Burgerlijk Wetboek
von Liane Schmiedel
Das Burgerlijk Wetboek (BW) ist das Bürgerliche Gesetzbuch der Niederlande.
1. Geschichte und Entwicklung des Burgerlijk Wetboek
a) Die Geschichte des BW von 1838
Das BW trat am 1.10.1838 in Kraft. Seinem Erlass gingen verschiedene Entwürfe voraus, die sich jedoch, nicht zuletzt aufgrund der wechselvollen politischen Entwicklung in der Geschichte der Niederlande, nicht haben durchsetzen können. Bereits mit der Gründung der Batavischen Republik aus den sieben niederländischen Provinzen im Zuge der französischen Revolution war 1798 der Auftrag zu einer Kodifikation des gesamten bürgerlichen Rechts ergangen (Art. 28 der Batavischen Verfassung). Die Rechtssituation in den Niederlanden war zu diesem Zeitpunkt geprägt vom sogenannten oud-vaderlands recht. Dieses setzte sich aus den in den einzelnen Provinzen geltenden Gewohnheitsrechten sowie dem subsidiär geltenden gemeinen Recht zusammen. In der Praxis hatte dabei vor allem das römische Recht einen großen Einfluss, da sich die juristische Ausbildung an den Universitäten auf dieses konzentrierte (römisch-holländisches Recht). Bevor die mit der Abfassung eines Entwurfes beauftragte Staatskommission einen solchen jedoch vorlegen konnte, wurden die Niederlande 1806 das Königreich Holland unter der Regentschaft von Louis Bonaparte, einem Bruder Napoleons. Dieser setzte zunächst die Arbeit an einem eigenständigen Gesetzbuch der Niederlande fort und beauftragte nach dem Scheitern der Staatskommission den Amsterdamer Anwalt Johannes van der Linden, einen ausgewiesenen Sachverständigen des oud-vaderlands recht. Der von ihm vorgelegte Entwurf konnte jedoch ebenfalls nicht mehr erlassen werden, da Napoleon auf einer Einführung der französischen Gesetze in den Niederlanden bestand. Am 1.5.1809 trat daher zunächst das Wet Napoleon ingerigt voor het Koningrijk Holland in den Niederlanden in Kraft. Hierbei handelte es sich um eine an die niederländischen Verhältnisse angepasste Version des Code civil. Allerdings wurden bei der Anpassung einige Vorschläge aus dem Entwurf van der Linden übernommen. So wurde insbesondere im Bereich der Eigentumsübertragung die aus dem römischen Recht übernommene Voraussetzung eines gesonderten Übertragungsaktes beibehalten, während das französische Recht an dieser Stelle die obligatorische Vereinbarung genügen ließ. Dem Wet Napoleon war jedoch keine allzu lange Geltungsdauer beschieden, denn mit der Annektierung der Niederlande wurde schließlich 1811 der Code civil eingeführt.
Dieser galt zunächst auch nach der Befreiung von 1813 vorläufig weiter. Bereits 1814 wurden allerdings die Kodifikationsbestrebungen wieder aufgenommen. Beauftragt wurde Johan Melchior Kemper. Dieser bemühte sich um einen vollständig vom Code civil losgelösten, rein niederländischen Entwurf, basierend auf dem oud-vaderlands recht. Als er ihn 1816 vorlegte, hatte sich die politische Lage jedoch wiederum so stark verändert, dass eine Einführung nicht mehr möglich war. Die (nördlichen) Niederlande waren auf dem Wiener Kongress mit den südlichen Niederlanden (Belgien) vereinigt worden und die zu den Beratungen über den Entwurf hinzugezogenen belgischen Juristen sprachen sich gegen den stark vom Recht in den nördlichen Niederlanden geprägten Entwurf aus. Auch ein 1820 von Kemper vorgelegter, überarbeiteter Entwurf fand keine Mehrheit; dies nicht zuletzt deshalb, weil auch unter den Juristen aus den nördlichen Niederlanden mittlerweile die Zustimmung für den Code civil gewachsen war. Eine neue Kommission unter Vorsitz des Präsidenten des Gerichtshofs zu Lüttich, Pierre Thomas Nicolai, einem erklärten Verfechter des Code civil, wurde beauftragt. Deren Entwurf war 1829 fertig gestellt, wurde jedoch aufgrund der Abspaltung Belgiens 1830 nicht mehr Gesetz. Erst 1838 kam es schließlich zum Erlass des Burgerlijk Wetboek in den Niederlanden. Trotz einer zwischenzeitlich, mit dem Ziel der „Bereinigung des Gesetzbuches von französischen Einflüssen“, erfolgten Überarbeitung, beruhte das BW zum überwiegenden Teil auf dem Entwurf Nicolai und damit auf dem Code civil.
b) Die Neukodifikation unter dem Einfluss Eduard Maurits Meijers
Schon bald nach der Einführung 1838 wurde systematische und inhaltliche Kritik am BW laut. Trotz mehrerer Anläufe kam es jedoch nicht zu einer Neukodifikation. Mit Ausnahme des Dienstvertrags-, Arbeitsvertrags- und Mietrechts wurden lediglich kleinere Anpassungen und Änderungen am BW durch den Gesetzgeber vorgenommen. Eine fortwährende Rechtsentwicklung, die nicht nur auf die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse reagierte, sondern auch die Einflüsse aus den im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts neben dem Code civil ergangenen europäischen Kodifikationen (insbesondere dem BGB) aufnahm, fand dagegen durch die Rechtsprechung statt. Dies führte dazu, dass die tatsächliche Rechtslage zunehmend von dem im BW niedergelegten Recht abwich. 1947 erging daher ein umfassender Auftrag zur Neukodifikation an den Leidener Professor Eduard Maurits Meijers. Meijers war einer der bedeutendsten niederländischen Zivilrechtler des 20. Jahrhunderts. Seine Bibliographie umfasst mehr als 400 Artikel und 800 Urteilsanmerkungen. Neben dem bürgerlichen Recht galt sein Interesse vor allem auch der Rechtsgeschichte. Meijers erhielt den Auftrag, das gesamte, tatsächlich bestehende bürgerliche Recht zu erfassen, zu systematisieren und das BW den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Meijers hatte sich bereits sehr früh in seiner akademischen Karriere mit der Idee einer Neukodifikation beschäftigt. Seinem Entwurf lagen daher nicht nur umfassende rechtsvergleichende Studien, sondern auch empirische Untersuchungen zugrunde. Der Entwurf für das neue BW sah neun Bücher vor: Buch 1 Personen- und Familienrecht, Buch 2 Recht der juristischen Personen, Buch 3 Allgemeines Vermögensrecht, Buch 4 Erbrecht, Buch 5 Sachenrecht, Buch 6 Allgemeines Schuldrecht, Buch 7 Besondere Verträge, Buch 8 Transportrecht und Buch 9 Recht des geistigen Eigentums. Zudem sollte dem BW ein einleitender Teil mit den wichtigsten Rechtsprinzipien vorangestellt werden. Bis zu seinem Tod 1954 konnte Meijers jedoch lediglich für die ersten vier Bücher einen vollständigen Entwurf vorlegen. Die Entwürfe für die übrigen Bücher, die zu diesem Zeitpunkt unterschiedlich weit gediehen waren, konnte er dagegen nicht mehr publizieren.
Nach seinem Tod wurde die Arbeit von verschiedenen Kommissionen fortgesetzt. Dies führte, neben dem großen Umfang der Arbeiten und anhaltenden Streitfragen in einigen Bereichen, wie z.B. dem Erbrecht, zu einer Verzögerung der Gesamtkodifikation. Aufgrund des dringenden Reformbedarfs in einigen Bereichen, insbesondere dem Familienrecht, entschloss man sich daher schließlich dazu, die einzelnen Bücher nacheinander einzuführen. So trat 1970 zuerst das Buch 1 in Kraft, es folgten 1976 Buch 2 und 1991 Buch 8. 1992 wurde schließlich mit dem Vermögensrecht in den Büchern 3, 5, 6 und 7 der Hauptteil des BW eingeführt, weshalb dieses Jahr (wenngleich etwas ungenau) allgemein als Jahr der Neukodifikation bezeichnet wird. Trotz der lang anhaltenden Arbeit an diesen Büchern basieren Teil 3 und 5 in ihrem Inhalt und ihrer Einteilung immer noch größtenteils auf dem Entwurf Meijers. Der bisher letzte Teil, das Buch 4, trat am 1.1.2003 in Kraft. Die Arbeiten an Buch 9 wurden dagegen aufgrund der umfangreichen internationalen Regelung dieser Materie zwischenzeitlich eingestellt. Allerdings gibt es mittlerweile einen Vorentwurf der Staatscommissie Internationaal Privaatrecht zu einem Buch 10, welches das internationale Privatrecht enthalten soll; eine Materie die in den Niederlanden momentan lediglich durch zahlreiche Einzelgesetze, multilaterale Verträge und Richterrecht geregelt ist.
2. Systematik und materiell rechtliche Charakteristika des neuen Burgerlijk Wetboek
Das neue BW folgt mit den Regelungen zum Personen- und Familienrecht in Buch 1 und der anschließenden Regelung des Sachen- und Schuldrechts in den Büchern 5 bis 8 teilweise immer noch der alten, aus dem Code civil übernommenen, Systematik. Rein verfahrensrechtliche Regelungen zu Ansprüchen, wie die im alten BW noch in Buch 4 enthaltenen Regeln zum Beweis wurden jedoch in das Wetboek van Burgerlijk Rechtsvordering (Zivilprozessordnung) ausgelagert. Das Erbrecht wurde aus dem Sachenrecht in ein eigenes Buch 4 ausgegliedert. Das Gesellschaftsrecht wurde als Regelung der juristischen Personen nach dem Recht der natürlichen Personen in Buch 1 als Buch 2 aufgenommen. Vollständig neu im BW ist ein Allgemeiner Teil des Vermögensrechts, der als Buch 3 eingeführt wurde.
Das BW enthält nunmehr das gesamte materielle Privatrecht. So wurde insbesondere die Trennung zwischen Handelsrecht und Privatrecht, wie auch schon im Codice civile und im schweizerischen ZGB, abgeschafft und das Wetboek van Koophandel (Handelsgesetzbuch) größtenteils in das BW inkorporiert. Auch das Gesellschaftsrecht hat jetzt seinen Platz im BW. Mit der Abschaffung der handelsrechtlichen Sondervorschriften (Handelsrecht) wurden zugleich ein, das gesamte Vermögensrecht des BW durchziehender, Begriff des Verbrauchers sowie rechtliche Sonderregelungen für Geschäfte mit Verbrauchern eingeführt. Der einheitliche Ansatz des BW zeigt sich auch in der Inkorporierung der auf europäischer Ebene im Bereich des Privatrechts ergangenen Richtlinien (so z.B. die Pauschalreise-RL [RL 90/314] in Art. 7: 500 ff. BW und die Haustürwiderrufs-RL [RL 85/577] in Art. 6:194 ff. BW). Auch nach Inkrafttreten des BW wurden und werden die europäischen (Verbraucherschutz‑)Richtlinien innerhalb des BW umgesetzt (z.B. die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln [RL 93/13] in Art. 6: 231 ff. BW, die Verbrauchsgüterkauf-RL [RL 1999/44] in Art. 7: 6 ff. BW und zuletzt die Richtlinie über irreführende Werbung [RL 2006/114] in Art. 6: 194-196 BW).
Ein weiteres Charakteristikum des neuen BW ist die umfassende Ausarbeitung des Grundsatzes von Treu und Glauben (redelijkheid en billigheid), der sich an mehreren Stellen im Gesetz verankert findet, z.B. Art. 3: 12, 3: 13, 6: 2, 6: 238, 6: 216 BW. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist damit bei der Auslegung von Verträgen ebenso zu berücksichtigen wie bei der Vertragsergänzung. Daneben besitzt er beschränkende Wirkung und ermöglicht dem Richter ein Abweichen von vertraglichen Vereinbarungen und sogar von (zwingendem) Gesetzesrecht. Seine Reichweite ist nicht auf das Vertragsrecht beschränkt, sondern erstreckt sich über Verweisungsbestimmungen auf andere Rechtsgebiete. Auch im Übrigen ist eine Flexibilisierung des Rechts, die Hinwendung zu offenen Normen und damit die Steigerung der Bedeutung richterlichen Ermessens zu beobachten. So können zum Beispiel die Folgen der Anfechtung (Nichtigkeit ex tunc) nach richterlichem Ermessen in bestimmten Fällen beschränkt werden (Art. 3: 53, 54 BW; Art. 6: 230 BW) und im Schadensrechtsrecht wird es dem Richter ermöglicht, in Einzelfällen von den gesetzlich vorgesehenen Folgen abzuweichen (Art. 6: 109 BW).
Modernen Tendenzen folgt auch das Recht der unerlaubten Handlungen (Deliktsrecht). Neben einer Generalklausel zur verschuldensabhängigen Haftung, welche die Entwicklungen in der Rechtsprechung seit Anfang des 20. Jahrhunderts aufgreift, finden sich umfangreiche und weitreichende Regelungen zu einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung für bestimmte Personen (Kinder, Hilfspersonen, Auftragnehmern und Vertretern) und Sachen (mangelhafte und gefährliche Sachen, Umweltverschmutzungen durch Müllkippen und Minen sowie Tiere). Die schadensrechtliche Haftung orientiert sich auch im Umfang stark am Interesse des Geschädigten. Der potentielle Schädiger wird dagegen auf die Möglichkeit der Versicherung verwiesen.
Der Grundsatz des Schutzes des redlichen Dritten durchzieht nunmehr das gesamte BW. So ist der Schutz des gutgläubigen Erwerbers einer Sache vom Nichteigentümer erweitert worden, Art. 3: 86 BW. Auch hier wurden bereits vorhandene Entwicklungen in der Rechtsprechung aufgegriffen. Daneben wurden die Möglichkeiten der Irrtumsanfechtung eingeschränkt. Neu eingeführt wurden ein allgemeiner Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung, den das niederländische Recht bisher nicht kannte sowie Regelungen zur Geschäftsführung ohne Auftrag.
3. Die Bücher des Burgerlijk Wetboek im Einzelnen
Buch 1, welches das allgemeine Personen- und vor allem das Familienrecht enthält, ist seit dem Inkrafttreten bereits mehrfach geändert worden, nicht zuletzt um den Entscheidungen des EGMR Rechnung zu tragen. Gestärkt wurden insbesondere die Rechte der Ehefrau und des nichtehelichen Kindes. Als eines der ersten Länder haben die Niederlande daneben Regelungen für registrierte Partnerschaften für hetero- und homosexuelle Paare geschaffen und im Jahr 2001 darüber hinaus das Institut der Ehe für homosexuelle Paare geöffnet.
Buch 2 enthält, neben allgemeinen Bestimmungen zum Recht der juristischen Personen, Regelungen zu den einzelnen Formen, dem Verein, der Genossenschaft, dem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, der Aktiengesellschaft, der Gesellschaft mit beschränkter Haftung und der Stiftung.
Buch 3, der Allgemeine Teil des Vermögensrechts, umfasst die Regeln zum Rechtsgeschäft, zur Stellvertretung, zur Gemeinschaft sowie zur Ausübung und Durchsetzung von Ansprüchen. Ebenfalls geregelt sind der Erwerb und Verlust von Gütern, der Besitz und die an Gütern begründbaren Rechte. Nach dem neuen niederländischen Recht sind diese Vorschriften unterschiedslos auf (körperliche) Sachen und Vermögensrechte anwendbar und wurden daher in Buch 3 aufgenommen. Im Sachenrecht des Buch 5 sind daher nunmehr lediglich die Vorschriften geregelt, die nur auf körperliche Sachen Anwendung finden können; das Nachbarschaftsverhältnis, die Erbpacht und das Wohnungseigentum.
Das Erbrecht wurde nicht nur in einem eigenen Buch zusammengefasst, es hat auch gegenüber dem alten BW umfassende Änderungen erfahren. So erfolgte im Bereich der gesetzlichen Erbfolge der Übergang vom Gradual- zum Parentelsystem. Besondere Kontroversen gab es um die Frage der Stellung des überlebenden Ehegatten, der nunmehr faktisch den gesamten Nachlass erhält.
Buch 6 enthält den allgemeinen Teil des Schuldrechts. Hier finden sich sowohl die allgemeinen Vorschriften zum Entstehen von Schuldverhältnissen, die Regelungen zum Vertragsschluss, inklusive der Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen, als auch die Vorschriften betreffend die Ausführung von Schuldverhältnissen, inklusive der Vorschriften zum Leistungsstörungsrecht. Buch 6 enthält daneben auch das Recht der unerlaubten Handlungen, der Geschäftsführung ohne Auftrag und das Bereicherungsrecht.
In Buch 7 ist das besondere Schuldrecht, in Gestalt der einzelnen Vertragstypen geregelt. Allerdings wurden noch nicht alle Vertragstypen neu kodifiziert. In Buch 7A finden sich daher weiterhin die Regelungen des alten BW zu den übrigen Vertragstypen.
Buch 8 ist vollständig dem Transportvertrag gewidmet, der vorher im Handelgesetzbuch geregelt war. In die Regelungen wurde ein Großteil der verschiedenen internationalen Verträge auf diesem Gebiet inkorporiert.
4. Das Burgerlijk Wetboek im System der europäischen Kodifikationen
Das BW von 1838 war stark vom französischen Recht geprägt. Der Entwurf Nicolai, der schließlich dem BW zugrunde lag, hatte in großen Teilen den Code civil wörtlich übernommen. Auch die das BW begleitende Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung blieben im 19. Jahrhundert stark am französischen Recht orientiert. Teilweise war die Auslegung der Vorschriften sogar strenger als im französischen Mutterland. So wurde z.B. aus Art. 1384 BW a.F. anders als aus der wortlautgleichen Bestimmung des Code civil keine allgemeine Gefährdungshaftung für Sachen abgeleitet. Auch ein allgemeiner Anspruch aus ungerechtfertigter Bereichung wurde nicht anerkannt. Trotz der aus der Übernahme von oud-vaderlands recht herrührenden Unterschiede, die neben der Regelung des Eigentumserwerbs auch im Bereich des Erb- und Familienrechts bestanden, wurde das niederländische Recht (das Burgerlijk Wetboek) daher allgemein der französischen Rechtsfamilie zugeordnet.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden jedoch die Einflüsse aus dem deutschen Rechtskreis stärker. Großes Interesse riefen insbesondere die Kodifikationen in Deutschland (BGB) und in der Schweiz hervor. Die Rechtsprechung, die sich ihrer Bedeutung für die Auslegung des BW und die Rechtsentwicklung zunehmend bewusst wurde, beschäftigte sich mehr und mehr mit der Rechtslehre in Deutschland. Im Zuge dieser Entwicklung wurden einige der in der deutschen Rechtswissenschaft enstandenen Konzepte übernommen. So fand u.a. die Normzwecklehre des Rechts der unerlaubten Handlungen Eingang in das niederländische Recht (jetzt Art. 6: 163 BW) und wurde die Auslegung des Art. 2014 BW zum gutgläubigen Erwerb durch Dritte durch § 932 BGB beeinflusst. Das neue BW hat diese von der Rechtsprechung entwickelte Auslegung teilweise kodifiziert. Auch Meijers Vorarbeiten wurden stark von der deutschen Rechtslehre, insbesondere der Pandektistik (Pandektensystem), beeinflusst. In den umfangreichen im Rahmen der Vorarbeiten zum BW durchgeführten rechtsvergleichenden Untersuchungen wird das deutsche Recht neben dem schweizerischen am häufigsten zitiert. Erst danach folgen das italienische und das französische Recht.
Der Einfluss der Pandektistik und des deutschen Rechts wird denn auch bereits in der Systematik deutlich. Mit Buch 3 enthält das BW nunmehr ebenfalls einen Allgemeinen Teil. Dieser gilt zwar nur für das Vermögensrecht und hat damit einen geringeren Abstraktionsgrad als der Allgemeine Teil des BGB, doch wurden im BW an vielen Stellen Verknüpfungsregelungen (schakelbepalingen) eingeführt, so z.B. im Bereich der Irrtumsregeln, des Vertretungsrechts, der Verjährung und des allgemeinen Vertragsrechts. Mit dieser, z.B. auch in Art. 7 schweiz. ZGB sowie in Art. 1324 Codice Civile und § 876 ABGB angewandten, Technik wird der Anwendungsbereich der entsprechenden Abschnitte über das Vermögensrechts auch auf die anderen Rechtsbereiche ausgedehnt und somit tatsächlich ein höherer Abstraktionsgrad erreicht.
Neben der bereits erwähnten Übernahme der Normzwecklehre finden sich auch sonst im materiellen Recht Anlehnungen an das deutsche Recht. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), welche aus dem vormaligen AGBG übernommen wurden.
Neben dem deutschen Recht hat jedoch auch das anglo-amerikanische Einfluss auf das niederländische BW genommen. So finden sich im Irrtumsrecht Anklänge an die englischen Konzepte undue influence (Art. 3: 44 BW) und misrepresentation (Art. 6: 228 BW). Die Figur des anticipatory breach (Antizipierte Nichterfüllung) hat im Vertragsrecht Eingang gefunden (Art. 6: 80 BW) und die Vorschriften zur Haftung für Hilfspersonen enthalten Ansätze aus der englischen vicarious liability.
Auch das internationale Einheitsrecht hat bereits Spuren im BW hinterlassen. So beruhen zum Beispiel die Regelungen zum Kaufrecht und die Regelungen des Vertragsschlusses und der Leistungsstörungen auf dem UN-Kaufrecht.
Das niederländische BW lässt sich damit keiner Rechtsfamilie mehr eindeutig zuordnen. Es hat sich zwar der deutschen, zugleich aber auch anderen Rechtsordnungen zugewandt. Zudem hat es seine französischen Wurzeln nicht ganz verlassen. Es ist vielmehr ein eigenständiges, aus umfassenden rechtsvergleichenden Untersuchungen und der Entlehnung des jeweils „besten“ Rechts aus den einzelnen Rechtsordnungen enstandenes Gesetzeswerk. In einigen Schriften wird es daher bereits als „neues ius commune“ Europas bezeichnet. Die umfangreiche Auseinandersetzung mit den Rechtsordnungen Europas im Entstehungsprozess und die Hinwendung zu modernen Tendenzen in der Rechtsentwicklung haben denn auch dazu geführt, dass diese jüngste westeuropäische Kodifikation als Ausgangsmodell für ein europäisches Zivilgesetzbuch herangezogen wird. Einen nicht unbeachtlichen Einfluss hat das BW dank des Einsatzes niederländischer Berater bereits auf das neue russische Zivilgesetzbuch und den Modelcode des Commonweath of Independent States (CIS), der Gemeinschaft ehemaliger Sowjetrepubliken, gewonnen.
Literatur
Eduard Maurits Meijers, Wijzingen en aanvullingen van het Burgerlijk Wetboek na 1838, in: Paul Scholten (Hg.), Gedenkboek Burgerlijk Wetboek, 1838-1938, 1938, 33 ff.; Ewoud Hondius, Das neue Niederländische Zivilgesetzbuch – Allgemeiner Teil, Archiv für die civilistische Praxis 191 (1991) 378 ff.; J.M.B. Vranken, Einführung in das neue Niederländische Schuldrecht, Teil I und II, Archiv für die civilistische Praxis 191 (1991) 396 ff.; Arthur Hartkamp, Das neue niederländische Bürgerliche Gesetzbuch aus europäischer Sicht, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 57 (1993) 664 ff.; Ulrich Drobnig, Das neue niederländische Gesetzbuch aus vergleichender und deutscher Sicht, European Review of Private Law 1 (1993) 171 ff.; Denis Tallon, The new Dutch Civil Code in a comparative perspective: A French view-point, European Review of Private Law 1 (1993) 189 ff.; Bob Wessels, Civil Code revision in the Netherlands: System, contents and future, Netherlands International Law Review 1994, 163 ff.; Gerard-René de Groot, Entwicklungen im niederländischen Zivilrecht seit 1992, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 543 ff.; Johannes Henricus Antonius Lokin, Jans Zwalve, Hoofdstukken uit de Europese codificatiegeschiedenis, 3. Aufl. 2006; Jeroen M.J. Chorus (Hg.), Introduction to Dutch Law, 2006.