Ordonnances

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von Gebhard Rehm

1. Begriff

Nach der Auflösung des Karolingischen Reiches (endgültig 921) trennten sich auch juristisch die Wege Deutschlands und Frankreichs, wenngleich die fränkischen Wurzeln in beiden Staaten nicht vollständig gekappt wurden. Frankreich teilte sich rechtlich dabei in zwei Teile, auch wenn die Unterschiede oft fließend waren. Herrschte in Nordfrankreich (etwa nördlich einer gedachten Linie Genf-Girondemündung) bis dahin das weithin durch fränkisch-burgundisch-vulgare Tradition geprägte sog. droit coutumier (Gewohnheitsrecht), so galten im Süden vor allem durch römische Rechtsquellen inspirierte Volksrechte, die seit Rezeption des Corpus Juris Civilis verstärkt durch dieses beeinflusst werden ((droit écrit/‌geschriebenes Recht). Dennoch war auch das Recht im Süden Frankreichs in nicht geringem Maße durch gewohnheitsrechtliche Regeln geprägt. Das Recht war nicht nur zwischen Norden und Süden, sondern auch zwischen den einzelnen Regionen zersplittert; die maßgeblichen Regeln lassen sich oft nur mühsam ermitteln. Ab dem 12. Jahrhundert erschienen überall in Frankreich Sammlungen von lokalen bzw. regionalen Rechten, die zunächst vor allem Gewohnheitsrecht aufzeichnen (Coutumes). Mit den im Ancien Régime als Ordonnances bezeichneten Gesetzesnormen schließlich versuchten die französischen Könige insbesondere seit dem 16. Jahrhundert zum einen, die Rechtsfindung zu erleichtern und zum zweiten, die herrschende Rechtszersplitterung zu mildern. Handelte es sich dabei zunächst um Aufzeichnungen jeweils geltender Rechtsbräuche (insbesondere der in der Rechtspraxis sehr wichtigen Coutume de Paris), nutzten die Könige die Ordonnances im weiteren Verlauf als Instrument eigener Gesetzgebung und legten damit die langfristige Grundlage für die Rechtsvereinheitlichung unter Napoléon Bonaparte (Code civil, Code de Commerce). Dabei wird zuweilen zwischen „eigentlichen Verordnungen“ (ordonnances proprement dites), Edikten (édits) und Anordnungen (déclarations) unterschieden. Während Anordnungen ein bestehendes Gesetz ergänzten oder interpretierten und Edikte eher Einzelfragen regelten, betraf die eigentliche Verordnung als Vorläufer des Kodifikationsgedankens umfassende Rechtsmaterien. Mit einer sog. Ordonnance de réformation wie z.B. dem Code Michau reagierte der König auf Regelungsvorschläge der Generalstände; entsprechend umfassend, wenn auch nicht systematisch durchgebildet, war häufig ihr Regelungsumfang.

In der heutigen Rechtspraxis werden mit Ordonnances (die allerdings nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sind) im Sinne von Verordnungen Rechtsakte der Regierung bezeichnet, mit denen die Zuständigkeit des Parlaments teilweise in bemerkenswert weitem Umfang umgangen werden kann, was in der Literatur nicht selten auf Kritik stößt. So ist die jüngste Reform des Code de commerce im Wesentlichen im Verordnungswege erfolgt.

2. Regelungsgegenstände

a) Rechtsfeststellende Ordonnances

Die erste wichtige, durch Karl VII. nach dem Ende des Hundertjährigen Kriegs erlassene und damit die „Neugründung“ Frankreichs begleitende sog. Ordonnance von Montil-les-Tours (1453) vereinheitlichte selbst noch nicht das Recht. Sie ordnete – gewissermaßen in einer Vorstufe – nur an, die jeweiligen regionalen „Gewohnheitsrechte, Gebräuche und Verfahrensweisen“ (Coutumes) nieder zu schreiben, um sie im Interesse eines bon ordre de justice leichter feststellen zu können. Diese zunächst erkennbare Zurückhaltung beruhte nicht etwa darauf, dass der König etwa einen „Wettbewerb der (lokalen und regionalen) Rechtsordnungen“ hätte ermöglichen wollen, sondern auf seiner zu dieser Zeit noch beschränkten Kompetenz zum Gesetzeserlass und der Notwendigkeit, nach dem mit England geführten Krieg und dem französischen Bürgerkrieg das geltende Recht zu ermitteln. Königliche Gesetze waren ursprünglich an die Zustimmung der wichtigsten Regionalfürsten gebunden, die aber mit dem ab der Mitte des 13. Jahrhunderts erkennbaren Machtzuwachs des Königs recht bald nur noch formell eingeholt wurde. Ab dem 14. Jahrhundert begannen zwar die Generalstände, also die Vertreter von Adel, Klerus und Drittem Stand, einen gewissen Einfluss auf die königliche Gesetzgebung zu nehmen, ohne dass dieser indes überschätzt werden sollte. Der König nahm entsprechende Initiativen eher zum Anlass oder Ausgangspunkt für eine Regelung, als dass inhaltliche Wünsche vollständig übernommen worden wären. Wesentliche anordnende Inhalte der Ordonnances im 13. und 14. Jahrhundert waren dabei Fehdeverbote, die der Vermeidung allgegenwärtiger Privatkriege der Lehnsfürsten – in die häufig auch deren Verwandte einbezogen waren – dienten und insbesondere in Zeiten auswärtiger Kriege (vor allem auch der Auseinandersetzung mit England) des französischen Königs unerwünscht waren. Diese Fehdeverbote entfalteten indes kaum eine nennenswerte Wirkung. Erst mit der Ordonnance Cabochienne (1413) konnte das Zeitalter der Privatkriege beendet werden.

b) Übergang zu rechtsgestaltenden Ordonnances

Die Niederschriften der Coutumes (Gewohnheitsrechte) gaben den Anstoß, sich näher mit ihnen zu befassen. So avancierte etwa die 1510 amtlich fixierte Coutume de Paris auch dank eines Kommentars von Dumoulin (1539) und ihrer Neufassung 1580 zur Grundlage des nordfranzösischen Gewohnheitsrechts, mit dem der Einfluss des römischen Rechts verringert werden sollte. Zusehends wurden allerdings auch bestimmte Einzelfragen neu geregelt. So legte die Ordonnance de Roussillon (1549) den Jahresbeginn auf den 1. Januar statt Ostern fest, mit der Ordonnance de Moulin beschnitt Karl IX. 1566 die Rechte der Parlements (königliche Obergerichte) und der lokalen Gouverneure (als Vertreter des Königs). Die von Heinrich III. erlassene Ordonnance de Blois (1579) untersagte geheime Eheschließungen und führte ein von der Kirche geführtes Eheregister ein.

c) Die Ordonnances als Grundlage beginnender Rechtsvereinheitlichung

Die französischen Könige erkannten die Ordonnances zunehmend als Chance, stärkeren Einfluss auf die Rechtsentwicklung zu nehmen und rechtsvereinheitlichende Instrumente für ganze Rechtsgebiete zu erlassen. Bereits die Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539) (auch Ordonnance Guillemine bzw. offiziell Ordonnance générale sur le fait de la justice, police et finances genannt) hatte bestimmte Fragen der Kirchengerichtsbarkeit geregelt, die Einrichtung eines generellen Taufregisters angeordnet und die französische Sprache statt der regionalen „Vulgarsprachen“ oder des Lateinischen zur generellen Gesetzes- und Verwaltungssprache erklärt. Zudem enthielt sie strafrechtliche Elemente. Der Code Michau Ludwig XIII. sollte auf eine Reihe von Anregungen der Generalstände im Bereich des Zivil-, (See‑)Handels- und Eherechts sowie des Strafrechts reagieren, hätte aber die Macht der Regionalfürsten und der Parlements – insbesondere das Recht zur Registrierung einer Ordonnance als deren Geltungsvoraussetzung (sog. remontrance) – zugunsten des Königs zeitlich beschnitten und scheiterte daher letztlich nicht zuletzt auf Betreiben Kardinal Richelieus. Danach entstanden indes unter Ludwig XIV., in dessen Regierungszeit die Generalstände nicht mehr einberufen wurden und der zunehmenden Gebrauch von umfassenden Gesetzesinstrumenten machte, in rascher Abfolge die das Zivilprozessrecht betreffende Ordonnance civile touchant la réformation de la justice (auch Ordonnance de S. German-en-Laye oder Code Louis genannt) (1667), die straf- und strafprozessrechtsvereinheitlichende Ordonnance criminelle (1670), die Ordonnance du commerce bzw. Code Marchand (1673) und die Ordonnance de la marine (1681). Der Code Louis regelte umfassend den Zivilprozess gegliedert nach seinem Ablauf von der Ladung bis zur Zwangsvollstreckung. Auch wenn er teilweise neue Rechtsvorschriften enthielt, diente er doch vor allem der systematischen Erfassung bestehenden Rechts und vereinheitlichte und vereinigte das französische Zivilprozessrecht in einem einzigen Gesetzbuch. Entgegenstehende Regeln wurden ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Die Ordonnance criminelle kodifizierte in ähnlicher Weise umfassend den Strafprozess und versuchte, mit einer rigiden Beschneidung der Rechte des Angeklagten die Kriminalität zu bekämpfen. Die beiden letztgenannten Normwerke regelten das Handels- und See(handels)recht und avancierten damit zu den ersten Kodifikationen des Handelsrechts in Europa. Inhaltlich enthielt der Code Marchand Regelungen zum Kaufmannsstand, den Handels- und Bankgeschäften und der Handelsgerichtsbarkeit. Die Ordonnance de la marine regelte schließlich umfassend das öffentliche und private Seehandelsrecht, um dem Seerecht Englands und der Hanse zur Mehrung französischen Wohlstandes im Geiste des Merkantilismus ein eigenes Regelungsregime entgegensetzen zu können. Mit dem letztlich in seiner praktischen Wirkung eher unbedeutenden Code Noir (1685) wurden schließlich die Rechtsverhältnisse der (schwarzen) Sklaven in den französischen Territorien geregelt.

Eine bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Daguesseau unter Ludwig XV. erwogene schrittweise Gesamtkodifikation des französischen Zivilrechts gelangte über den Erlass von Ordonnances über Schenkungen (1731), Testamente (1735) und Substitutionen im Fideikommissrecht (1748) nicht hinaus.

3. Bedeutung

Die hier nur beispielhaft aufgezählten Ordonnances avancierten also im Ancien Régime von einer bloßen Sammlung von Gewohnheitsrecht über eine auf Initiative der Generalstände versuchte Rechtsvereinheitlichung zu einem mächtigen Kodifikationsinstrument des Königs. Ihre jeweilige Bedeutung hing dabei stets vom aktuellen Machtgefüge – insbesondere der Stellung des Königs gegenüber den regionalen Fürsten und den Generalständen – ab. Es verwundert daher nicht, dass die vier zitierten Ordonnances Ludwig XIV., die sog. Grandes Ordonnances, den größten Einfluss erlangten. Die beiden handelsrechtlichen Ordonnances, verfasst unter dem Einfluss des Begründers des Merkantilismus, Jean-Baptiste Colbert, und des Handelsrechtlers Jacques Savary, sowie der Code Louis und die Ordonnance criminelle hatten nachhaltige Wirkung auf die Entstehung und Ausformung des französischen Handels-, Prozess- und Strafrechts. Neben diesen konkreten Einflüssen erwiesen die Ordonnances sich letztlich als notwendige Voraussetzung der französischen Rechtseinigung, wie sie energisch allerdings erst im Code civil und seinen Schwestergesetzen – u.a. dem Code de Commerce – verwirklicht werden sollte. Die Grandes Ordonnances Ludwigs XIV. sind als Kodifikationen und damit umfassende Regelung eines breiten Rechtsgebiets, nicht als (ungeordnete) Kompilationen existierender Rechtsvorschriften anzusehen, selbst wenn ihr Wert nicht in der Einführung bahnbrechender, neuer Regeln, sondern in der Systematisierung des gewohnheitsrechtlich und in zahlreichen vorhergehenden Ordonnances zersplitterten Rechtsstoffs liegt. Dabei hatten die Grandes Ordonnances ihre wesentliche Bedeutung im öffentlichen Recht. Dagegen fehlt den Daguessau’schen zivilrechtlichen Normwerken der kodifikatorische Anspruch, weil mit ihnen nur einzelne Rechtsinstitute, nicht aber umfassende Rechtsbereiche geregelt wurden. Mit ihnen sollte zudem im Wesentlichen nur die Gesetzesanwendung durch die Parlements, nicht aber das in den Gebieten von droit coutumier und droit écrit unterschiedliche materielle Recht vereinheitlicht werden. Für alle Ordonnances gilt aber die Feststellung, dass sie „kein Instrument zur Rechtserneuerung, sondern vielmehr zur Rechtsbewahrung [waren]: sie setzte[n] nicht neues Recht, sondern altes Recht neu“ (Walter Wilhelm).

Literatur

Ernest Glasson, Histoire du droit et des institutions de la France VIII, 1903, §§ 17 ff.; Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 1910, 220 ff.; Adhémar (Jean Hippolyte Emmanuel) Esmein, Cours élémentaire d’histoire du droit français, 1925, 816 ff.; Walter Wilhelm, Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, Ius Commune, 1 (1967) 241 ff.; Heinrich Kaspers, Vom Sachsenspiegel zum Code Napoléon, 1978, 155 ff.

Quellen

Die königlichen Ordonnances des Ancien Régime finden sich bei Athanase-Jean-Léger Jourdan, François-André Isambert, Alphonse-Honoré Taillandier (Hg.), Recueil général des anciennes lois françaises, depuis l'an 420 jusqu'à la Révolution de 1789, 1821–1833 (abrufbar unter <www.gallica.bnf.fr>).

Abgerufen von Ordonnances – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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