Massenentlassung von Arbeitnehmern
von Gregor Thüsing/Gerrit Forst
1. Wirtschaftsrealität und Normativgefüge
Die Entlassung, d.h. die arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses, stellt für den Arbeitnehmer einen schwerwiegenden Eingriff in seine Lebensführung dar. Seine langfristige Finanz- und Lebensplanung wird in Frage gestellt und nicht selten ist er gezwungen, seine Wurzeln aufzugeben, um an anderem Ort neue Arbeit zu finden. Ein Hauptanliegen des Arbeitsrechts war es daher seit jeher, den Arbeitnehmer gegen willkürliche oder ungerechtfertigte Kündigungen zu schützen (§ 1 KSchG, sec. 94, 98 Employment Rights Act 1996). Dies gilt umso mehr, wenn es infolge von wirtschaftlichen Umstrukturierungen zur simultanen Beendigung einer Vielzahl von Arbeitsverhältnissen kommt. Auch, aber nicht nur in regional begrenzten Märkten hat die Freisetzung einer Vielzahl von Arbeitnehmern einen verstärkten Angebotsüberhang an Arbeitskraft zur Folge. Dies macht es für die Entlassenen umso schwieriger, in Lohn und Brot zurückzukehren.
Die Europäische Gemeinschaft steht hier insoweit in besonderem Maße in der Verantwortung, als sie mit der Verwirklichung des Binnenmarktes die Voraussetzungen für die schnelle, unkomplizierte Verlagerung von Produktionsstätten geschaffen hat, welche regelmäßig zur Entlassung der Arbeitnehmer an den ursprünglichen Standorten führt. Da das Preis- und insbesondere Lohnniveau in den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten – vergleichbar der Situation bei früheren Erweiterungsrunden – weit unter dem der Gründungsmitglieder liegt, wird dieses Problem auch in Zukunft die Arbeitmärkte in den alten Mitgliedstaaten belasten. Die Gemeinschaft hat vor dem Hintergrund einer sich globalisierenden Wirtschaftsordnung geholfen, wirtschaftliche Kräfte freizusetzen, welche das Wohlstandsniveau insgesamt steigern. Die Konstante Standort jedoch wandelt sich zur Variablen in der Kosten-Nutzen-Rechnung. Mit der Richtlinie zur Massenentlassung RL 75/129, ergänzt durch RL 92/56 und RL 98/59, versucht die Gemeinschaft, die schädlichen Auswirkungen der Kräfte, die sie rief, wieder zu bändigen. Die Rechtsakte sind getragen von dem Bewusstsein, dass es „unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft [wichtig ist], den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken“ (Erwägungsgrund 2 RL 98/59). Die Richtlinien verpflichten die Arbeitgeberseite, bei Massenentlassungen die Personalvertreter zu konsultieren.
Weitaus älter als die Kodifikationen der Gemeinschaft ist das Recht der Massenentlassung in Deutschland. Hier erkannte man schon infolge der Verheerungen von Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise die schädlichen Auswirkungen von Betriebsschließungen und Massenentlassungen auf den Arbeitsmarkt und die Gesamtwirtschaft. Die früheste deutsche Regelung zur Massenentlassung war die Stilllegungsverordnung in der Fassung vom 15.10. 1923. Die Stilllegungsverordnung, erlassen 1920, wollte ursprünglich einen volkswirtschaftlich unerwünschten Abbruch von Betriebsanlagen oder deren Stilllegung nach dem Ersten Weltkrieg verhindern, verfolgte damit also ein wirtschaftspolitisches, kein arbeitsmarktpolitisches Ziel. Anders die Demobilmachungsverordnungen, welche ab 1923 aufgehoben wurden. Danach griff eine Entlassungssperre ein, wenn es zum Abbruch oder zur Stilllegung von Betriebsanlagen kam, was schon damals als unbefriedigend empfunden wurde. Erst § 20 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 hob diese Verbindung auf und machte den Kündigungsschutz einzig von der Entlassung einer bestimmten, nach der Größe der Betriebe abgestuften Mindestzahl von Arbeitnehmern abhängig. Dabei ist es bis heute geblieben. Seit 1969 regeln die §§ 17–22 KSchG die Pflichten des Arbeitgebers bei der Massenentlassung. Das rein nationale Recht machte also eine Entwicklung durch von einem wirtschaftspolitischen hin zu einem arbeitsmarktbezogenen Schutzzweck.
Mit der zunehmenden Prägung dieser Regelungen zur Massenentlassung durch Sekundärrecht änderte sich die Perspektive beim Schutzzweck der Normierungen erneut. Von den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch orientierten Anfängen aus ging man auch im deutschen Recht dazu über, den Erwägungsgründen der Richtlinie entsprechend den Schutz des einzelnen entlassenen Arbeitnehmers durch die Reglementierung der Massenentlassungen als primäres Gesetzesanliegen zu werten. Hinsichtlich der arbeitsmarktpolitischen Effektivität der Regelung werden allerdings verbreitet Zweifel geäußert. In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten und damit einhergehender hoher Arbeitslosigkeit griffen sie kaum, zudem seien die in Aussicht gestellten vorbeugenden oder kompensatorischen Maßnahmen der Behörden wirkungslos.
2. Umsetzung in den Mitgliedstaaten
Aufgrund des gewachsenen Normbestandes konnte Deutschland sich bei der Umsetzung der Richtlinien auf eine Neufassung des Kündigungsschutzgesetzes beschränken. Die Neufassung des § 17 KSchG wurde ab 1975 maßgeblich durch die europäische Normsetzung vorangetrieben. Nach der Richtlinie von 1975 folgte ein Anpassungsgesetz von 1978. Die Neufassung des § 17 KSchG 1978 beschränkte sich auf eine Abänderung der Messzahl der entlassenen Arbeitnehmer sowie eine ausführlichere Regelung über Form und Inhalt der Anzeige sowie die Beteiligung des Betriebsrats. Daneben wurde der Zeitraum für die Ermittlung der Entlassungen auf dreißig Kalendertage erhöht. Der Richtlinie von 1992 folgte die Umsetzung durch ein Anpassungsgesetz von 1995. Entsprechend den Vorgaben in Art. 1(1) RL 91/533 wurde § 17 Abs. 1 KSchG dahingehend ergänzt, dass die Regelungen zur Massenentlassung neben der Kündigung durch den Arbeitgeber auch „andere vom Arbeitgeber veranlasste Beendigungen des Arbeitsverhältnisses“ erfassen. Ebenfalls neu gefasst wurde § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG. Die Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat wurde erweitert. Ebenfalls neu eingefügt wurde § 17 Abs. 3 lit. a KSchG, wonach die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten auch dann gelten, wenn die Entscheidung über die Entlassung von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Dadurch wurde die Vorgabe des Art. 2(4) RL 92/56 umgesetzt und klargestellt, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Betriebsrat zu informieren und mit ihm die vorgesehenen Beratungen durchzuführen sowie Entlassungen anzuzeigen, nicht dadurch entfällt oder eingeschränkt wird, dass der Arbeitgeber in einem Konzernverbund steht und die Entscheidung über die Entlassung von dem herrschenden Unternehmen getroffen wird. Obwohl auch die RL 98/59 den Begriff des beherrschenden Unternehmens nicht definiert, besteht im Schrifttum weitgehende Einigkeit, dass hiermit im Anschluss an die Definition der RL 94/95 zu den Europäischen Betriebsräten ein Konzernverhältnis nicht erforderlich ist, sondern allein schon die Möglichkeit zur Beherrschung genügt.
In Frankreich finden sich dem deutschen KSchG entsprechende Regelungen in den Art. L-1233-8 ff. Code du travail. Großbritannien entschied sich für eine Umsetzung der Richtlinie in den sec. 188 ff. Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992. Der Code du travail und das britische Umsetzungsgesetz halten sich eng an die Vorgaben der Richtlinie. Die Umsetzungsakte sämtlicher Mitgliedstaaten finden sich auf der Internetseite von Eur-Lex, abrufbar unter <http://eur-lex.europa.eu>.
3. Schutz bei Massenentlassungen
Nach Art. 1(1) RL 98/59 sind Massenentlassungen Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus Gründen, die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegen, vornimmt und bei denen die Zahl der Entlassungen entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern; mindestens 10 % der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern; mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind, beträgt. Die Richtlinie gilt nicht für Entlassungen in Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die Besatzung von Seeschiffen und für Arbeitsverträge, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden. Deutschland hat diese Vorgaben in den §§ 17 Abs. 1, 22, 23 Abs. 2 KSchG umgesetzt, geht dabei aber über das Schutzniveau der Richtlinie teilweise hinaus. Auf eine Umsetzung „eins zu eins“ beschränkt sich dagegen sec. 188 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992.
Werden die Schwellenwerte nach Art. 1(1) RL 98/59 erreicht, muss der Arbeitgeber nach den Art. 2, 3 RL 98/59 die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig unterrichten und sie anhören, sowie der zuständigen Behörde Anzeige von der geplanten Entlassung machen. Die Konsultation der Arbeitnehmervertreter erstreckt sich inhaltlich auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch Begleitmaßnahmen, insbesondere Hilfen für eine Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer, zu mildern. Für den Inhalt der Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter stellt Art. 2(3) RL 98/59 einen Katalog auf. Dieser wurde in § 17 Abs. 2 KSchG; Art. L-1233-10 Code du travail; sec. 188 Abs. 4 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 übernommen. Die Anzeige bei der Behörde muss nach Art. 3(1) RL 98/59 die Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter enthalten.
Arbeitnehmervertreter sind nach Art. 1(1)(b) RL 98/59 die Arbeitnehmervertreter nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten. In Deutschland ist nach § 17 Abs. 2 KSchG der Betriebsrat zu konsultieren, zuständige Behörde ist die Bundesagentur für Arbeit. Das überrascht nicht, gab es die Betriebsräte als Arbeitnehmervertreter in Deutschland doch schon vor Erlass der RL 98/59. In anderen Mitgliedstaaten war dies aber nicht der Fall. Erst mit der RL 2002/14 wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein Verfahren zur Unterrichtung der Arbeitnehmer auf nationaler Ebene zu schaffen. Insofern stellt die RL 2002/14 eine institutionelle Flankierung der RL 98/59 dar. Nach sec. 188 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 sind Gewerkschaftsvertreter zu konsultieren. Art. L-1233-8 Code du travail verpflichtet zu einer Information des comité d'entreprise bzw. der délégués du personnel.
Folge des Vorliegens einer Massenentlassung ist nach Art. 4 RL 98/59 neben den beschriebenen Informationspflichten, dass Entlassungen frühestens 30 Tage nach Eingang der Anzeige bei der Behörde wirksam werden. Die Behörde kann diesen Zeitraum unter bestimmten Voraussetzungen auf 60 Tage verlängern. Die Mitgliedstaaten können nach Art. 5 RL 98/59 für die Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen vorsehen. Dazu zählt in Deutschland etwa die Möglichkeit, Kurzarbeit einzuführen (§ 19 KSchG). Nach Art. 6 RL 98/59 muss der Arbeitnehmerseite ein Rechtsschutzverfahren zur Seite stehen.
Die Auslegung der in der Richtlinie verwendeten Termini bereitete wie so oft gewisse Schwierigkeiten, wichtige Begriffe der RL 98/59 wurden inzwischen aber höchstrichterlich geklärt. Das gilt zunächst für den Begriff des Betriebes. In der Rechtssache Athinaïki Chartopoiía (Rs. C-270/05, Slg. 2007, I-1499) entschied der EuGH, dass eine Produktionseinheit ohne eigene verwaltungsmäßige Einrichtung unter den Begriff „Betrieb“ im Sinne der RL 98/59 fällt. „Betrieb“ ist danach die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Maßgeblich ist damit nicht, ob die fragliche Einheit rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzt. Bedeutsamer vor allem für das deutsche Recht war die Entscheidung in der Rechtssache Junk (Rs. C-188/03, Slg. 2005, I-885) zu dem Begriff der Entlassung. Meint sie den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses oder aber den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung? Der EuGH entschied, dass die Kündigungserklärung gemeint sei, welche erst nach Abschuss des Konsultations- und Anzeigeverfahrens erfolgen dürfe. Zur Begründung verweist er auf den Sinn und Zweck der RL 98/59. Aus Art. 3(2) RL 98/59 folge, dass Kündigungen zu vermeiden oder zahlenmäßig zu beschränken seien. Dieses Ziel lasse sich nicht erreichen, wenn die Konsultation mit der Arbeitnehmervertretung erst nach der Entscheidung des Arbeitgebers stattfinde. Deshalb dürfe die Kündigung des Arbeitsvertrages erst nach dem Ende des Konsultationsverfahrens ausgesprochen werden, d.h., nachdem der Arbeitgeber seine Verpflichtungen aus Art. 2 RL 98/59 erfüllt habe. Entsprechendes ergebe sich für das Anzeigeverfahren daraus, dass nach Art. 3(1) RL 98/59 die „beabsichtigte“ Entlassung anzuzeigen sei.
4. Umsetzungsdefizite in Deutschland
Obwohl die RL 98/59 in Deutschland auf einen sehr weitreichenden Kündigungsschutz des einzelnen Arbeitnehmers traf, welcher durch das Regime der Massenentlassung überlagert und damit noch verstärkt wird, bestehen noch immer mancherlei Defizite bei der Umsetzung der europäischen Vorgaben.
a) Personeller und sachlicher Anwendungsbereich
Gemäß § 17 Abs. 5 Nr. 3 KSchG sind keine Arbeitnehmer im Sinne der Regelungen zur Massenentlassung Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitenden Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind. Im deutschen Schrifttum besteht Einigkeit darüber, dass hier ein Widerspruch zu den europarechtlichen Vorgaben besteht. Selbst wenn der europäische Gesetzgeber mit der RL 98/59 wie bei der Richtlinie zu den Betriebsübergängen den Arbeitnehmerbegriff des nationalen Arbeitsrechts gelten lassen wollte, würde dies nicht für die Umsetzung der RL 98/59 genügen, denn auch der leitende Angestellte ist Arbeitnehmer im Sinne des deutschen Arbeitsrechts (Betriebsübergang). Zudem hat der EuGH in verschiedenen Entscheidungen klargestellt, dass es eine allgemeine Regel, wonach im Zweifel das nationale Recht für die Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs maßgeblich ist, nicht gibt.
Weiter besteht in Bezug auf Arbeitnehmer im kirchlichen oder diakonisch/karitativen Dienst ein Umsetzungsdefizit. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern nimmt das kirchliche Arbeitsrecht eine Sonderstellung ein (s. etwa Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV oder die erleichterte Kündigung kirchlicher Mitarbeiter bei Verstößen gegen die kirchliche Lehre in Frankreich, Irland und Italien). Weil es im kirchlichen Dienst gemäß § 118 Abs. 2 BetrVG keine Betriebsräte gibt, greift auch nicht § 17 Abs. 2 KSchG, der nur ein Anhörungsrecht für Betriebsräte kennt. Die Richtlinie spricht jedoch allgemein von „Arbeitnehmervertretern nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten“. Solche Arbeitnehmervertreter sind aber auch die Mitarbeitervertretungen in kirchlichen Einrichtungen, die funktional einem Betriebsrat vergleichbar sind. Gemäß Art. 1(2)(b) RL 98/59 ist diese zwar nicht auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts anwendbar und in Deutschland sind die evangelische und die katholische Kirche Körperschaften des öffentlichen Rechts, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV. Die Besonderheiten des kirchlichen Dienstrechts bestehen jedoch auch für privatrechtlich organisierte Arbeitgeber, soweit sie der Kirche zugeordnet sind und sie einen Teil des Sendungsauftrags der Kirchen erfüllen, also nicht allein erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen. Für diese Fälle verbleibt die Umsetzungslücke des § 17 KSchG. Eine europarechtskonforme Auslegung im Hinblick auf Mitarbeitervertretungen scheint deshalb zukünftig geboten, wie das deutsche Schrifttum sie für Sprecherausschüsse bereits jetzt befürwortet.
Schließlich könnte sich ein Umsetzungsdefizit in § 22 KSchG über Saison- und Kampagnenbetriebe auftun. Danach greift der Schutz vor Massenentlassung nicht bei Saison- und Kampagnenbetrieben ein, soweit die Entlassungen durch die Eigenart des Betriebs bedingt sind. Saisonbetriebe sind Betriebe, die ganzjährig arbeiten, bei denen aber die Tätigkeit in einer bestimmten Jahreszeit verstärkt ist, z.B. Skilifte oder Seilbahnen zu Aussichtspunkten. Kampagnebetriebe sind Betriebe, die nur einige Monate im Jahr arbeiten, z.B. Vergnügungsparks oder Freibäder. Es ist fraglich, ob diese Ausnahme von Art. 1(2)(a) RL 98/59 gedeckt ist. Danach findet die Richtlinie keine Anwendung auf „Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit (limited periods of time or for specific tasks; pour une durée ou une tâche déterminées) geschlossen wurden, es sei denn, dass diese Entlassungen vor Ablauf oder Erfüllung dieser Verträge erfolgen“. Der Wortlaut des Art. 1(2)(a) RL 98/59 ist hier unergiebig, ausgeschlossen erscheint ein Übersetzungsfehler. Für die Zulässigkeit des Ausschlusses von Saison- und Kampagnenbetrieben lässt sich aus systematischer Sicht anführen, dass in demselben Absatz Besatzungen von Seeschiffen und Bedienstete öffentlicher Einrichtungen ausgeschlossen werden, so dass auf die Eigenart des Arbeitsumfeldes und nicht auf die Vertragsgestaltung abgestellt wird. Zudem wäre die Alternative „Tätigkeit“ sinnentleert, wenn man allein befristete Arbeitsverträge als erfasst ansehen würde, so dass § 22 KSchG europarechtskonform zu sein scheint.
b) Sanktionen bei Verstößen gegen die Unterrichtungspflicht
Gemäß Art. 6 RL 98/59 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, „dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß [der] Richtlinie zur Verfügung stehen.“ Hier wird den Mitgliedstaaten ausdrücklich anheim gestellt, entweder der Arbeitnehmervertretung oder dem einzelnen Arbeitnehmer oder aber beiden Rechtsschutz zur Durchsetzung der Unterrichtungs- (§ 17 Abs. 2 S. 1 KSchG) und Beratungspflicht (§ 17 Abs. 2 S. 2 KSchG) zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen Sanktionen zur Durchsetzung einer Richtlinie wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Ob der deutsche Gesetzgeber dem gerecht wird, erscheint zweifelhaft. Das KSchG enthält keine ausdrücklichen Regelungen zu der Frage, welche Sanktionen eine Verletzung der Unterrichtungs- und Beratungspflicht hat.
Relativ unproblematisch ist gleichwohl eine Verletzung der Unterrichtungspflicht. Nach § 17 Abs. 3 KSchG ist die Stellungnahme des Betriebsrates der Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit beizufügen, so dass bei fehlender Unterrichtung und damit Stellungnahme keine wirksame Anzeige vorliegt, wodurch die Kündigung gemäß § 18 Abs. 1 KSchG unwirksam wird. Der einzelne Arbeitnehmer kann dies gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b ArbGG gerichtlich geltend machen. Mehr verlangt Art. 6 RL 98/59 nicht, denn es genügt, dass die Arbeitnehmer die Rechte geltend machen können. Anders als in Deutschland kann nach sec. 189 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 hingegen nur die Gewerkschaft das Arbeitsgericht anrufen.
Problematisch ist die Rechtslage, soweit sie die Verletzung der Beratungspflicht betrifft. Man kann erstens die Kündigung gemäß § 18 KSchG für unwirksam erachten, weil die Anzeige ohne vorherige Beratung unwirksam ist. Indes ergibt sich e contrario § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG, dass die bloße Unterrichtung für eine wirksame Anzeige genügt, so dass sich diese Rechtsfolge mit der geltenden Rechtslage nicht vereinbaren lässt. Zweitens kann man die Massenentlassung den §§ 111 ff. BetrVG unterwerfen, wenn hierin immer eine Betriebsänderung zu sehen ist. Jedoch erfasst die Ausgleichspflicht nach § 113 BetrVG nicht die Beratung über soziale Begleitmaßnahmen i.S.d. Art. 2(2) RL 98/59, zum anderen ist wegen abweichender Schwellenwerte nicht jede Massenentlassung zugleich eine Betriebsänderung. Drittens kann man dem Betriebsrat einen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber gewähren und so die Entlassung unterbinden. Dies wäre wirksam, verhältnismäßig und abschreckend. Indes kann ein Unterlassungsanspruch, etwa analog § 1004 BGB, nicht gewährt werden, weil die Sondervorschrift in § 23 Abs. 3 BetrVG als abschließend anzusehen ist. Damit ermöglicht das deutsche Recht Massenentlassungen, die ohne vorherige Beratung wirksam sind.
Das deutsche Recht ist damit lückenhaft und mit den Vorgaben von Art. 6 RL 98/59 nicht zu vereinbaren. Der deutsche Gesetzgeber hat die Wahl, er kann entweder die Kündigung für unwirksam erklären und so Individualrechtsschutz gewähren, was wegen der Alternativformel in Art. 6 RL 98/59 ausreichend wäre, oder er gewährt dem Betriebsrat ein Recht auf Durchsetzung der Beratungspflicht, welches dieser gerichtlich geltend machen kann. Europarechtlich zulässig wäre auch eine Kumulation beider Rechtsschutzinstrumente.
5. Kündigungsschutz in anderen Mitgliedstaaten
Neben dem Schutz des Arbeitnehmers bei Massenentlassungen kennen die meisten Mitgliedstaaten einen individuellen Kündigungsschutz recht unterschiedlicher Qualität. In Frankreich gibt es die Kündigung aus personenbezogen Gründen (licenciement pour motif personnel) bei Vorliegen eines wichtigen Grundes (cause réelle et sérieuse) sowie die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen (licenciement pour motif économique), Art. L-1231-1 ff. Code du travail. Im Vereinigten Königreich gewährt sec. 94 Employment Rights Act 1996 jedem Arbeitnehmer Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung. Sec. 98 Employment Rights Act 1996 enthält eine Reihe von Gründen, aus denen eine Kündigung gerechtfertigt werden kann, darunter auch eine Generalklausel.
Literatur
Martina Ahrendt, Der Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen in Frankreich, 1995; Rüdiger Lotz, Arbeitsrechtlicher Kündigungsschutz in Spanien, 1997; Hellmut Wißmann, Probleme bei der Umsetzung der EG-Richtlinie über Massenentlassungen in deutsches Recht, Recht der Arbeit 1998, 221; Bernhard Opolony, Die anzeigepflichtige Entlassung nach § 17 KSchG, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 1999, 791 ff.; Steven D. Anderman, The Law of Unfair Dismissal, 3. Aufl. 2001; Antje Marieke Bovenberg, Kündigung und Kündigungsschutz im Italienischen Arbeitsrecht, 2003; Mark Lembke, Jens-Wilhelm Oberwinter, Massenentlassungen zwei Jahre nach Junk – Eine Bestandsaufnahme, Neue Juristische Wochenschrift 2007, 721 ff.; Jean Pélissier, Alain Supiot, Antoine Jeammaud, Gilles Auzero, Droit du travail, 24. Aufl. 2008; Norman Selwyn, Law of Employment, 15. Aufl. 2008; Gregor Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2008, § 6; Gerrit Forst, Die ad-hoc-pflichtige Massenentlassung, Der Betrieb 2009, 607 ff.