Verordnung
von Karl Riesenhuber
1. Begriff
Die Verordnung ist neben der Richtlinie die wichtigste der Handlungsform der EG (EU) im Bereich des Privatrechts. Von den sonstigen Rechtsakten hat darüber hinaus vor allem die Entscheidung im Wettbewerbsrecht größere Bedeutung. Die Verordnung sichert in besonderem Maße die einheitliche und gleiche Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben (EuGH Rs. 819/79 – Deutschland/Kommission, Slg. 1981, 21, Rn. 10), sie bietet sich daher vor allem dort an, wo nicht nur eine Rechtsangleichung, sondern eine Rechtsvereinheitlichung angestrebt wird. Dem sind freilich unter den Gesichtspunkten von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit kompetentielle Grenzen gesetzt. Anwendungsbeispiele im Privatrecht sind die Kartell-VO (VO 1/2003) (früher Kartell-VO Nr. 17 von 1962; Grundlage: Art. 83 EG/103 AEUV), die Verordnungen über Gruppenfreistellungen vom Kartellverbot (Art. 81(3) EG/101(3) AEUV) (Kartellverbot und Freistellung; Gruppenfreistellungsverordnungen); das internationale Privat- und Verfahrensrecht wird derzeit oder wurde kürzlich in Verordnungen (neu) geregelt (Rom I-VO [ VO 593/2008], Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR); Rom II-VO [ VO 864/2007], Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)); im Gesellschaftsrecht hat die EG die supranationalen Rechtsformen durch Verordnungen eingeführt (Europäische Aktiengesellschaft, Europäische Genossenschaft, Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung; s.a. den Vorschlag für eine Verordnung über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft); aus dem Arbeitsrecht ist die Freizügigkeits-VO (VO 1612/68) zu nennen (Arbeitnehmerfreizügigkeit), aus dem Vertragsrecht vor allem die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer (VO 2560/ 2001) und die Verordnung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder wegen großer Verspätung (VO 261/2004).
Die Verordnung hat „allgemeine Geltung“, „sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“ (Art. 249(2) EG/288(2) AEUV), man bezeichnet sie daher auch als „Europäisches Gesetz“ (so auch im gescheiterten Verfassungsvertrag). Mit der allgemeinen Geltung wird die Verordnung als abstrakt-generelle Regelung einer unbestimmten Vielzahl von Sachverhalten gekennzeichnet, das unterscheidet sie von der Entscheidung (EuGH Rs. 101/76 – Scholten Honig, Slg. 1977, 797, Rn. 8 ff., 20 ff.). Allerdings „verliert ein Rechtsakt seinen Verordnungscharakter nicht schon dadurch, dass sich die Rechtssubjekte, für die er in einem bestimmten Zeitraum gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmen lassen, solange feststeht, dass diese Geltung sich aus einer in dem Rechtsakt umschriebenen objektiven Rechts- oder Sachlage in Verbindung mit der Zielsetzung dieses Aktes ergibt“ (EuGH Rs. 242/81 – Roquette Frères, Slg. 1982, 3213, Rn. 7). Anders als die Richtlinie, die erstens nur die Mitgliedstaaten und diese zweitens auch nur hinsichtlich des Ziels bindet, und anders als Empfehlungen und Stellungnahmen, die unverbindlich sind, ist die Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich. Adressaten der Verordnung können neben Mitgliedstaaten und Einzelnen (z.B. Freizügigkeits-VO [VO 1612/68], SE-Statut [VO 2157/2001]) auch die Organe der EG sein (so z.B. im Beamtenstatut [VO 259/68]). Umstritten ist, ob eine an einzelne Mitgliedstaaten gerichtete Verordnung schon der Rechtsform nach unzulässig („gilt in jedem Mitgliedstaat“) oder nur durch den Gleichheitssatz an das Erfordernis eines sachlichen Grundes gebunden ist. Jedenfalls zulässig sein soll eine abstrakt-generelle Verordnung, die leidglich aus tatsächlichen Gründen nur regional praktische Bedeutung hat.
2. Unmittelbare Geltung und Umsetzung
Die Verordnung gilt in den – und nicht nur für die – Mitgliedstaaten unmittelbar. Das bedeutet, „dass die Verordnung in Kraft tritt und zugunsten oder zu Lasten der Rechtssubjekte Anwendung findet, ohne dass es irgendwelcher Maßnahmen zur Umwandlung in nationales Recht bedarf“ (EuGH Rs. 34/73 – Variola, Slg. 1973, 981, Rn. 10). Die Mitgliedstaaten – alle staatliche Gewalt: Gerichte und Behörden – haben sie ohne Weiteres anzuwenden. Die Verordnung steht in diesem Sinne dem nationalen Gesetz gleich und ist formal Bestandteil der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, indes ohne damit ihren gemeinschaftsrechtlichen Charakter zu verlieren. Damit steht die Verordnung normhierarchisch zwar nicht über dem mitgliedstaatlichen Recht, sie genießt diesem gegenüber jedoch einen umfassenden Anwendungsvorrang. Entgegenstehendes nationales Recht ist zwar nicht nichtig (Geltungsvorrang), hat aber außer Anwendung zu bleiben. Dieser Anwendungsvorrang gilt auch gegenüber zeitlich nachfolgendem mitgliedstaatlichen Recht; ein vom EuGH angenommener Vorrang gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht wird vom deutschen BVerfG nur mit Vorbehalt anerkannt.
Mitgliedstaatliche Umsetzungs- oder Ausführungsakte oder verbindliche Auslegungsregeln sind nicht nur unnötig. Soweit sie die effektive Durchführung der Verordnung einschließlich ihrer Auslegung durch den EuGH beeinträchtigen könnten, sind sie unzulässig („Umsetzungsverbot“). Daher hat der Gerichtshof Maßnahmen für unzulässig gehalten, die den Gemeinschaftsrechtscharakter der Verordnung verschleiern oder ihre unmittelbare Geltung vereiteln oder auch nur „aufs Spiel setzen“ könnten, wie z.B. eine wiederholende Gesetzgebung oder verbindliche Auslegungsregeln. Lediglich in engen Grenzen kommt eine punktuelle Wiederholung des Verordnungsrechts in Betracht, etwa wenn dies wegen der Komplexität der Regelung oder des Zusammenwirkens von Verordnungsrecht und mitgliedstaatlichem Recht erforderlich ist. Auch unverbindliche, klarstellende Auslegungsregeln, z.B. von einer Behörde, können bei Zweifelsfragen zulässig sein. Gegenstück zum Umsetzungsverbot ist die Pflicht, kollidierende Normen abzuändern oder aufzuheben und nicht neu einzuführen. Würden sie wegen des Anwendungsvorrangs der Verordnung auch rechtlich zurücktreten, so könnten sie doch zu Unklarheit und Ungewissheit über die Rechtslage führen und damit die effektive Durchführung der Verordnung behindern, insbesondere die Adressaten davon abhalten, sich auf die Verordnung zu berufen.
Eine Umsetzungspflicht besteht nur ausnahmsweise dort, wo die Verordnung selbst dies (sekundärrechtlich) vorsieht (s. z.B. SE-Statut, Europäische Aktiengesellschaft) oder es doch der Sache nach erfordert (dann schon Art. 249(2) EG/288(2) AEUV, ggf. i.V.m. Art. 10 EG/4(3) AEUV); man spricht auch von unvollständigen oder hinkenden Verordnungen.
3. Unmittelbare Wirkung
Von der unmittelbaren Geltung ist die unmittelbare Wirkung der Verordnung zu unterscheiden. Allerdings erzeugt die Verordnung „schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts … unmittelbare Wirkungen und ist als solche geeignet, für die Einzelnen Rechte zu begründen, zu deren Schutz die nationalen Gerichte verpflichtet sind“ (EuGH Rs. 43/71 – Politi/Finanzministerium der Italienischen Republik, Slg. 1971, 1039, Rn. 9; EuGH Rs. 34/73 – Variola, Slg. 1973, 981, Rn. 8). Rechtsnatur und Adressaten entspricht es weiterhin, dass die unmittelbare Wirkung nicht auf das Vertikalverhältnis zwischen Bürger und Staat beschränkt ist, sondern – anders als die Richtlinie – auch im Horizontalverhältnis von Privatpersonen untereinander zum Tragen kommen kann. Die Verordnung kann mit anderen Worten Privatpersonen unmittelbar gegenüber anderen Privaten berechtigen und auch verpflichten; die von ihr begründeten Rechte und Pflichten müssen ggf. im Zivilprozess durchgesetzt werden können (EuGH Rs. C-253/00 – Muñoz und Superior Fruiticola, Slg. 2002, I-7289, Rn. 30 f.). Zum Beispiel kann man an die VO 261/2004 über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder wegen großer Verspätung denken: Sie begründet u.a. Ansprüche der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf Ausgleichszahlungen, auf Erstattung oder anderweitige Beförderung sowie auf Betreuung.
Die allgemeinen Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung, dass die Regelungen hinreichend bestimmt und unbedingt sind und keiner weiteren Umsetzung durch die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten bedürfen, ist bei den Verordnungen im Bereich des Privatrechts regelmäßig gegeben. Ausnahmen sind – neben den hier nicht bedeutsamen Verordnungen des EG-(EU‑)Binnenrechts und sog. Grundverordnungen, die nur die wesentlichen Aspekte eines Sachbereichs regeln – vor allem die hinkenden Verordnungen (s.o. 2. a.E.).
4. Rechtsschutz
Rechtsschutz unmittelbar gegen eine (primärrechtswidrige) Verordnung steht grundsätzlich nur den Organen der EG offen, Art. 230(2) EG/263(2) AEUV. Der Einzelne kann die Primärrechtskonformität lediglich inzident (in einem Rechtsstreit über die Anwendung der Verordnung) überprüfen lassen. Ausnahmsweise steht dem Einzelnen indes dann eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230(4) EG/263(4) AEUV offen, wenn er durch die Verordnung unmittelbar individuell betroffen ist (als Verordnung ergangene Entscheidung, sog. Scheinverordnung; hybrider Rechtsakt). So hat der Gerichtshof z.B. die Nichtigkeitsklage eines Schaumweinherstellers gegen eine Verordnung für zulässig gehalten, die zwar allgemein Geltung hatte, insbesondere aber auch den Kläger an der Weiterbenutzung einer eingetragenen Marke hinderte (EuGH Rs. C-309/89 – Cordniu, Slg. 1994, I-1853, Rn. 14 ff.).
Literatur
Hans-Jürgen Rabe, Das Verordnungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1963; Wolfdietrich Möller, Die Verordnung der Europäischen Gemeinschaften, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1969, 1 ff.; Derrick Wyatt, The nature of regulations and directives, European Law Review 1977, 215 ff.; Xabier Arzoz, Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaften, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 2001, 299 ff.; Armin v. Bogdandy, Jürgen Bast, Fabian Arnd, Handlungsformen im Unionsrecht, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 62 (2002) 78 ff.; Johannes Köndgen, Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in: Karl Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 2006, 133 ff.