‑verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 234 EG/ 267 AEUV – entsprechende Auslegungsvorgaben mit faktischer Bindungswirkung (Precedent, Rule of) schafft.

2. Auslegung des Primärrechts

Im verfassungsgleichen Recht ist der EuGH gewillt, judicial activism zu betreiben. Gerade hier sind die Richter nicht mehr, wie noch von Montesquieu gefordert, „la bouche de la loi“, sondern sie gehen bei der „Auslegung“ über den möglichen Wortlaut hinaus und überschreiten damit die Grenze zur Rechtsfortbildung (Richterrecht). Sie wird sowohl bei der gemeinschaftsrechtlichen als auch z.B. der französischen interprétation nicht klar gezogen. Diese Abgrenzung wäre aber angezeigt, denn die Rechtsfortbildung erfordert eine planwidrige Lücke und damit einen erheblich höheren Begründungsaufwand. Die Richter des EuGH – und billigend die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – sehen die Befugnis zur Fortbildung durch ihre Aufgabe gerechtfertigt, nach Art. 220 (1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19(1) (I) EU (2007), die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrags sicherzustellen, wobei das „Recht“ über die in den Verträgen niedergelegten Regelungen hinausgeht.

Wichtigste Rechtsgrundsätze, die vom EuGH dementsprechend zur Ergänzung des geschriebenen Primärrechts entwickelt wurden, sind der Vorrang (EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 3) und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das jeden unmittelbar verpflichten oder berechtigen kann (EuGH Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1141). Ebenfalls maßgeblich sind die Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaft (EuGH Rs. 29/69 – Stauder/Stadt Ulm, Slg. 1969, 419), die Präzisierung der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649), die Staatshaftung (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357) und die Reichweite der Unionsbürgerschaft (EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193).

Damit schafft und präzisiert der Gerichtshof diejenigen rechtsstaatlichen Elemente, die eine vollwertige Rechtsordnung erfordert. Schließlich zählt das Europarecht nach Auffassung des EuGH nicht zum Völkerrecht, das von einer starken Beachtung staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist: Der E(W)G-Vertrag sei zwar in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen worden, er stelle aber im Gegensatz zu üblichen völkerrechtlichen Verträgen nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer eigenständigen Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Gutachten 1/91 – EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21). Darum hat der EuGH in Francovich ausgeführt, die Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge von dem Staat zurechenbaren Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, begründe sich aus dem Wesen der mit dem Vertrag von Rom geschaffenen und mit voller Wirksamkeit und Vorrang ausgestatteten Rechtsordnung.

Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Rechtsprechung zur Wirkung des Rechtsinstruments der Richtlinie. Dazu zählt etwa die nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Umständen mögliche „vertikale“ Direktwirkung einer Richtlinie, die also nur gegenüber dem Staat gilt. Eine unmittelbare „horizontale“ Direktwirkung von Richtlinien besteht gerade nicht (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 108). Hierzu stützt sich der EuGH auch auf das systematische Argument, eine Horizontalwirkung von Richtlinien würde die im EG-Vertrag vorgegebene Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen aufheben (EuGH Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24).

3. Auslegungsvorgaben für Nationalgerichte

Die Rechtsschöpfungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene wirken sich auch auf das europäische Privatrecht aus. Dies gilt nicht nur für die deliktsrechtliche Ausgestaltung der Staatshaftung, sondern auch für die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Als eine Art Meta-Regel stellt sich dies aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts steuernd über die vier besagten Auslegungsmethoden und ähnelt darum der verfassungskonformen Auslegung, wie sie das deutsche Recht kennt. Darüber hinaus umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur europarechtskonformen Auslegung neben der vorrangigen Vereinbarkeit mit dem Primärrecht auch die Konformität mit dem Sekundärrecht. Diese wird durch die Pflicht der Nationalgerichtsbarkeit zur richtlinienkonformen Auslegung gesichert. Sie erfolgt durch die Anwendung der nationalstaatlichen Auslegungsmethoden (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 116).

Danach ist das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auszulegen (EuGH Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; auch EuGH Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 28). Da das nationale Recht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch Private benachteiligen kann, entsteht erst hierdurch eine Horizontalwirkung, die ansonsten – wie erwähnt – grundsätzlich ausgeschlossen ist. Je großzügiger man zudem die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung erlaubt, desto mehr verringert sich der Anwendungsbereich der Staatshaftung für legislatives Unrecht (s. jedoch für judikatives Unrecht EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239; EuGH Rs. C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177).

Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt (EuGH Rs. C-456/98 – Centrosteel, Slg. 2000, I-6007, Rn. 17), ist Folge der Verpflichtung zur allgemeinen Loyalität nach Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007), Art. 4(3) EU (1992)/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 15(6) (I)(d) EU (2007) und zur konkreten Richtlinienumsetzung gemäß Art. 249(3) EG/288 AEUV. Sie ist auch dem EG-Vertrag „immanent“, denn durch sie kann das nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Europarechts gewährleisten (so EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 114).

Der Vorrang der europarechtsfreundlichen Auslegung und Rechtsfortbildung, die sich auf das gesamte nationale Recht erstreckt, findet seine Grenze in der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit. Darum darf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch nicht zu einer contra legem-Auslegung einer nationalen Vorschrift führen (EuGH Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110). In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte die Vorschrift vorzulegen oder für unanwendbar zu erklären. (Der dahinter stehende Gewaltenteilungsgrundsatz gilt auch auf der europäischen Ebene: Der EuGH kann primärrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht durch Auslegung „heilen“, sondern muss es im Wege einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsverfahrens für nichtig erklären; EuGH Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, 4230 ff.) Das nationale Gericht hat aber zur Ermittlung eines zutreffenden Verständnisses einer Richtlinienvorschrift nicht nur die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, sondern soweit möglich auch die in den anderen Mitgliedstaaten praktizierte Auslegung.

4. Auslegungsreichweite beim Sekundärrecht

a) Allgemein

Während der EuGH mit den erwähnten Entscheidungen zum Primärrecht häufig einen constitutional activism betreibt, schwankt er ansonsten zwischen effet utile-Orientierung und Zurückhaltung. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidungen in der Praxis häufig schwer vorhersehbar sind. Beispiele für judicial activism im Privatrecht sind die Entscheidungen EuGH Rs. C-168/00 – Leitner, Slg. 2002, I-2631, wonach Art. 5 Pauschalreise-RL (RL 90/314) auch einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, sowie EuGH Rs. C-350/03 – Schulte, Slg. 2005, I-9215 und EuGH Rs. C-229/04 – Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 über die Rechte eines Verbrauchers bei kreditfinanzierten Immobilienkaufverträgen nach der Haustürgeschäfte-RL (RL 85/577). Doch mehrheitlich muss sich der EuGH, der vorrangig ein Verfassungs- und Verwaltungsgericht darstellt, in Zivilsachen eher im self restraint üben. Die Ursachen liegen in den Akzeptanz- und Kapazitätsgründen, denn die steigende Vorlageflut im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EG/267 AEUV wird dadurch etwas eingedämmt.

b) Generalklauseln

Hieraus erklärt sich auch EuGH Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Danach ist das nationale Gericht für die Beurteilung zuständig, ob eine vorformulierte Vertragsklausel missbräuchlich im Sinne von Art. 3(1) RL 93/13 ist. Dahingegen ließen noch EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 – Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 eine großzügigere eigene Klauselkontrolle vermuten. In Océano Grupo ging es freilich um eine Klausel, die die Wirksamkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes unabhängig vom Vertragstyp in Frage stellte. Der EuGH bejahte darum die Missbräuchlichkeit. In Cofidis hat der EuGH dann aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes eine Ausschlussfrist des Verbraucherkreditrechts im französischen Code de la consommation für unvereinbar mit der RL 93/13 erklärt, und zwar obschon die Richtlinie keine Verjährungs- und Ausschlussfristen vorsieht.

In Freiburger Kommunalbauten unterscheidet der EuGH danach, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt werden kann, ohne dass alle Vertragsumstände geprüft und die verbundenen Vor- und Nachteile der Klausel anhand des nationalen Rechts gewürdigt werden müssen. Nach Freiburger Kommunalbauten ist es Aufgabe des EuGH, die in der Richtlinie zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen. Die eigentliche Überprüfung von Klauseln obliegt aber den nationalen Gerichten. Wie diese Konkretisierungskompetenz genau abzugrenzen ist, bleibt ebenso fraglich wie die allgemeinen Kriterien der Missbrauchskontrolle. Außer Betracht lässt der EuGH ohnehin die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen, da deren Betrachtung eine Auseinandersetzung mit den nationalen Besonderheiten erfordern würde.

c) Überschießende Umsetzung

Überschießende Umsetzungen von Richtlinien entstehen, wenn das Schutzniveau infolge des Vorliegens einer Mindestharmonisierung (Verbraucher und Verbraucherschutz) angehoben oder der Anwendungsbereich im Zuge der nationalen Umsetzung ausgedehnt wird. Da Deutschland im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gerade im Verbraucherrecht zahlreiche überschießende Umsetzungen vorgenommen hat, stellte sich hier die Frage einer gespaltenen oder einheitlichen Auslegung.

Der BGH hat sich bei den Haustürgeschäften für Letzteres entschieden (BGH 9.4. 2002, BGHZ 150, 248). Im Unterschied zur Richtlinie besteht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB nicht nur, wenn der Vertrag in einer entsprechenden Situation abgeschlossen wurde. Vielmehr genügt es gemäß § 312 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt und dann später außerhalb derselben regulär abgeschlossen wurde. Als Argumente gegen eine gespaltene Auslegung und damit für eine freiwillige Auslegung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht führte der BGH die Kohärenz und die Verhinderungen von Wertungswidersprüchen an.

Eine andere Sache ist jedoch, inwieweit eine Vorlage an den EuGH erfolgen kann. Der Gerichtshof hat dies in EuGH Rs. C-3/04 – Poseidon Chartering, Slg. 2006, I-2505 zur überschießenden Umsetzung der Handelsvertreter-RL (RL 86/ 653; Handelsvertreter) im Burgerlijk Wetboek bejaht. Es bestehe ein Gemeinschaftsinteresse daran, Auslegungsdivergenzen zu verhindern und damit die Begriffe einheitlich auszulegen. Zudem überprüft der EuGH Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur eingeschränkt. Der Gerichtshof wird eine Vorlage nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder die Frage allgemeiner oder hypothetischer Natur ist. Damit hat der EuGH einen weitreichenden Einfluss auf das z.B. im BGB ebenfalls überschießend umgesetzte Kaufrecht (Verbrauchsgüterkauf) und eröffnet einen Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten zur Auslegung auch des nationalen Rechts.

Literatur

Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993; Reiner Schulze (Hg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten: Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 1889 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 47 ff.; Jürgen Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privat- recht: Eine Vernetzungsaufgabe, 2003; Mariele Dederichs, Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 2004, 345 ff.; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 309 ff.; Martin Gebauer, Europäische Auslegung des Zivilrechts, in: idem, Thomas Wiedmann (Hg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 3; Hannes Rösler, Auslegungsgrundsätze des Europäischen Verbraucherprivatrechts in Theorie und Praxis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 495 ff.; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: eadem (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, 1 ff.