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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 17:55 Uhr

von Stefan Vogenauer

1. Begriff und Problematik des Richterrechts

Richterrecht ist von Gerichten gesetztes Recht. Im englischen Sprachraum spricht man von judge-made law, in Frankreich von droit prétorien. Die Summe von Gerichtsentscheidungen, die über den konkreten Rechtsstreit hinaus Wirkung entfalten, wird häufig auch mit dem kollektiven Namen für die Dritte Gewalt als „die Rechtsprechung“ oder la jurisprudence bezeichnet. Da es sich um Recht handelt, das aus von Gerichten entschiedenen Fällen entsteht, ist auch der Name „Fallrecht“ oder case law gebräuchlich. Diese Fälle wiederum haben vorentscheidende oder „präjudizielle“ Bedeutung für nachfolgende Entscheidungen, woraus die Bezeichnung als „Präjudizienrecht“ oder precedent abgeleitet ist.

Im modernen Staat ist das Richterrecht vor allem ein verfassungsrechtliches Problem. Dort gebietet die Theorie der Gewaltenteilung, Rechtsetzung und Rechtsprechung konsequent zu trennen und unterschiedlichen Institutionen zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund erscheint die richterliche Setzung von Recht als Anmaßung einer Kompetenz, die der Legislative zusteht. Da Richter im Gegensatz zum parlamentarischen Gesetzgeber nicht demokratisch legitimiert sind, steht auch das Demokratieprinzip in Frage. Schließlich ist Rechtsschöpfung durch die Gerichte auch im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip bedenklich, denn im Gegensatz zu vom Gesetz vorgegebenen Entscheidungen ist sie von den Rechtsunterworfenen nicht oder nur eingeschränkt vorhersehbar. Eng mit der Befugnis der Gerichte zur schöpferischen Rechtsetzung verbunden ist die Frage, ob und inwieweit von Richtern gesetzte Normen rechtliche Bindungswirkung entfalten (Precedent, Rule of).

2. Richterrecht in England

In England und in den anderen Rechtsordnungen des common law ist das Richterrecht seit jeher als Rechtsquelle neben dem Gesetzesrecht und dem Gewohnheitsrecht anerkannt. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein übten die gesetzgebenden Gewalten ihre Rechtsetzungsbefugnis nur sporadisch aus. Die Rechtsbildung blieb damit weitgehend den Gerichten überlassen. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts regte sich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Position des Souveräns Kritik an dieser Praxis. Ihr wurde jedoch entgegengehalten, tatsächlich setze der Richter kein Recht, sondern er erkläre nur das von ihm vorgefundene, seit jeher vorhandene common law. Unübersehbar beruhte dieser Ansatz, der heute als „Erklärungstheorie des Rechts“ (declaratory theory of law) bezeichnet wird, auf einer Fiktion. Er wurde im 19. Jahrhundert von der auf John Austin zurückgehenden Lehre ersetzt, die Richter seien lediglich Gehilfen des souveränen Gesetzgebers, der einen Teil der ihm zustehenden Gewalt stillschweigend an sie delegiere. Dennoch machte die Rechtsprechung im 19. Jahrhundert wesentlich zurückhaltender von ihrer Rechtsetzungskompetenz Gebrauch als zuvor. Diese „richterliche Selbstbeschränkung“ (judicial self-restraint) ist vermutlich einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die Rolle der Rechtsprechung nie ernsthaft in Frage gestellt wurde. Der Gefahr richterlicher Willkür im Bereich des Fallrechts wirkte auch die Verfestigung der rule of precedent (Precedent, Rule of) entgegen, der zufolge Vorentscheidungen für nachfolgende Gerichte bindend waren. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Rechtsprechung wieder vermehrt rechtsschöpferisch tätig. Gleichzeitig wurde die strikte Präjudizienbindung aufgeweicht. Heute bekennen sich die englischen Gerichte auch wieder offener zu ihrer rechtserzeugenden Funktion, sehen sich aber gleichzeitig häufiger dem Vorwurf des „richterlichen Aktivismus“ (judicial activism) ausgesetzt.

3. Richterrecht in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen

In den kontinentalen Rechten des Mittelalters und der frühen Neuzeit war die Ausgangsposition zunächst ähnlich. Angesichts der geringen gesetzgeberischen Produktion hatte Richterrecht enorme praktische Bedeutung. Mit der Rezeption des Corpus Juris Civilis und zunehmender Territorialgesetzgebung, seit dem späten 18. Jahrhundert auch im Gewand von Kodifikationen, gab es jedoch weniger Raum und weniger Notwendigkeit für Rechtsetzung durch Gerichte. Vielmehr wollte man im Gefolge der französischen Revolution unter Berufung auf die am Beginn dieses Beitrags angeführten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte die richterliche Rolle im wesentlichen auf die bloße Rechtsanwendung beschränken. In Deutschland übernahm die Rechtswissenschaft die Führungsrolle bei der Fortbildung des Rechts. Zwar gewann, wie die neuere rechtshistorische Forschung gezeigt hat, das im Anschluss an Montesquieu vielzitierte ideologische Leitbild des Richters als „Mund des Gesetzes“ (bouche de la loi) auch im 19. Jahrhundert nicht durchgehend die Oberhand, und es kam auch in der Praxis durchaus zu richterlichen Rechtserzeugungen. In der Regel wurde jedoch die schöpferische Funktion des Richters (le pouvoir créatif ou normatif du juge) geleugnet und seine Bindung an das Gesetz betont. Erst gegen Ende des Jahrhunderts mehrten sich wieder Stimmen, die Richterrecht als ein unvermeidbares, wenn auch nicht unbedingt wünschenswertes Phänomen ansahen.

Das 20. Jahrhundert war durch eine zunehmend selbstbewusste Rechtsprechung gekennzeichnet. Insbesondere in Frankreich hing diese Entwicklung damit zusammen, dass der Code civil und die anderen großen Kodifikationen keine Antworten auf die neuen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der Zeit bereithielten. In Deutschland rückte das Trauma der Inflation und das Bemühen des Reichsgerichts, ihre Härten ohne erkennbare Bezugnahme auf das Gesetz abzumildern, die faktische Bedeutung des Richterrechts in das Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung. Schon zuvor hatte der vieldiskutierte Art. 1 Abs. 2 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs die Zulässigkeit richterlicher Regelbildung zumindest im beschränkten Umfang sanktioniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluss der rechtspolitisch exponierten Verfassungsgerichte, die rechtsetzende Rolle der Gerichte unübersehbar. Die Rechtsprechung nahm sie jetzt auch offen für sich in Anspruch. Die rechtswissenschaftliche Methodenlehre hat dem jedoch bisher nur eingeschränkt Rechnung getragen. Zwar gibt es viele Stimmen, die die richterliche Rechtserzeugung offensiv befürworten oder zumindest resignativ akzeptieren (vgl. Franz Gamillscheg: „Das Richterrecht bleibt unser Schicksal“). Die vorherrschende methodenrechtliche Strömung hält jedoch noch immer daran fest, Richterrecht sei keine „Rechtserzeugungs-“, sondern bloße „Rechtserkenntnisquelle“. Statt „Richterrecht“ bevorzugt sie auch den Ausdruck „richterliche Rechtsfortbildung“, der den schöpferischen Charakter der Rechtsprechung weniger hervortreten lässt. Dies ist umso verwunderlicher, als die Rechtswissenschaft ihre Definitionsmacht und ihren Leitanspruch hinsichtlich der Strukturierung des Rechtsstoffs zunehmend aufgegeben hat und sich vielfach damit begnügt, richterrechtliche Rechtsentwicklungen zu akzeptieren und möglichst systemkonform in ihr Gesamtgebäude zu integrieren. Besonders augenfällig ist diese Entwicklung etwa im deutschen Verfassungsrecht, wo Bernhard Schlink das Schlagwort von der „Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ geprägt hat.

4. Richterrecht im europäischen Privatrecht

Das Gemeinschaftsrecht folgte zunächst der kontinentalen Tradition und sprach dem Richterrecht jegliche Rechtsquelleneigenschaft ab. Auch der EuGH bemühte sich, durch Übernahme des deduktiv-lakonischen französischen Urteilsstils seine Bindung an das geschriebene Gemeinschaftsrecht zu unterstreichen. Doch schon nach wenigen Jahren entwickelte sich der EuGH zum Motor der Rechtsentwicklung, der mit kühnen Urteilen ein Gemeinschaftsverfassungsrecht zur Entstehung brachte, das in den Gründungsverträgen kaum angedeutet war. Heute ist das Richterrecht ein dem Gesetzesrecht ebenbürtiger Teil des geltenden Gemeinschaftsrechts, und seine Rechtsquelleneigenschaft ist fast uneingeschränkt anerkannt.

Auch das europäische Privatrecht besteht mittlerweile zu einem erheblichen Teil aus Präjudizienrecht des EuGH. Es bezieht sich vor allem auf die in den privatrechtlich relevanten Richtlinien geregelten Materien. Doch auch im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts, beispielsweise zur Wirksamkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen oder zur Reichweite des Anti-Diskriminierungsgrundsatzes, traf der EuGH wegweisende Entscheidungen für das Gemeinschaftsprivatrecht. Schließlich entwickelte er auch im Privatrecht Allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, wenn er dabei auch häufig auf den zivilrechtlichen Erfahrungsschatz der nationalen Rechte zurückgriff, wie etwa bei der Bekämpfung von Rechtsmissbrauch oder dem Verbot des venire contra factum proprium.

Schließlich beeinflusst das Richterrecht des EuGH zunehmend auch die Privatrechte der Mitgliedstaaten. Dies gilt offenkundig für die Interpretation und Fortbildung unmittelbar anwendbaren primären und sekundären Gemeinschaftsrechts. Von großer Bedeutung ist jedoch die Rechtsprechung des EuGH zum Richtlinienrecht (Richtlinie), die die Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Interpretation sämtlichen nationalen Rechts berücksichtigen müssen, das in den Anwendungsbereich des Richtlinienrechts fällt – was wiederum die nationalen Gerichte häufig dazu zwingt, rechtserzeugendes Richterrecht zu entwickeln. Die nationalen Privatrechte werden auch in immer stärkerem Maße durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verändert.

Literatur

Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956 (4. unveränderte Aufl. 1990); John P. Dawson, The Oracles of the Law, 1968; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bde., 1975–1977; D. Neil MacCormic, Robert S. Summers (Hg.), Interpreting Precedents, 1997; Reiner Schulze, Ulrike Seif (Hg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003; Philippe Jestaz, Les sources du droit, 2005; Stefan Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006) 48 ff.; Ulrike Müßig, Geschichte des Richterrechts und der Präjudizienbindung auf dem europäischen Kontinent, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006) 79 ff.; Stefan Vogenauer, Sources of Law and Legal Method in Comparative Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 869 ff.; Brice Dickson, Judicial Activisim in Common Law Supreme Courts, 2007; Ewoud Hondius (Hg.), Precedent and the Law: Reports of the XVIIth Congress, International Academy of Comparative Law, Utrecht, 16–22 July 2006, 2007; Arthur Hartkamp, ECJ and European Private Law, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 449 ff.

Abgerufen von Richterrecht – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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