Vertragsaufhebung
von Peter Huber
1. Gegenstand und Zweck
a) Bestimmung des Begriffs
Unter Vertragsaufhebung im Sinne des europäischen Vertragsrechts versteht man die einseitige Abstandnahme einer Partei von einem Vertrag wegen Nichterfüllung einer Vertragspflicht. Das Funktionsäquivalent hierzu ist in Deutschland der gesetzliche Rücktritt, in Frankreich die résolution, in England die termination. Die Vertragsaufhebung befreit die Parteien von ihren Rechten und Pflichten für die Zukunft (so der Rücktritt im BGB) oder mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses (so die résolution im französischen Code civil). Falls eine Partei bereits geleistet hat, kann die Vertragsaufhebung zur Rückabwicklung des Vertrages führen. Voraussetzung der Vertragsaufhebung ist im europäischen Vertragsrecht die Nichterfüllung einer Vertragspflicht durch die andere Partei. Nicht darunter fällt deshalb die Anfechtung des Vertrages aufgrund eines Irrtums, einer Täuschung oder einer Drohung. Ebensowenig erfasst der technische Begriff der Vertragsaufhebung die einverständliche Auflösung des Vertrages durch die Parteien.
b) Funktion
Zweck der Vertragsaufhebung ist es, einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Interesse der benachteiligten Partei an einer effektiven Sanktion für die Nichterfüllung und den Interessen der Rechtsordnung und der vertragsbrüchigen Partei an der Aufrechterhaltung des Vertrages zu finden.
Einerseits kann die benachteiligte Partei infolge der Vertragsverletzung ein Interesse an der Vertragsaufhebung haben. Auf der anderen Seite beschränken grundsätzlich alle Rechtsordnungen die Vertragsaufhebung auf Vertragsverletzungen, die ein bestimmtes Gewicht haben. Ein Grund dafür liegt in der Überlegung, dass die Aufhebung des Vertrages dem allgemeinen Grundsatz pacta sunt servanda widerspricht. Die Parteien sollen sich nur in Ausnahmefällen von ihren vertraglichen Pflichten lossagen können. Ein zweiter Grund für die Beschränkung der Vertragsaufhebung ergibt sich aus wirtschaftlichen Überlegungen. Eine Vertragsaufhebung führt häufig zur Rückabwicklung des Vertrages, die mit nicht unerheblichen Kosten und Risiken verbunden sein kann, z.B. wenn die Kaufsache zurück zum Verkäufer transportiert werden muss. Des Weiteren kann die Vertragsaufhebung die nicht leistende Partei insofern beeinträchtigen, als der von ihr bereits zur Vorbereitung der Leistung betriebene Aufwand sich im Nachhinein als vergeblich herausstellt. Schließlich bewirkt die Aufhebung des Vertrages, dass die nicht leistende Partei einem Risiko in Bezug auf die Verwertbarkeit der Leistung am Markt ausgesetzt ist, das entsprechend des Vertrages von der benachteiligten Partei zu tragen war.
c) Historischer Hintergrund
Das römische Recht kannte kein allgemeines Recht auf Vertragsaufhebung wegen Nichterfüllung einer Vertragspflicht. Jedoch wurde das Prinzip pacta sunt servanda nie ausnahmslos durchgesetzt. So konnte beispielsweise ein Kaufvertrag aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen der actio redhibitoria vorlagen. Danach konnte sich ein Käufer vom Vertrag lösen, wenn die Kaufsache nicht die zugesicherten Eigenschaften aufwies oder er arglistig getäuscht wurde (Details zu den sog. adilizischen Rechtsbehelfen, zu denen auch die actio redhibitoria gehörte, unter dem Stichwort Minderung). Das BGB wagte am Ende des 19. Jahrhundert den Bruch mit der römischen Tradition und erkannte ein allgemeines Rücktrittsrecht an. Das Recht zum Rücktritt basierte auf dem Gedanken der lex commissoria. Hiernach enthält jeder Vertrag eine stillschweigende Vereinbarung, dass ein Rücktritt unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein soll, z.B. bei Unmöglichkeit der Leistungserbringung, Schuldnerverzug oder positiver Vertragsverletzung.
Die Vertreter des Naturrechts hatten eine andere dogmatische Begründung für die Vertragsaufhebung entwickelt. Die Pflichten der Parteien eines synallagmatischen Vertrages sind demnach insofern voneinander abhängig, als die Nichterfüllung einer Vertragspflicht dazu führt, dass die andere Partei nicht zu leisten verpflichtet ist und das Recht erlangt, vom Vertrag Abstand zu nehmen. Ausdruck gefunden hat diese Lehre in Art. 1184 frz. Code civil. Hiernach enthält ein synallagmatischer Vertrag eine stillschweigend vereinbarte auflösende Bedingung für den Fall, dass eine Partei ihre Pflichten nicht erfüllt.
2. Tendenzen der Rechtsentwicklung
International ist eine Tendenz zu beobachten, die Vertragsaufhebung zurückzudrängen – insbesondere im internationalen Kaufrecht (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)). Sie findet sich etwa im CISG, in den UNIDROIT PICC, in den PECL, im DCFR, in der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/44) (Verbrauchsgüterkauf) und im neuen deutschen Kaufrecht (Kauf). Bei näherer Betrachtung dieser Regelwerke lassen sich drei Instrumente herausarbeiten, die eingesetzt werden, um die Vertragsaufhebung (allein oder kombiniert) zurückzudrängen: die Lehre von der wesentlichen Vertragsverletzung (Vertrag), das Nachfristmodell und die Abwendungsbefugnis der nicht erfüllenden Partei.
(i) Die Lehre von der wesentlichen Vertragsverletzung lässt die Vertragsaufhebung nur zu, wenn die Vertragsverletzung dazu geführt hat, dass das Interesse der anderen Partei am Vertrag weggefallen ist. Eine wesentliche Vertragsverletzung berechtigt sowohl im CISG (Art. 49(1)(a)) als auch unter den UNIDROIT PICC (Art. 7.3.1(1)), den PECL (Art. 9:301(1)) und dem DCFR (Art. III.-3:502) zur Vertragsaufhebung. Auf nationaler Ebene findet man das Konzept der wesentlichen Vertragsverletzung insbesondere im Kaufrecht skandinavischer Länder und solcher Staaten, die sich vom CISG haben inspirieren lassen, z.B. in Estland. Ähnlichkeiten bestehen ferner zum englischen Recht, das ein Recht zur Vertragsaufhebung vorsieht, wenn die verletzte Vertragsbestimmung eine condition (und nicht nur eine warranty) darstellt; eines der Kriterien bei der Abgrenzung von condition und warranty ist, ob die benachteiligte Partei durch die Vertragsverletzung den mit dem Vertrag bezweckten Vorteil verlieren würde; siehe Hong Kong Fir Shipping Co Ltd v. Kawasaki Kisen Kaisha Ltd [1962] 2 QB 26, 70 (CA).
(ii) Das Nachfristmodell ist das zentrale Element der Rücktrittsvorschriften im neuen deutschen Schuldrecht. Eine Vertragsaufhebung (Rücktritt) ist grundsätzlich erst nach erfolglosem Ablauf einer vom Gläubiger gesetzten Nachfrist möglich. Der Schuldner erhält mithin eine zweite Chance zur Leistung oder Nacherfüllung und kann die Vertragsaufhebung noch abwenden. Das System der Nachfristsetzung findet man – in eingeschränkter Form – ebenfalls im CISG (Art. 49(1)(b)), in den UNIDROIT PICC (Art. 7.3.1(3)), in den PECL (Art. 9:301(2) in Verbindung mit Art. 8:106(3)) und im DCFR (Art. III.-3:503).
(iii) Viele Rechtsordnungen geben der nicht erfüllenden Partei das Recht, den Vertragsbruch auf für die andere Partei zumutbare Weise zu heilen und so die Vertragsaufhebung aus eigener Initiative zu verhindern (Abwendungsbefugnis durch Nacherfüllung). Das Recht zur Heilung spielt eine wichtige Rolle in den UNIDROIT PICC (Art. 7.1.4) und im DCFR (Art. III.-3:202). In den PECL kann eine Partei nur dann eine Nichterfüllung heilen, wenn das ursprüngliche Angebot als nicht vertragsgerecht zurückgewiesen wurde (Art. 8:104). Auch im CISG steht dem Verkäufer nach heutigem Meinungsstand ein Heilungsrecht zu (Art. 48(1)). In nationalen Rechtsordnungen findet sich ein entsprechendes Recht der nicht erfüllenden Partei unter anderem in § 2.508(2) UCC, im niederländischen und italienischen Recht sowie in den nordischen Rechten.
3. Einzelausgestaltung der Vertragsaufhebung im Einheitsrecht
Eine Normierung der Vertragsaufhebung muss folgende Fragen beantworten: Unter welchen Voraussetzungen ist die benachteiligte Partei zur Vertragsaufhebung berechtigt? Wie wird das Recht auf Vertragsaufhebung ausgeübt? Welche Rechtsfolgen hat die Vertragsaufhebung?
a) Aufhebungsgründe
Ausgangspunkt der Vertragsaufhebung ist in den modernen Regelwerken ein einheitlicher Tatbestand der Nichterfüllung (Art. 8:101(1) PECL; Art. 7.1.1 UNIDROIT PICC; Art. 45(1) CISG; Art. III.-3:101 DCFR). Hierunter fallen etwa die Schlechtleistung, die Nichterbringung der Leistung im Erfüllungszeitpunkt (unabhängig davon, ob die Leistung zu früh, zu spät oder gar nicht erbracht wird) oder die Verletzung von Nebenpflichten.
Auf dieser Basis sehen alle Vereinheitlichungsprojekte grundsätzlich zwei Gründe vor, die zur Vertragsaufhebung berechtigen: die wesentliche Vertragsverletzung und die Nichtleistung nach Ablauf einer Nachfrist (Art. 9:301 PECL; Art. 7.3.1 UNIDROIT PICC; Art. 49(1) CISG; Art. III.-3:502, 3:503 (DCFR)).
In Bezug auf die Frage, wann eine Nichterfüllung wesentlich ist, zeigen sich graduelle Unterschiede. Während sich das CISG auf eine Generaldefinition in Art. 25 beschränkt, geben die UNIDROIT PICC, die PECL und der DCFR dem Gesetzesanwender nähere Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit an die Hand. Nach allen Regeln liegt eine wesentliche Nichterfüllung vor, wenn dem Gläubiger im Wesentlichen entgeht, was er nach dem Vertrag erwarten durfte, es sei denn, dass die andere Partei das nicht vorausgesehen hat und nicht voraussehen konnte (Art. 8:103(b) PECL; Art. 7.3.1(2)(a) UNIDROIT PICC; Art. 25 CISG; Art. III.-3:502(2)(a) DCFR).
In diesem Rahmen ist nach allen Regelwerken zu berücksichtigen, ob die Parteien die genaue Einhaltung einer vertraglichen Verpflichtung als wesentlich vereinbart haben; so ist z.B. ist die Einhaltung der Leistungszeit bei einem Fixgeschäft von wesentlicher Bedeutung. Zum Teil wird dies ausdrücklich erwähnt (vgl. Art. 8:103(a) PECL; Art. 7.3.1(2)(b) UNIDROIT PICC); zum Teil wird es im Rahmen der allgemeinen Definition der wesentlichen Vertragsverletzung berücksichtigt (Art. 25 CISG; Art. 3:502(2)(a) DCFR). Weitere Kriterien, die zur Bestimmung der Wesentlichkeit herangezogen werden, sind das Gewicht der Nichterfüllung und – teilweise – die Frage, ob es der benachteiligten Partei zumutbar ist, die erbrachte (vertragswidrige) Leistung anderweitig zu verwenden und etwaige Einbußen im Wege des Schadensersatzes geltend zu machen.
In der Regel ist das Verschulden keine Voraussetzung für die Vertragsaufhebung. Allerdings können besondere Formen des Verschuldens, etwa Vorsatz oder Leichtfertigkeit, Indizien für das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung sein (Art. 8:103 (c) PECL; Art. 7.3.1(2)(c) UNIDROIT PICC; Art. 3:502(2)(b) DCFR).
Unabhängig von der Lehre von der wesentlichen Vertragsverletzung berechtigen alle Regelungswerke die benachteiligte Partei zur Vertragsaufhebung, wenn diese der anderen Partei erfolglos eine angemessene Nachfrist für die Erfüllung gesetzt hat, die erfolglos abgelaufen ist (Art. 9:301(2) PECL; Art. 7.3.1(3) UNIDROIT PICC; Art. 49(1)(b) CISG; Art. 3:503 DCFR). Der Anwendungsbereich dieses Aufhebungsrechts ist jedoch auf Fälle der Verzögerung der Leistung beschränkt.
Schließlich hat sich das aus dem common law Rechtskreis (Rechtskreislehre) stammende Institut der antizipierten Nichterfüllung als Aufhebungsgrund durchgesetzt (Art. 9:304 PECL; Art. 7.3.3 UNIDROIT PICC; Art. 72 CISG; Art. III.-3:504 DCFR). Hiernach kann die benachteiligte Partei schon vor Fälligkeit der Leistung den Vertrag aufheben, wenn offensichtlich ist, dass es zu einer wesentlichen Vertragsverletzung kommen wird.
b) Mechanismus der Vertragsaufhebung
Im Gegensatz zum französischen, belgischen, italienischen und spanischen Recht, aber im Einklang mit z.B. dem deutschen Recht, bedarf es im europäischen Einheitsrecht keines gerichtlichen Verfahrens für die Vertragsaufhebung. Es genügt die Erklärung gegenüber der nicht leistenden Partei (Art. 9:303(1) PECL; Art. 7.3.2(1) UNIDROIT PICC; Art. 26 CISG; Art. III.-3:507 DCFR). Diese Erklärung muss innerhalb angemessener Frist vorgenommen werden, nachdem die benachteiligte Partei von der Nichterfüllung erfahren hat oder hätte erfahren müssen (Art. 9:303(2) PECL; Art. 7.3.2(2) UNIDROIT PICC; Art. 49(2) CISG; Art. III.-3:508(1) DCFR). In bestimmten Fällen ist eine Erklärung der Vertragsaufhebung entbehrlich: So kann die benachteiligte Partei ihre Nachfristsetzung mit einer Erklärung verbinden, dass der Vertrag nach erfolglosem Ablauf der Nachfrist automatisch aufgehoben sein soll (Art. 8:106(3) PECL; Art. 7.1.5(3) UNIDROIT PICC; Art. III.-3:507(2) DCFR). Darüber hinaus kann eine Aufhebungserklärung nach einigen Regelwerken entbehrlich sein, wenn die Nichterfüllung entschuldigt ist, weil ein Fall der vollständigen und dauerhaften Unmöglichkeit der Leistungserbringung vorliegt (vgl. Art. 9:303(4), 8:108 PECL).
c) Rechtsfolgen der Vertragsaufhebung
Die Vertragsaufhebung befreit die Parteien nach allen Regelwerken von ihrer Verpflichtung, künftige Leistungen zu erbringen und anzunehmen. Hingegen bleibt das Recht unberührt, im Wege des Schadensersatzes das Erfüllungsinteresse zu verlangen. Zudem wird ausdrücklich festgestellt, dass die Vertragsaufhebung Streitbeilegungsklauseln und solche Vereinbarungen, die gerade nach Aufhebung des Vertrages gelten sollen, nicht berührt (Art. 9:305 PECL; Art. 7.3.5 UNIDROIT PICC; Art. 81(1) CISG; Art. III.-3:509 DCFR).
Auch wenn die Vertragsaufhebung nur für die Zukunft wirkt, führt sie, soweit schon Leistungen erbracht wurden, in der Regel zur Rückabwicklung des Vertrages (Art. 9:306 ff. PECL; Art. 7.3.6 UNIDROIT PICC; Art. 81(2), 82 CISG; Art. III.-3:511 ff. DCFR).
Literatur
Ernst Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. I, 1936, Bd. II, 1958; G.H. Treitel, Remedies for Breach of Contract, 1988, 318 ff.; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996, 800 ff.; Andreas Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf, 2000, 174 ff; Christian von Bar, Reinhard Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, 2002, 439 ff., 450 ff., 495 ff.; Andrea Sandrock, Vertragswidrigkeit der Sachleistung, 2003, 237 ff.; Reinhard Zimmermann, The New German Law of Obligations, 2005, 66 ff., 107 f.; Peter Huber, Comparative Sales Law, in: Mathias Reiman, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 937 ff.; Axel Flessner, Befreiung vom Vertrag wegen Nichterfüllung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 5 (1997) 255 ff.; Peter Schlechtriem, Abstandnahme vom Vertrag, in: Jürgen Basedow (Hg.) Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000; Peter Huber, Alastair Mullis, The CISG, 2007, 209 ff.