Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
1. Die spanische und portugiesische Kolonialzeit
Der Einfluss des Rechts der alten Welt auf das der neuen Welt begann bereits, bevor diese überhaupt entdeckt wurde. In den Capitulaciones de Santa Fe vom 17.2.1492, also noch bevor Kolumbus nach Westen in Richtung „Indien“ in See stach, hatten die katholischen Könige von Kastilien die Anwendung spanischen Rechts in allen von ihm zu entdeckenden Gebieten verordnet. Mit der Inbesitznahme durch die Conquistadores für die spanische Krone verbreitete sich das spanische Recht auf dem neuen Kontinent, der bereits eine Vielzahl von Rechtsordnungen kannte. So hatten die Azteken, aber vermutlich auch die Inkas, die Mayas und andere mächtige Völker relativ ausgeprägte Rechtsstrukturen. Anders als die indianischen Völker teilweise selbst wurden ihre Rechtsordnungen – zumindest auf dem Papier – nicht ausgelöscht und blieben insoweit in Kraft, als sie mit dem spanischen Recht und dem katholischen Glauben vereinbar waren.
Das sich so ausbreitende königliche spanische Recht war alles andere als kohärent. Seine Effizienz wurde zusätzlich – trotz entsprechender Verbote – durch den systematischen Rückgriff von Anwälten und Gerichten auf das römische Recht untergraben. Das Durcheinander geltender Rechtssätze, zusammen mit den aus Spanien eingeführten missbräuchlichen und teilweise korrupten Gerichtspraktiken, prägte auch die frühen Rechtsstrukturen des neuen Kontinents. Hinzu kam die königliche Sondergesetzgebung in den Recopilaciones de las Indias, die – aus Madrid kommend – in den amerikanischen Vizekönigreichen häufig als so realitätsfremd angesehen wurde, dass man sie weitgehend ignorierte. Dies führte zu dem geflügelten Wort „la ley se acata pero no se cumple“ (das Gesetz wird geachtet, aber nicht befolgt), das noch heute häufig für die Beschreibung der lateinamerikanischen Rechtswirklichkeit benutzt wird. Entsprechend ihrer Ausbildung an den juristischen Fakultäten in Spanien hielten sich vor allem die Juristen der privatrechtlichen Praxis in erster Linie an das römisch-kanonische ius commune.
Das Bild in der portugiesischen Kolonie Brasilien war ähnlich. Dort wurde das Gewirr der Rechtsquellen und ‑methoden gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar noch unübersichtlicher, als die Lei da Boa Razão (1769) erlassen wurde, mit der im portugiesischen Reich die Anwendung römischen Rechts nur erlaubt wurde, soweit es der praktischen Vernunft entsprach. Diese Abkehr von der ratio scripta erforderte den Rückgriff auf den usus modernus, wie er insbesondere von zeitgenössischen deutschen und niederländischen Gelehrten geprägt war, und führte zu häufigem Ge- und nicht nur gelegentlichen Missbrauch von rechtsvergleichenden Argumenten.
2. Die Kodifikation in Lateinamerika
Nach der Unabhängigkeit im frühen 19. Jahrhundert blieb die spanische Gesetzgebung in den jungen Republiken zunächst noch in Kraft, sofern sie mit dem orden público ihrer neuen Verfassungen vereinbar war. Jedoch sahen fast alle Verfassungen umfassende Kodifikationen des Straf- und des Privatrechts vor, zum Teil unter dem Einfluss von Jeremy Bentham. Dessen Bemühungen im Jahr 1822, ein Mandat für die Erarbeitung eines südamerikanischen Zivilgesetzbuches zu erhalten, waren jedoch letztlich erfolglos, und die Hoffnungen auf eine südamerikanische Privatrechtseinheit platzten genau so wie Simón Bolivars Traum von einem vereinigten Südamerika.
Die erste Welle der nationalen Kodifikationsbemühungen beschränkte sich auf die Kopie französischen Rechts. Diese Bemühungen waren jedoch nicht so sehr davon beseelt, eine verhasste spanische Ordnung zugunsten einer von dem französischen Revolutionsideal geprägten Gesetzgebung abzustreifen. Alles spanische Recht, das mit dem liberalen Geist der neuen Verfassungen unvereinbar war, war ja bereits außer Kraft gesetzt worden. Für das Familien- und Erbrecht dagegen lehnten die katholischen Republiken liberale Lösungen ohnehin ab, so dass diese Bereiche weiterhin vom kanonischen Recht und dem darauf beruhenden spanischen bzw. portugiesischen Recht beherrscht wurden. Bei der Idee, französisches Recht zu kopieren, handelte es sich vielmehr überwiegend um den Wunsch der ehemaligen Führer der Unabhängigkeitsbewegung (und nunmehr meist Diktatoren), ihrem Idol Napoléon Bonaparte nachzueifern, der sich mit seinem Code Napoléon hatte verewigen wollen. Lediglich Boliviens Supremo Protector Andrés Santa Cruz gelang es, eine Übersetzung des Code civil (1804) als Código Santa Cruz in Bolivien (1830) und im später eroberten Peru (1836) in Kraft zu setzen, welcher dann auch von Costa Rica (1841) übernommen wurde. Der Code civil blieg in der Dominikanischen Republik in Kraft auch nach Ende der vorübergehenden Anexion durch die ehemalige französische Kolonie Haiti (1844). Der mexikanische Staat Oaxaca hatte bereits viel früher eilig eine spanische Übersetzung des Code civil übernommen (1827), um seine Unabhängigkeit in der sich anbahnenden mexikanischen Föderation zu unterstreichen. Für das Handelsrecht übernahmen z.B. Ecuador (1931), Kolumbien und Peru (beide 1834) das spanische Handelsgesetzbuch von 1829, das wiederum im Wesentlichen auf dem französischen Code de commerce von 1807 beruhte. Das spanische Handelsgesetzbuch und der französische Code de Commerce bildeten zusammen mit dem portugiesischen Gesetz von 1833, das auf den beiden erstgenannten beruhte, auch die Grundlage für das brasilianische Handelsgesetzbuch (1850).
Im Übrigen war jedoch der Widerstand gegen die einfache Übernahme ausländischen Privatrechts unter den lokalen Juristen erstaunlich stark und richtungweisend. Es herrschte die umgekehrte Logik der Lei da Boa Razão vor: Ausländisches Recht sollte zur Konsolidierung des Privatrechts nur dann übernommen werden, wenn es eine bessere Formulierung des geltenden, auf römischem Recht basierenden Privatrechts darstellte. So schrieb in Uruguay Eduardo Acevedo – ähnlich wie auch Julián Viso in Venezuela – über seinen Entwurf: „Wenn dieser heute in Kraft treten würde ..., würde niemand außer den Juristen merken, dass sich irgendetwas geändert hat. Es würde so aussehen, als ob wir das Fuero Juzgo [681], die Siete Partidas [1256] und das römische Recht nie verlassen hätten.“ Dieser Ansatz prägte in der zweiten Welle der Kodifikation das erste peruanische Zivilgesetzbuch (1852) und insbesondere die Arbeiten von Andrés Bello in Chile, dessen Código Civil 1855 in Kraft trat, von Augusto Teixeira de Freitas in Brasilien, dessen Esboço (1860-1865) die Grundlage des späteren ZGB von 1916 wurde, und von Dalmacio Vélez Sarsfield in Argentinien, dessen Código Civil 1871 in Kraft trat.
Guzmán Brito hat überzeugend aufgezeigt, wie Bello französisches Recht nur dann übernahm, wenn es das (von ihm als Professor unterrichtete) römische Recht besser formulierte als die spanischen Rechtsquellen. Er arbeitete in erster Linie mit den (auf dem Corpus Juris Civilis beruhenden) spanischen Siete Partidas, aber auch rechtsvergleichend mit der Concordance entre les Codes civiles étrangers et le Code Napoléon von Anthoine de Saint-Joseph und konsultierte die Werke von Robert Joseph Pothier und Friedrich Carl von Savigny. Auch Teixeira de Freitas erstellte erst eine Consolidação des geltenden Privatrechts (1858), bevor er – da er die portugiesischen Bemühungen auf dem gleichen Gebiet wegen des zu grossen französischen Einflusses ablehnte – seinen Entwurf in ähnlicher Manier wie Bello erarbeitete, sich aber in wesentlich stärkerem Maße von den deutschen Pandektisten leiten ließ und so auch seinem Werk einen Allgemeinen Teil gab. Weit eklektischer war das Zivilgesetzbuch von Vélez Sarsfield, in dem 1.200 Vorschriften aus Freitas „Esboço“ übernommen worden sein sollen, 800 direkt aus dem Corpus Iuris Civilis, 300 aus dem spanischen ZGB Entwurf von Florencio García Goyena (1851), 170 aus Bellos Código Civil, 145 aus dem französischen Code civil (wenngleich ungefähr die Hälfte der Lösungen von Vélez Sarsfield indirekt mit diesem wegen der gemeinsamen römischen Wurzeln übereinstimmen), 70 aus Zachariaes (deutschem) Werk zum französischen Recht, 52 aus Demolombes Kommentar zum Code civil, 52 aus dem ZGB von Lousiana, 50 aus Troplongs Lehrbuch zum französischen Vertrags- und Erbrecht, 27 aus dem uruguayischen Entwurf von Acevedo (1851), 13 aus dem russischen ZGB, 11 aus dem Sachenrechtsbuch des Belgiers Molitor und 4 aus den Gesetzen des Staates New York.
3. Entwicklung im 20. Jahrhundert
Mit dem stark zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss der USA seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verlor das europäische Privatrecht in Lateinamerika an Bedeutung. Im Geiste der Monroe-Doktrine versuchten die USA seitdem, ihren Einfluss in der westliche Hemisphere auch rechtlich zu untermauern. Beispiele hierfür sind die (wenig erfolgreiche) Entsendung von Experten in etliche mittel- und südamerikanische Staaten in den Jahren 1919 bis 1934, um Bankrechtsreformen nach dem US-amerikanischen Modell zu fördern, ebenso wie in den 1970er Jahren, zu Zeiten Pinochets, die Entsendung der „Chicago Boys“ nach Chile, wo der Einfluss im Gesellschafts- und Finanzrecht noch heute sichtbar ist. Breiter angelegt sind die Bemühungen der Rechtsvereinheitlichung, die mit der von den USA initiierten Pan-Amerikanischen Union (1910) begannen und seit 1945 von der daraus entstandenen Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) betrieben werden. Die in diesem Rahmen stattfindenden inter-amerikanischen Spezialkonferenzen für internationales Privatrecht werden zunehmend als Vehikel genutzt, um einen rechtlichen Rahmen für eine gesamtamerikanische Freihandelszohne (FTAA) von Alaska bis Feuerland zu entwerfen. Im Zuge der Abhängigkeit vieler lateinamerikanischer Staaten von Finanzierungen durch die Weltbank und die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank, deren Darlehen zunehmend an die Schaffung bestimmter rechtlicher Rahmenbedingungen gekoppelt sind, könnte sich z.B. das Inter-Amerikanischen Modellgesetzes über Mobiliarsicherheiten, das im Wesentlichen auf Kapitel 9 des Uniform Commercial Code (UCC) beruht, als weit verbindlicher erweisen als ursprünglich von den zustimmenden lateinamerikanischen Regierungen angenommen.
Dennoch bleiben im Bereich des Zivilrechts auch europäische Rechtsquellen einflussreich. So sind die neueren Zivilgesetzbücher von Bolivien (1976), Paraguay (1985) und Peru (1984) stark vom italienischen Codice civile von 1942 beeinflusst worden. Einzelne Kapitel des peruanischen ZGB haben auch Vorschriften aus dem deutschen (BGB), niederländischen (Burgerlijk Wetboek), portugiesischen und schweizerischen Recht (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Schweizerisches Obligationenrecht) übernommen. Dies geschah allerdings selten wirklich durchdacht. So findet sich dort auch ein Kapitel über das Rechtsgeschäft, dessen Sinn den meisten peruanischen Rechtsanwendern verschlossen bleibt. Diese Ausstrahlungen des europäischen Privatrechts sind nur sehr relativ, da als andere Einflussquellen die Zivilgesetzbücher anderer lateinamerikanischer Staaten, aber auch die Äthiopiens, des Libanon, und der Philippinen angegeben werden. So hängt die Auswirkung ausländischen Rechts auf viele lateinamerikanische Rechtsentwicklungen zumeist von den Sprachkenntnissen, der Auslandserfahrung und der persönlichen Bibliothek der jeweilig involvierten Juristen ab. Nicht selten wird auf ausländische Gesetze oder Autoren zur Rechtfertigung von inländischen Positionen Bezug genommen, ohne dass das eigene Recht oder die eigene Rechtsprechung – bis vor kurzem häufig mangels Zugänglichkeit – wirklich untersucht oder respektiert werden. Allerdings sind etwa in der Rechtsprechung der argentinischen und brasilianischen obersten Gerichtshöfe durchaus solide und wohl fundierte rechtsvergleichende Argumente zu finden, in denen sich Verweise auf US-amerikanisches Recht und auf europäische Rechtsordnungen, in Abhängigkeit vom Hintergrund des jeweils schreibenden Richters, mehr oder weniger die Waage halten. Eines der insgesamt eher seltenen Beispiele, in denen rechtsvergleichende Verweise auf europäisches Privatrecht zur Rechtfertigung einer neuen Rechtsprechung benutzt wurden, ist die Anerkennung der ex nunc-Wirkung der Unwirksamkeit von Arbeitsverträgen in Brasilien, die unter anderem mit dem deutschen faktischen Arbeitsvertrag und den vergleichbaren Lösungen im französischen und italienischen Recht begründet worden ist (Supremo Tribunal Federal, 30.11.2004, AI 476950, Votum des Richters Mendes, der 1990 in Münster promoviert wurde und heute Präsident des obersten Bundesgerichtes ist).
Literatur
René David, L’originalité des droits de l’Amérique latine, in: idem, Le Droit comparé: Droits d’hier, droits de demain, 1982, 161 ff. (ND des Originals von 1953); Julio Olavarría Ávila, Los Códigos de Comercio Latinoamericanos, 1961; Kenneth L. Karst, Keith S. Rosen, Law and Development in Latin America, 1975; John H. Merryman, David S. Clark, John O. Haley, The Civil Law Tradition: Europe, Latin America, and East Asia, 1994; Alejandro Guzmán Brito, La Codificación Civil en Iberoamérica: Siglos XI-XX, 2000; Matthew C. Mirow, Latin American Law, 2004; Eugen Bucher, Zu Europa gehört auch Lateinamerika!, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 12 (2004) 515 ff; Jan Kleinheisterkamp, Development of Comparative Law in Latin America, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 260 ff.