Niederlassungsfreiheit: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Oliver Remien

1. Bedeutung und Struktur

Die unmittelbar anwendbare Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG/‌49 AEUV ist die Personenverkehrsfreiheit der selbständig Erwerbstätigen (EuGH Rs. 2/‌74 – Reyners, Slg. 1974, 652). Sie steht den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu, gemäß Art. 48 EG/‌54 AEUV auch Gesellschaften im Sinne des Art. 48(2) EG/‌54(2) AEUV, d.h. Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts, einschließlich der Genossenschaften und sonstigen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen ohne Erwerbszweck. Gesellschaften ohne Erwerbszweck, die ideellen, wohltätigen, religiösen, wissenschaftlichen oder kulturellen Zwecken dienen – mithin der sog. non profit-Sektor, insbesondere Idealvereine – werden nicht erfasst. Die Gesellschaft muss nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet sein und alternativ satzungsmäßigen Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben. Auf die Staatsangehörigkeit oder den Wohnsitz von Gesellschaftern oder Gründern kommt es nicht an. Neben der sog. primären Niederlassungsfreiheit steht die sog. sekundäre Niederlassungsfreiheit, d.h. die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften (Art. 43(1)2 EG/‌49 (1)2 AEUV). Der EuGH hat hieraus weitreichende Folgerungen für das Gesellschaftsrecht im Binnenmarkt gezogen (s.u. 4.). Rein nationale Sachverhalte fallen nicht unter Art. 43 EG/‌49 AEUV, doch ist der EuGH hier zuweilen großzügig. Praktisch ist die Niederlassungsfreiheit insbesondere gegenüber der Dienstleistungsfreiheit abzugrenzen. Niederlassung wird als „tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat“ (EuGH Rs. C-221/‌89 – Factortame, Slg. 1991, I-3905) „in stabiler und kontinuierlicher Weise“ (EuGH Rs. C-55/‌94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165) definiert. Die Niederlassung bringt also eine stärkere Eingliederung in den Aufnahmestaat mit sich. Umfasst ist die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art (EuGH Rs. C-70/‌95 – Sodemare, Slg. 1997, I-3395). Den Erlass von Richtlinien zur Diplomanerkennung und zur Koordinierung der Bestimmungen über Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten sieht Art. 47 EG/‌53 AEUV ausdrücklich vor. Auch zur Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit stellen sich Abgrenzungsfragen. Art. 45 EG/‌51 AEUV trifft eine Ausnahme für die Ausübung öffentlicher Gewalt; Unterrichts- (EuGH Rs. 147/‌86 – Kommission/‌Griechenland, Slg. 1988, 1637), Sachverständigen- oder Anwaltstätigkeit (EuGH Rs. C-2/‌74 – Reyners, Slg. 1974, 631, 649) sowie private Bewachungs- oder Sicherheitsdienste (EuGH Rs. C-465/‌05 – Kommission/‌ Italien, Slg. 2007, I-11091) fallen darunter jedoch nicht.

Art. 43 EG/‌49 AEUV verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen. Darüber hinaus steht die Niederlassungsfreiheit nach einer sehr weiten Formel des EuGH jeder nationalen Regelung entgegen, die geeignet ist, „die Ausübung der durch den EWG-Vertrag garantierten Freiheiten durch die Gemeinschaftsangehörigen einschließlich der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der die Regelung erlassen hat, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“ (EuGH Rs. C-19/‌92 – Kraus, Slg. 1993, I-1663; EuGH Rs. C-55/‌94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165). Zweitniederlassungsverbote, erneute Erlaubniserfordernisse u.a. sind etwa als unzulässige Beschränkungen angesehen worden. Das Beschränkungsverbot muss jedoch maßvoll eingesetzt und auf die Niederlassung bezogen werden, auch die Rechtsprechung zeigt Einschränkungen (EuGH Rs. C-417/‌93 – Semeraro, Slg. 1996, I-2975), und in der Literatur wird eine Einschränkung nach der zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten Keck-Formel empfohlen. Hinsichtlich eines Systems der sozialen Sicherheit verbleibt den Mitgliedstaaten die Ausgestaltung und kann ein Mitgliedstaat davon ausgehen, dass die Zwecke des Systems nur erreicht werden, wenn zu dem System als Erbringer von Dienstleistungen nur solche privaten Wirtschaftsteilnehmer zugelassen werden, die keinen Erwerbszweck verfolgen (EuGH Rs C-70/‌95 – Sodemare, Slg. 1997, I-3395). Art. 43 EG/‌49 AEUV verbietet auch, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert (EuGH Rs. C-438/‌05 – International Transport Workers` Federation, Slg. 2007, I-10779, Rn. 69).

Eine Rechtfertigung ist in Art. 46 EG/‌52 AEUV ausdrücklich vorgesehen hinsichtlich der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder Gesundheit. Der Begriff der öffentlichen Gesundheit wird in Art. 4 und Anhang A der RL 64/‌221 näher geregelt. Für die Rechtfertigung aufgrund der öffentlichen Ordnung ist „eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ (EuGH Rs. 30/‌77 – Bouchereau, Slg. 1977, 1999) erforderlich. Ferner ist eine Rechtfertigung aufgrund der zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten, aber hierher übertragenen Cassis de Dijon-Rechtsprechung möglich. Eine Beschränkung kann zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag vereinbares Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (EuGH Rs. C-438/‌05 – International Transport Workers’ Federation, Slg. 2007, I-10779, Rn. 75). Solche Allgemeininteressen können vielgestaltig sein, etwa Qualifikation, Standespflichten und Kontrolle von Rechtsanwälten (EuGH Rs. C-55/‌94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165), Schutz von Arbeitnehmern, Erhaltung und Aufwertung des kulturellen und künstlerischen Erbes, Kohärenz des Steuersystems, nicht hingegen das Einnahmeinteresse der Mitgliedstaaten (EuGH Rs. 270/‌83 avoir fiscal, Slg. 1986, 273). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist als Schranken-Schranke selbstverständlich einzuhalten. Wird die Zulassung zu einem Beruf beantragt, der eine besondere Qualifikation voraussetzt, so muss eine Gleichwertigkeitsprüfung für das Diplom aus dem Ursprungsmitgliedstaat erfolgen (EuGH Rs. C-340/‌89 – Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357).

2. Adressat und Bindung Privater

Die Niederlassungsfreiheit wird zugunsten der Angehörigen der Mitgliedstaaten gewährleistet, ein Unternehmen eines Drittlands kann sie im Hinblick auf seine Beteiligung an einem Unternehmen eines Mitgliedstaats nicht geltend machen (EuGH Rs. C-492/‌04 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775, Rn. 27). Einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der zugleich eine Drittstaatsangehörigkeit hat, darf die Niederlassungsfreiheit nicht versagt werden (EuGH Rs. C-369/‌90 – Micheletti, Slg. 1992, I-4239). Wer nur einem Drittstaat angehört, ist nicht nach Art. 43 EG/‌49 AEUV berechtigt, möglicherweise aber nach Maßgabe von Sekundär- oder Völkerrecht. Schon früh hat der EuGH zur Grünen Karte der Kraftfahrzeug-Versicherung geurteilt, dass es genügt, dass sich die Diskriminierung aus einer Regelung gleich welcher Art ergibt, durch die die Ausübung der betreffenden Tätigkeit in allgemeiner Weise geregelt werden soll (EuGH Rs. 90/‌76 – van Ameyde, Slg. 1977, 1081, Rn. 28). Art. 43 EG/‌49 AEUV gilt heute nach ständiger Rechtsprechung nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf Regelwerke anderer Art, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln. Dies wird damit begründet, dass Arbeitsbedingungen zum Teil durch Gesetze oder Verordnungen, zum Teil durch Tarifverträge oder andere Privatmaßnahmen geregelt würden, aber eine Ungleichheit zu vermeiden sei (etwa EuGH Rs. C-438/‌05 – International Transport Workers’ Federation, Slg. 2007, I-10779, Rn. 33). Auch kollektive Maßnahmen hat der EuGH daher an Art. 43 EG/‌49 AEUV gemessen, durch den „Grundrechtscharakter“ ihrer Verbürgung seien sie dem nicht entzogen; der Streik zur Erzwingung der gleichen Arbeitsbedingungen wie im ursprünglichen Heimatstaat des Unternehmens wurde daher als Beschränkung angesehen (ebd. Rn. 47 und 72 ff.). Ein Privatunternehmen könne daraus auch unmittelbar Rechte gegenüber einer Gewerkschaft geltend machen (ebd. Rn. 56 ff.). Auch Dienstleistungsregelungen freier Berufe können danach zu überprüfen sein (vgl. EuGH Rs. C-309/‌99 – Wouters, Slg. 2002, I-1577). Für besondere Konstellationen ist also die Bindung Privater an die Niederlassungsfreiheit anerkannt. Als Rechtfertigung kommen dann auch die Grundrechte in Betracht (EuGH Rs. C-438/‌05 – International Transport Workers’ Federation, Slg. 2007, I-10779, Rn. 77).

3. Allgemeines Privatrecht sowie Grundstückserwerb und Nieder­lassungsfreiheit

Für Normen des allgemeinen Privatrechts hat die Niederlassungsfreiheit bisher punktuell Bedeutung entfaltet. Vorschriften über die Transkription griechischer Namen sind an ihr gemessen worden (EuGH Rs. C-168/‌91 – Konstantinidis, Slg. 1993, I-1191). Die besonderen Schutznormen für Geschäftsraummieter durch die propriété commerciale in Frankreich sind 1969 auf Staatsangehörige anderer EG-Staaten erstreckt worden, um eine Diskriminierung zu vermeiden. Ein Verzinsungsverbot für auf Euro lautende Sichteinlagen bei einem Kreditinstitut, das Tochtergesellschaft einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft ist, hat der EuGH als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angesehen (EuGH Rs. C-442/‌02 – Caixa Bank, Slg. 2004, I-8961). Der Zugang zum Markt werde beeinträchtigt, denn der Wettbewerb mit dem Zinssatz stelle eine der wirksamsten Methoden zum Fußfassen auf dem Markt dar; auch eine Rechtfertigung wurde verneint. Im Gefolge der Caixa Bank-Entscheidung machte die Kommission gegenüber Italien geltend, ein mitgliedstaatsweiter Kontrahierungszwang für Anbieter von Kfz-Versicherungen sei eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit, der Gerichtshof hat die Beschränkung bejaht, aber eine Rechtfertigung angenommen. (EuGH Rs. C-518/‌06 – Kommission/‌Italien). Auch hinsichtlich des Grundstückserwerbs könnte die Niederlassungsfreiheit einschlägig sein, doch steht hier praktisch die Kapitalverkehrsfreiheit im Vordergrund. Von besonderer Relevanz ist die Niederlassungsfreiheit der Rechtsprechung zufolge für das Gesellschaftsrecht im Binnenmarkt.

4. Gesellschaftsrecht und Nieder­lassungsfreiheit

Die Niederlassungsfreiheit kann Bedeutung für das Gesellschaftsrecht entfalten (siehe dazu insb. Gesellschaftsrecht, internationales und Wettbewerb der Rechtsordnungen), daneben allerdings auch die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit. Das Verbot der Verwendung einer Geschäftsbezeichnung ist eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, ist jedoch aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls zum Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt, wenn es dem Schutz des Inhabers gegen die Verwechslungsgefahr entspricht (EuGH Rs. C-255/‌97 – Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835). Ansonsten ist die Beurteilung der Anwendung firmenrechtlicher Regeln des Niederlassungsstaates auf ausländische Gesellschaften ungewiss.

Art. 44(2)(g) EG/‌50(2)(g) AEUV enthält eine Kompetenz zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, und die Gemeinschaft hat hiervon in einigem Maße Gebrauch gemacht. Dennoch bildet das Gesellschaftsrecht inzwischen einen Hauptbereich der privatrechtlichen Grundfreiheitenwirkung der jüngeren Vergangenheit. In dem Fall Daily Mail, in dem es um die Zustimmung des britischen Finanzministeriums zur Sitzverlegung einer Gesellschaft von Großbritannien in die Niederlande ging, nahm der EuGH noch an, dass die Probleme der Anknüpfung im internationalen Gesellschaftsrecht nicht durch die Bestimmungen der Niederlassungsfreiheit gelöst würden, sondern der Rechtssetzung bedürfen, die Niederlassungsfreiheit gebe „kein Recht, den Sitz (der) Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen“ (EuGH Rs. 81/‌87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483, Rn. 23 f.). Eine ganze Reihe weiterer bemerkenswerter Entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit hat aber das europäische Gesellschaftsrecht in Bewegung gebracht, grundlegend war das Centros-Urteil. Die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die in ihrem Sitzmitgliedstaat rechtmäßig errichtet worden ist, aber dort keine Geschäftstätigkeit entfaltet, darf nicht verweigert werden (EuGH Rs. C-212/‌97 – Centros, Slg. 1999, I-1459). Dass die englische Limited (Private Limited Company) von den dänischen Geschäftsleuten nur gegründet worden war, um die dänischen Mindestkapitalvorschriften zu umgehen, änderte nach dem EuGH nichts. Diese Rechtsprechung ist mit guten Gründen angreifbar, aber konsolidiert. Hat eine Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, so darf ihr dort nicht die Rechtsfähigkeit oder Parteifähigkeit für das Geltendmachen von vertraglichen Ansprüchen abgesprochen werden (EuGH Rs. C-208/‌00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919). Die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweitniederlassung darf auch nicht von bestimmten Voraussetzungen des innerstaatlichen Rechts bezüglich Mindestkapital und Haftung der Geschäftsführer abhängig gemacht werden (EuGH Rs. C-167/‌01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155). Die grenzüberschreitende Verschmelzung muss zulässig sein, wie im Fall der Verschmelzung einer deutschen und einer luxemburgischen Gesellschaft auf die deutsche entschieden wurde (EuGH Rs. C-411/‌03 – Sevic, Slg. 2005, I-10805). Diese Entscheidungen betrafen, anders als Daily Mail, stets Beschränkungen durch den neuen Aufnahmemitgliedstaat. Einen Wegzugsfall hatte der EuGH in Cartesio zu entscheiden (EuGH Rs. C-210/‌06 – Cartesio, NJW 2009, 569). Einer ungarischen KG war in Ungarn die Eintragung der Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes nach Italien verweigert worden. Anknüpfend an Daily Mail ging der EuGH davon aus, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat. Ein Mitgliedstaat könne seinen Gesellschaften Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet auferlegen sowie die Anknüpfung des Internationalen Gesellschaftsrechts hinsichtlich seiner Gesellschaften bestimmen. Dies umfasse die Befugnis, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, eine Gesellschaft dieser Rechtsordnung zu bleiben, wenn die Gesellschaft sich durch Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat neu organisieren möchte (ebd. Rn. 99 ff.). Damit kommt nach dem EuGH bei der tatsächlichen Sitzverlegung unter Beibehaltung des bisherigen Gesellschaftsrechtsstatuts die Niederlassungsfreiheit nicht zum tragen; jedoch betont der Gerichtshof, dass es eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt, wenn der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht des neuen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit das nach diesem Recht möglich ist (ebd. Rn. 111 ff.). Mit einer lebhaften Diskussion dieser Entscheidung ist zu rechnen. Der Rechtsprechung des EuGH vor Cartesio folgt auch die deutsche Rechtsprechung, etwa hinsichtlich der Ablehnung der persönlichen Haftung des Geschäftsführers einer Briefkasten-Ltd. (BGH 14.3.2005, NJW 2005, 1648). Der wirksam gegründeten ausländischen Gesellschaft kann auch nicht die Anerkennung als Komplementärgesellschaft versagt werden, so dass eine Ltd. & Co. KG also möglich ist. Eine Rechtsscheinhaftung wegen Weglassung eines Firmenzusatzes ist keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (BGH 5.2.2007, NJW 2007, 1529). Zweifelhaft scheinen etwa die Auswirkungen für das Firmenrecht. Der infolge von Centros eingeführte Wettbewerb der Rechtsordnungen hat auch bereits zu nationalen Anpassungen der Gesellschaftsrechtsgesetzgebung Anlass gegeben. Dass die Gemeinschaft daneben gleichzeitig supranationale Gesellschaftsrechtsformen durch auf Art. 308 EG/‌352 AEUV gestützte Verordnungen schafft, steht auf einem anderen Blatt.

Literatur

Gerhard Kegel, Es ist etwas faul im Staate Dänemark, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 1999, Editorial Heft 8; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003; Horst Eidenmüller (Hg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004; Torsten Körber Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004; Christian Tietje, Niederlassungsfreiheit, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005; Christoph Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006; Catherine Barnard, The Substantive Law of the EU, 2. Aufl. 2007.

Abgerufen von Niederlassungsfreiheit – HWB-EuP 2009 am 24. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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