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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 15:50 Uhr

von Patrick C. Leyens

1. Begriff des Finanzanalysten

Finanzanalysten vermitteln dem Anlegerpublikum des Kapitalmarkts Information über den Emittenten oder die von ihm emittierten Finanzinstrumente. Finanzanalysen enthalten direkt oder indirekt eine Empfehlung zu einer bestimmten Anlageentscheidung, also zum Erwerb oder zur Veräußerung eines Finanzinstruments. Finanzanalysen unterscheiden sich von der Anlageberatung dadurch, dass ihre Empfehlungen nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse und Anlageziele eines bestimmten Kunden abgestimmt sind. Für eine zielgenaue Anlageberatung sind Finanzanalysen jedoch von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Die vertriebsorientierte Analyse (sell-side analysis) wird ganz überwiegend von Banken und nur zu einem kleinen Teil von unabhängigen Finanzanalysten erbracht. Demgegenüber werden die selteneren Finanzanalysen im Auftrag der Käuferseite (buy-side analysis) in der Regel von Analysten erstellt, die in einem festen Beschäftigungsverhältnis zu einem professionellen Anleger stehen.

2. Einordnung und Funktion der Finanzanalyse

Finanzanalysten zählen zu den Finanzintermediären im weiteren Sinne. Mit dem Begriff der Finanzintermediation wird die Zusammenführung von Kapitalangebot und ‑nachfrage beschrieben. Finanzintermediäre im engeren Sinne sind vor allem Banken (Europäischer Bankenmarkt). Diese nehmen Kapital in Form von Spareinlagen auf und vergeben Kredite an Unternehmen. Dadurch gleichen sie die Unterschiede in den Anlagevolumina-, Zeit- und Risikopräferenzen von Kapitalanbietern und ‑nachfragern aus. Finanzintermediäre im weiteren Sinne erbringen hierzu Informationsleistungen, die die Zusammenführung von Angebot und Nachfrage ermöglichen oder unterstützen. Eine der Finanzanalyse vergleichbare Bedeutung kommt den Informationsdienstleistungen von Abschlussprüfern und Rating-Agenturen zu. Zusammen mit diesen gelten Finanzanalysten als die wichtigsten Informationsintermediäre des Kapitalmarkts.

Übergreifend besteht die Aufgabe dieser Intermediäre darin, fehlende Informationen zu substituieren, vorhandene Informationen zu verifizieren und Informationen im wirtschaftlichen Gesamtkontext zu evaluieren. Die Leistungen der Informationsintermediäre ergänzen sich und bauen zum Teil direkt oder indirekt aufeinander auf. Sie folgen aber einer jeweils eigenen Methodik. Bei der Finanzanalyse liegt der Schwerpunkt auf der zukunftsbezogenen Evaluation von Unternehmensdaten im Zusammenhang mit der Entwicklung des Finanzmarkts. Einbezogen werden insbesondere die Wettbewerbssituation des Emittenten, die Entwicklung von Währungsrisiken und die nationale wirtschaftliche Entwicklung im internationalen Vergleich.

Die Existenz von Finanzanalysten ist wie die der Finanzintermediäre allgemein mit der Transaktionskostenökonomik und der Prinzipal-Agenten-Theorie zu erklären. Finanzanalysten tragen hiernach vor allem dazu bei, die Informationsasymmetrien zwischen Emittenten und Anlegern zu überwinden. Die Informationsasymmetrien sind am Kapitalmarkt besonders ausgeprägt und können ohne die Leistungen von Intermediären nicht oder nur eingeschränkt überwunden werden. Dies hängt zum einen mit den Vertrauenseigenschaften von Finanzinstrumenten zusammen, deren Eignung zur Erfüllung individueller Anlageziele erst durch verlässliche, also insbesondere hinreichend unabhängige Informationen beurteilbar wird. Zum anderen kann sich die im Markt verfügbare Anlegerinformation als unzureichend erweisen. Grundlage der Anlegerinformation ist das weitgehend europäisch vereinheitlichte System der Publizität von Emittenten, das von der periodischen Regelpublizität bis hin zu ad hoc-Veröffentlichungspflichten reicht. Die von der Unternehmensführung des Emittenten zu veröffentlichenden Informationen unterliegen aber unvermeidbaren Färbungen und können unvollständig oder bewusst fehlerhaft sein. Die Finanzanalyse leistet einen unerlässlichen Beitrag zur Überwindung der hieraus entstehenden Informationsunsicherheit des Anlegerpublikums.

3. Stand der europäischen Rechtsangleichung

Kapitalmarktinformationen wie Finanzanalysen haben eine per se grenzüberschreitende Dimension. Schon deshalb ist die europäische Rechtsangleichung wie in Bezug auf Finanzintermediäre insgesamt weit fortgeschritten. Dem hohen Anteil der Banken am Markt für vertriebsorientierte Finanzanalysen entsprechend konzentriert sich die Regelsetzung darauf, einen ordnungsgemäßen Umgang mit Interessenkonflikten sicherzustellen, die unvermeidlich aus der Kombination der Finanzanalyse mit dem Vertrieb von Finanzinstrumenten resultieren. Die Europäische Kommission hat sich zuletzt in einer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament von 2006 mit dem Stand der europäischen Rechtsangleichung im Recht der Finanzanalyse auseinandergesetzt.

Die Marktmissbrauchs-RL (RL 2003/6) enthielt in Art. 6(5) erstmals spezielle Verhaltensanforderungen in Bezug auf Finanzanalysten (Marktmanipulation). Danach müssen Informationen mit Empfehlungen zu Anlagestrategien sachgerecht dargeboten und etwaige Interessenkonflikte offengelegt werden. Die Marktmissbrauchs-RL ist nicht auf Wertpapierdienstleister beschränkt. Sie betrifft demgemäß auch unabhängige Analysehäuser. Die Durchführungs-RL (RL 2003/125) sieht umfassende Pflichten zur Offenlegung in Bezug auf Interessenkonflikte vor, die im Zusammenhang mit Analystenempfehlungen entstehen.

In der gleich einer Verfassung für den Finanzmarkt konzipierten Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID, RL 2004/39) sind eine allgemeine Zulassungspflicht für das Erbringen von Wertpapierdienstleistungen und zahlreiche Verhaltenspflichten vorgesehen. Finanzanalysen unterliegen diesen Regeln als Nebendienstleistungen im Sinne der MiFID. Die allgemeinen Vorgaben der MiFID zu Interessenkonflikten der Finanzanalysten werden wiederum im Wege einer Durchführungs-RL (RL 2006/73) konkretisiert. Danach sind organisatorische Maßnahmen in Hinblick auf Analysten und andere Personen zu ergreifen, deren Aufgaben oder Geschäftsinteressen mit den Interessen der Zielgruppe von Finanzanalysen kollidieren können.

Zu den organisatorischen Maßnahmen zählt die Trennung von Tätigkeiten, die unterschiedlichen Kunden- oder Geschäftsinteressen dienen. International üblich sind in diesem Zusammenhang Unterbrechungen des Informationsflusses (chinese walls) zwischen Finanzanalyse- und Verkaufsabteilungen der Bank. Die Objektivität der Finanzanalyse ist weiterhin dadurch sicherzustellen, dass den Mitarbeitern Geschäfte untersagt werden, soweit sie Kenntnis vom Veröffentlichungszeitpunkt oder dem noch nicht öffentlichen Inhalt der Finanzanalyse haben. Verhindert wird dadurch das Ausnutzen von Informationsvorsprüngen gegenüber anderen Marktteilnehmern und insbesondere den Kunden des jeweiligen Finanzinstituts (front running). Gleichzeitig wird dem Verbot Rechnung getragen, durch eine Finanzanalyse keine neue Tatsachen zu schaffen, die zu einem Kursanstieg oder ‑verfall bei einem Finanzinstrument führen und an denen der Analyst ein Eigeninteresse hat (scalping). Zu unterbinden sind außerdem Geschäfte, die der Analyseempfehlung entgegen laufen. Insgesamt wird die Gefahr eingedämmt, dass Analysten unwahre Informationen verbreiten, um sich persönlich zu bereichern. Hiermit im Zusammenhang steht das Verbot, größere Leistungen für das Versprechen günstiger Analysen anzunehmen, dessen Anwendungsbereich auch Personen einschließt, die Entwürfe der Analysen überprüfen dürfen. Zuletzt gelten Einschränkungen dazu, zu welchen Zwecken Analysen überprüft werden dürfen.

Die Entwicklung des europäischen Privatrechts wird im Bereich der Finanzanalyse wie in Bezug auf Finanzintermediäre insgesamt durch die Empfehlungen der Internationalen Vereinigung der Wertpapieraufsichtsbehörden beeinflusst und vorangetrieben (International Organization of Securities Commissions, IOSCO). Die von der IOSCO 2003 veröffentlichten Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten ist für zweierlei Adressatenkreise von Bedeutung: Erstens richten sie sich an Finanzanalysten und empfehlen konkrete Maßnahmen zur Vermeidung und Handhabung von Interessenkonflikten, die internationale Geltung beanspruchen. Zweitens richten sie sich an Emittenten und Wertpapierdienstleister, die von einer selektiven Informationsweitergabe an Finanzanalysten absehen und die Analyseergebnisse nicht beeinflussen sollen.

4. Regelungsfragen und ‑strukturen

Im Recht der Finanzanalyse stellen sich im Kern zwei Regelungsaufgaben: zum einen die Sicherstellung ordnungsgemäßer Analyseverfahren, zum anderen die Gewährleistung hinreichender Objektivität der Finanzanalysten. Die Notwendigkeit zu regulatorischen Eingriffen besteht jedoch nur, soweit der Markt nicht selbst zu befriedigenden Ergebnissen kommt. In der US-amerikanisch geprägten Debatte wird unter Hinweis auf den Reputationsmechanismus (vereinzelt) ein Absehen von Regulierung oder die Beschränkung auf Offenlegungspflichten vorgeschlagen. Angenommen wird, dass die Glaubwürdigkeit von Finanzanalysen durch ihre Treffgenauigkeit bedingt ist. Ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit ist erst bei wiederholt zutreffenden Analyseergebnissen aufzubauen. Die hieraus entstehende Reputation ist deshalb ein langfristiges Investitionsgut, das nach allgemeiner Regel nicht zur Erzielung bloß kurzfristiger Gewinne aufs Spiel gesetzt wird.

Im Einzelnen ist vieles noch ungeklärt. Auszugehen sein dürfte aber davon, dass es insbesondere im Zusammenhang mit Marktblasen zu Änderungen der beschriebenen Anreizstrukturen kommt. Die Kauf- und Verkaufentscheidungen werden in überhitzten Märkten gerade nicht auf der Grundlage von Intermediärleistungen getroffen. Demgemäß sinkt die Nachfrage nach Finanzanalysten. Theoretisch kommt es gleichzeitig zu einer gesteigerten Bereitschaft von Analysten, den Emittenten eine günstige Beurteilung zu versprechen. Die Folgen werden durch ein sog. Herdenverhalten potenziert. Mit dem Begriff des Herdenverhaltens wird die Beobachtung umschrieben, nach der eine Vielzahl von Finanzanalysten gleichlautende Empfehlungen abgibt, die nicht mit den verfügbaren Marktdaten zu rechtfertigen sind. Zumindest in Teilen ist dieses Phänomen mit erfolgsorientierten Vergütungsmodellen zu erklären, die ein kurzfristorientiertes Empfehlungsverhalten fördern und den Analysten dazu anreizen, eine Marktblase bis zu ihrem Platzen weiter anzureichern.

Maßgeblich zur Verfestigung der europäischen wie internationalen Regulierungsansätze hat der unerwartete Zusammenbruch von Enron, dem seinerzeit zweitgrößten Energieversorger der USA, im Jahr 2001 beigetragen. Nicht nur Anteilseigner, sondern auch Arbeitnehmer waren von den dramatischen Folgen betroffen. Letztere verloren nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern büßten auch Ansprüche aus der betrieblichen Altersvorsorge ein. Ursache waren u.a. gezielte Falschbilanzierungen, die vom Abschlussprüfer nicht angezeigt worden waren. Trotz gegenläufiger Indizien waren Anteile an Enron aber auch noch wenige Tage vor der Insolvenz durch die Mehrzahl der Finanzanalysten zum Kauf empfohlen worden.

Die Geschehnisse um Enron führten in den USA zu erheblichen Verschärfungen der Kapitalmarktregulierung. Die Europäische Kommission reagierte auf die Befürchtung vergleichbarer Schwächen der Corporate Governance von Finanzanalysten mit der Einsetzung der Expertengruppe Financial Analysts Forum. Der Abschlussbericht von 2003 nahm im Vergleich zu dem nahezu zeitgleich vorgelegten Empfehlungswerk der ISOCO deutlich geringeren Einfluss. Er trug aber dazu bei, dass sich auch in Europa die Erkenntnis durchsetzte, nach der Leistungskombinationen wie der Vertrieb von Finanzinstrumenten bei gleichzeitiger Erstellung von Finanzanalysen für einen einzelnen Finanzintermediär zu kaum lösbaren Interessenkonflikten führen. Hieraus ist die angesprochene beschriebene Verdichtung der Regeln zum Umgang mit Interessenkonflikten bei der vertriebsorientierten Finanzanalyse zu erklären.

Noch nicht abschließend beantwortet ist, wie sicherzustellen ist, dass der Markt hinreichend mit Finanzanalysen zu kleinen und mittleren Emittenten versorgt wird. Aufgeworfen werden in diesem Zusammenhang komplexe Fragen zur Finanzierung der Finanzanalysen. Mit der Quersubventionierung durch das Vertriebsgeschäft der Banken sind die beschriebenen Interessenkonflikte verbunden, die sich nicht vollständig vermeiden lassen. Auf die Analyse kleinerer Emittenten wird von Seiten der Banken z.T. ganz verzichtet. Unabhängige Analysen sind zwar geeignet, die aus Emittenten- wie Anlegersicht kaum verzichtbare Informationsversorgung sicherzustellen. Die Vergütung durch den Emittenten birgt aber kaum geringere Gefahren für Interessenkonflikte als die Finanzanalyse durch Banken. Eine Alternative wird durch das US Global Settlement von 2003 aufgezeigt. Im Global Settlement, einem gerichtlichen Vergleich zwischen dem Attorney General, New York, und den führenden Investmentbanken, verpflichteten sich letztere, über fünf Jahre einen zweistelligen Millionenbetrag für die unabhängige Finanzanalyse zur Verfügung zu stellen. Ob diese Form der Quersubventionierung sich außerhalb der akuten Krisenbewältigung auch zur nachhaltigen Finanzierung der Finanzanalyse als erfolgversprechend erweisen kann, ist bislang nicht geklärt.

5.Vereinheitlichungsprojekte und Perspektiven

Aktuell beschäftigt sich die Europäische Kommission in enger Anlehnung an die Themen der IOSCO-Empfehlung mit den folgenden vier Regulierungsfragen: Erstens die Möglichkeit einer obligatorischen Registrierung der Analysten, eventuell in Verbindung mit Berufsqualifikationen, zweitens die regulatorische und wettbewerbsmäßige Stellung unabhängiger Finanzanalyseinstitute gegenüber der Erbringung von Finanzanalysen durch Investmentbanken, drittens die Frage, ob es wünschenswert ist, weitere Regeln zur Corporate Governance der Analysten und zum Wohlverhalten der Analysten in ihrer der Beziehung zu Emittenten einzuführen und viertens die Ausbildung der Anleger im Erkennen und in der Bewertung von Interessenkonflikten auf dem Gebiet der Finanzanalyse.

Perspektivisch ist zu fragen, ob und inwieweit die Finanzanalysten in ein übergreifendes Konzept der Marktzugangskontrolle durch Informationsintermediäre (gatekeeping) eingebunden werden können und sollten. Hierbei handelt es sich um eine grundlegende Regulierungsfrage die über Finanzanalysten hinaus sämtliche Finanzintermediäre betrifft.

Literatur

Charles Hollander, Simon Salzedo, Conflicts of Interest & Chinese Walls, 2000; Hanno Merkt, Unternehmenspublizität, 2001; International Organization of Securities Commissions, Statement of Principles for Addressing Sell-Side Securities Analyst Conflicts of Interest, September 2003; Jill E. Fisch, Hillary A. Sale, The Securities Analyst as Agent, Iowa Law Review 88 (2003) 1035 ff.; Stephen J. Choi, Jill E. Fisch, How to Fix Wall Street, Yale Law Journal 113 (2003) 269 ff.; Ulrich L. Göres, Die Interessenkonflikte von Wertpapierdienstleistern und ‑analysten bei der Wertpapieranalyse, 2004; Christoph H. Seibt, Finanzanalysten im Blickfeld von Aktien- und Kapitalmarktrecht, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 2006, 501 ff.; John C. Coffee, Gatekeepers, 2006; Jan von Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts, 2008; Patrick C. Leyens, Unabhängigkeit der Informationsintermediäre zwischen Vertrag und Markt, in: Perspektiven des Wirtschaftsrechts: Beiträge für Klaus J. Hopt, 2008, 423 ff.

Abgerufen von Finanzanalyst – HWB-EuP 2009 am 24. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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