Historische Rechtsschule: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:24 Uhr

von Thomas Rüfner

1. Recht und Geschichte

Das Verhältnis zur Historie ist ein Grundproblem der juristischen Wissenschaft. Die Quellen des Rechts sind im Moment der Rechtsanwendung immer schon Texte aus einer vergangenen Zeit. Zwischen Gesetzestexten, die vor Jahrtausenden entstanden sind, und solchen aus neuerer und neuester Zeit besteht dabei letztlich nur ein gradueller Unterschied. Für jeden Rechtsanwender stellt sich daher die Frage, inwieweit er die Bedeutung einer Rechtsquelle in ihrem ursprünglichen historischen Kontext ermitteln kann und muss und inwieweit er frei ist, dem überlieferten Text für die Gegenwart eine neue Bedeutung zu geben.

Bei diesem Dilemma setzte die Historische Rechtschule an. Für ihre Exponenten erfordert die Beantwortung jeder Rechtsfrage zwingend die Auseinandersetzung mit den historischen Ursprüngen der anwendbaren Rechtsnormen. Hinsichtlich der Möglichkeit, die Bedeutung historischer Texte zu verstehen und daraus Folgerungen für die Gegenwart zu ziehen, ist die Historische Rechtsschule optimistisch. Zugleich hält sie es für ausgeschlossen, von der Geschichte abzusehen. Selbst wer sich einbildet, die Rechtsordnung für die Gegenwart ganz neu zu erfinden, reagiert auf die historisch gewachsenen Rahmenbedingungen, die er vorfindet und ist insofern von der Geschichte beeinflusst.

Die Historische Rechtsschule entstand in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde bald zur dominierenden wissenschaftlichen Richtung in Deutschland. Sie übte auch auf die Jurisprudenz in anderen Ländern großen Einfluss aus. Wegen dieses Erfolgs ist das Gedankengut der Historischen Rechtsschule seinerseits von historischer Bedeutung. Die deutsche Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist geprägt von den Ideen der Historischen Rechtsschule; ihre Lehren sind nur vor dem Hintergrund dieser Ideen verständlich. An der Historischen Rechtsschule besteht aber nicht nur ein antiquarisches Interesse. Die Frage nach dem Verhältnis der „Vergangenheit zur Gegenwart“ (Friedrich Carl von Savigny) oder nach der Bedeutung der historischen Grundlagen für die Fortentwicklung des Rechts in der Zukunft ist nach wie vor aktuell, und es fehlt nicht an Versuchen, das Denken der Historischen Rechtsschule für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

2. Savigny und das Programm der Historischen Rechtsschule

Das Forschungs- und Methodenprogramm der Historischen Rechtsschule wird im Folgenden im Wesentlichen anhand der Schriften Savignys (1779–1861) referiert. Damit soll die Bedeutung anderer Rechtslehrer nicht herabgewürdigt werden. Die Lehre Savignys nahm in wichtigen Punkten Gedanken auf, die schon Gustav Hugo (1764–1844) entwickelt hatte. Georg Friedrich Puchta (1798–1864) entwickelte Savignys Lehre der Rechtsentstehung weiter. Dessen ungeachtet ist nicht zu bezweifeln, dass die Ideen der Historischen Rechtsschule vor allem in der Gestalt wirksam wurden, die ihnen Savigny in seinen schwungvollen Programmschriften gab.

Erstmals formulierte Savigny seine Theorie und Methodenlehre, die er schon ab 1802 in Vorlesungen vorgetragen hatte, in der bekannten Streitschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ von 1814. Eine knappe Fassung seiner Grundgedanken ist in dem ein Jahr später publizierten Aufsatz „Über den Zweck dieser Zeitschrift“ enthalten, mit der Savigny die von ihm gemeinsam mit den gleichgesinnten Kollegen Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854) und Johann Friedrich Ludwig Göschen (1778–1837) herausgegebene „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ einleitete. Ausführlich legte Savigny seine Ideen im ersten Band seines Hauptwerks „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840 dar.

a) Die „Herrschaft der Vergangenheit“

Der Grundgedanke Savignys kommt in dem Satz zum Ausdruck, für die Historische Rechtsschule sei „der Stoff des Rechts … durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben“. Damit bringt Savigny nicht nur die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass das jeweils geltende Recht das Produkt einer historischen Entwicklung ist, sondern auch, dass ein Bruch mit der Geschichte, die Neuerfindung des Rechts unter Absehen von den historischen Vorläufern, nicht möglich ist. Die Begründung liegt für Savigny darin, dass „die Richtung der Gedanken, die Fragen und Aufgaben … auch da noch durch den vorhergehenden Zustand bestimmt“ werden, wo neues Recht gesetzt wurde. Für den Gesetzgeber ist es unmöglich, ein neues Rechtsystem zu schaffen, ohne sich auf den vorherigen Rechtszustand wenigstens dadurch zu beziehen, dass er ihn negiert. Für den Rechtsanwender ist es ebenso unmöglich, sich von den Problemen und Fragestellungen der Vergangenheit vollständig zu lösen.

Weil der Bruch mit der Geschichte unmöglich und die „Herrschaft der Vergangenheit“ unumgänglich ist, kommt es für Savigny darauf an, die Abhängigkeit des Rechts von der Geschichte anzunehmen und die Rechtswissenschaft als geschichtliche Wissenschaft zu betreiben. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, „den gegebenen Stoff zu durchschauen, zu verjüngen und frisch zu erhalten“. Auf der Basis historischen Verständnisses soll es möglich sein, dass Recht nicht nur zu verstehen, sondern es auch organisch, das heißt, im Einklang mit seinen inneren Gesetzmäßigkeiten fortzuentwickeln.

Den Ursprung dieser inneren Gesetzmäßigkeiten sieht Savigny im Volksgeist, der das Recht hervorbringt. In einem ursprünglichen Entwicklungszustand bringt das Volk als Ganzes das Recht hervor – nicht durch Gesetzgebung, sondern durch die allmähliche Herausbildung von Rechtsgewohnheiten. Auf einer höheren Entwicklungsstufe wird die Fortbildung des Rechts zur Sache von Spezialisten. Der Volksgeist wirkt nun durch die wissenschaftliche Tätigkeit der Juristen, die das Recht systematisch darstellen, aber auch neue Regeln entwickeln und als überholt erkannte Normen, „abgestorbenen Rechtsstoff“, ausscheiden. Die Juristen werden so gewissermaßen zu Volksvertretern, sie sind der Stand, „der in diesem Kreise des Denkens die Gesammtheit vertritt“. Die Aufgabe, in dieser Weise an der Fortentwicklung des Rechts mitzuwirken, fällt akademisch-theoretisch arbeitenden Juristen und Praktikern in gleicher Weise zu. Auch die juristische Praxis ist für Savigny wissenschaftliche Tätigkeit.

b) Geschichtliche Methode und Begriffsjurisprudenz

Zur Frage, welche juristische Methode die Erkenntnis und Fortbildung des Rechts im Einklang mit dem Volksgeist ermöglicht, äußert sich Savigny in seinen Programmschriften nicht präzise. Im „Beruf“ spricht er von der Notwendigkeit, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so sein organisches Princip zu entdecken“. Dieses „organische Princip“ ist mit den „leitenden Grundsätzen“ zu identifizieren, aus denen sich die einzelnen Rechtsregeln mit mathematischer Sicherheit ergeben und deren Beherrschung nach Savigny für die römischen Juristen der klassischen Zeit charakteristisch ist. Im „System“ konkretisiert Savigny seine Überlegungen insofern, als er die Betrachtung von Rechtsinstituten in den Vordergrund stellt. Eine genaue Erklärung für den Weg, auf dem sich das „organische Princip“ oder die „leitenden Grundsätze“ aus dem gegebenen Rechtsstoff oder der Anschauung eines Rechtsinstituts herausdestillieren lassen sollten, gibt Savigny nicht.

Spätere Anhänger der Historischen Rechtsschule, vor allem Rudolf von Jhering (1818–1892) in seinen frühen Werken, versuchten, den Vorgang der Entwicklung neuer Rechtsätze aus dem historischen Rechtsstoff näher zu erläutern. Für Jhering war die Bildung von Begriffen, die das Wesen eines Rechtsinstituts richtig erfassen, der entscheidende Schritt. Nach Jhering bieten die so gebildeten Begriffe die „Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts von innen heraus“. Durch Kombination der aus dem Rechtsstoff gewonnenen Begriffe sollen sich „neue Begriffe und Rechtssätze bilden“ lassen. Es ist vor allem diese Betonung begrifflicher Deduktionen, die der deutschen Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den (später von Jhering selbst in Abkehr von seinen früheren Überzeugungen erhobenen) Vorwurf eingetragen hat, sie sei eine lebensfremde Begriffsjurisprudenz. Inwieweit dieser Vorwurf auch Zeitgenossen Jherings und bereits Puchta, den Jhering (vor seier Abkehr von der begrifflichen Methode) als sein Vorbild nannte, oder gar Savigny selbst trifft, ist strittig.

c) Geschichtliches Recht und Naturrecht

Aus Savignys Auffassung des Rechts als Produkt einer historischen Entwicklung folgt unmittelbar seine Ablehnung der juristischen Methodik des Naturrechts und des usus modernus. Das Naturrecht ging davon aus, dass sich das Recht aus vernünftigen Prinzipien ableiten ließ. Für Savigny war die Neuerrichtung einer Rechtsordnung ohne Rücksicht auf den gewachsenen Normbestand unmöglich und jeder Versuch zu einem solchen Bruch mit der Vergangenheit eine Störung der organischen Fortentwicklung des Rechts. Den usus modernus musste er wegen der synkretistischen Verwendung von Elementen der römischen und der deutschen Rechtstradition ohne Berücksichtigung der historischen Herkunft ablehnen. In der Ablehnung dieser beiden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dominierenden wissenschaftlichen Richtungen knüpfte Savigny an Gustav Hugo an.

Savigny missbilligte indes nicht nur die Methoden der Rechtswissenschaft in der Zeit, die seiner eigenen Epoche unmittelbar voranging, sondern berücksichtigte auch deren Resultate in seinen dogmatischen Schriften kaum. Vielmehr griffen er und seine Schüler unmittelbar auf das römische Recht der Antike zurück. Damit verletzte Savigny selbst schon die Forderung nach einer umfassenden Erforschung der gesamten Rechtsentwicklung als Grundlage der Rechtswissenschaft.

d) Wissenschaft und Gesetzgebung

Auch die Ablehnung der Kodifikationsidee in der Auseinandersetzung mit Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840) ist unmittelbare Konsequenz von Savgnys Vorstellungen von der Entstehung des Rechts. Eine Kodifikation ohne zureichende Kenntnis der gesamten geschichtlichen Entwicklung stellte in den Augen Savignys einen Eingriff in die Rechtsentwicklung dar, der die gedeihliche Fortentwicklung der Rechtsordnung nur stören konnte. Da er die Voraussetzung einer vollständigen Durchdringung des historischen Rechtsstoffs als nicht gegeben ansah, sprach er seiner Zeit die Fähigkeit zu einer brauchbaren Kodifikation des Rechts ab. Er machte auch deutlich, dass er die künftige Verwirklichung dieses Ziels kaum für möglich hielt. Gleichwohl waren Anhänger der Historischen Rechtsschule wie Bernhard Windscheid (1817–1892) am Ende des 19. Jahrhunderts der Auffassung, die Zeit sei reif, um im Einklang mit Savignys Lehren die Kodifikation in Angriff nehmen zu können.

Obwohl er der umfassenden Kodifikation des Rechts strikt ablehnend gegenüber stand, lehnte Savigny nicht jedes Eingreifen des Gesetzgebers ab. Vielmehr wies er der Gesetzgebung durchaus eine wichtige Rolle zu. Der Gesetzgeber soll aus Savignys Sicht immer dann tätig werden, wenn eine Regelung erforderlich ist, deren genauer Inhalt nicht durch Sachgesichtspunkte, sondern nur durch eine autoritative Entscheidung festgelegt werden kann, also etwa bei der Festlegung von Verjährungs- und anderen Fristen. Savigny sieht den Gesetzgeber aber auch zu einer über solche technischen Festlegungen hinausgehenden Fortbildung des Rechts und zur Angleichung geltender Normen an gewandelte Umstände befugt. Voraussetzung für eine gelungene Gesetzgebung ist nur, dass dem Gesetzgeber „die vollständige Anschauung des organischen Rechtsinstituts“ vor Augen steht, auf das sich seine Regelung bezieht. Der Gesetzgeber muss also wie der praktisch oder akademisch tätige Jurist durch umfassende historische Studien über die Materie informiert sein, in die er eingreift.

3. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Die Ideen, von denen die Exponenten der Historischen Rechtsschule sich leiten ließen, stehen im Zusammenhang mit den allgemeinen geistigen Strömungen in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch ohne nähere Erörterung der Frage, welchen Anteil einzelne Philosophen (Kant, Hegel, Fichte, Schelling, Herder) an der Entwicklung von Savignys Vorstellungen über Recht und Geschichte hatten, lässt sich festhalten, dass Savigny von der Philosophie des deutschen Idealismus und vom Geschichtsdenken der Romantik beeinflusst war. Mit dem Kreis der Romantiker war er auch persönlich durch seine Ehe mit Kunigunde Brentano, einer Schwester von Clemens Brentano und Bettina von Arnim, verbunden.

Die Historische Rechtsschule steht außerdem im Zusammenhang mit den Historischen Schulen anderer Disziplinen, die gleichfalls die herausragende Bedeutung geschichtlicher Studien als Erkenntnismittel betonten. Zu nennen sind etwa die Historische Schule der Wirtschaftswissenschaften, die in unterschiedlichen Ausprägungen in Deutschland, England und Frankreich existierte, und die historische Richtung in der deutschen Philologie. Für letztere waren die Brüder Jakob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) von großer Bedeutung, die als Juristen und Philologen arbeiteten und Schüler Savignys waren. In dem gleichen Zusammenhang steht auch die gleichfalls als Historische Schule bezeichnete Strömung der deutschen Geschichtswissenschaft, zu der Historiker wie Leopold von Ranke (1795–1886), Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Theodor Mommsen (1817–1903) gezählt werden.

4. Weitere Entwicklung in Deutschland

Nahezu alle bedeutenden deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts verstanden sich als Anhänger der Historischen Rechtschule und Schüler Savignys. Allerdings trat schon vor der Mitte des Jahrhunderts eine Spaltung in eine germanistische und eine romanistische Richtung ein. Dem Streit lag die Frage zugrunde, welche Traditionsstränge im Mittelpunkt des historischen Forschungsprojekts stehen sollten. Savigny selbst sah die Rezeption des römischen Rechts als Teil der deutschen Rechtsentwicklung. Da er die Ergebnisse der gemeinrechtlichen Wissenschaft als Früchte einer ungeschichtlichen Herangehensweise zu großen Teilen verwarf, stellte er das antike römische Recht sogar in den Mittelpunkt seiner Forschungen. Die Tendenz zum unmittelbaren Rückgriff auf die antiken römischen Quellen war bei späteren romanistischen Anhängern der Historischen Schule noch stärker. Die auf das rezipierte römische Recht und seine Anwendung spezialisierten Juristen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden daher als Pandektisten, die wissenschaftliche Richtung als Pandektistik (Pandektensystem) bezeichnetet, obgleich sich die heute als Pandektisten bezeichneten Rechtsgelehrten selbst als Anhänger und Fortführer der Historischen Schule verstanden.

Demgegenüber verstanden Germanisten wie Georg Beseler (1809–1888) – wie es an sich auf der Grundlage von Savignys Vorstellungen nahe lag – die Rezeption als Störung der organischen Fortentwicklung des deutschen Rechts. Beseler lehnte auch Savignys Vorstellung ab, dass der Juristenstand die Aufgabe der Rechtsbildung stellvertretend für das Gesamtvolk wahrnehmen könnte und sah statt der Befassung mit dem römischen Juristenrecht die Erforschung der Quellen des deutschen Volksrechts als das Gebot der Zeit.

Da überall in Deutschland das rezipierte römische Recht oder auf dem römisch-gemeinen Recht aufbauende Kodifikationen in Kraft waren, blieb der Einfluss der romanistisch-pandektistischen Schule in der Praxis dominierend.

5. Wirkungen außerhalb Deutschlands

Der Erfolg der Lehre Savignys und der Historischen Rechtsschule war nicht auf Deutschland beschränkt. In Österreich verbreitete vor allem Joseph Unger (1828–1913) die Ideen der Historischen Rechtsschule. Sein Vorhaben, Rechtslehre und Praxis in Österreich im Sinne der Historischen Rechtsschule umzugestalten, wurde durch den Unterrichtsminister Leo von Thun-Hohenstein (1811–1888) gefördert, der sich von der als konservativ empfundenen Historischen Rechtsschule ein Gegenmittel gegen liberale Bestrebungen unter den Rechtstudenten erhoffte. Ungers Vorstoß verdrängte die bis dahin in Österreich dominierende „exegetische Schule“, die sich auf die Auslegung des ABGB ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge konzentrierte. Ähnlich wie in Österreich war in Frankreich nach dem Erlass des Code civil zunächst die allein auf die Auslegung des neuen Gesetzes fixierte École de l’exégèse herrschend. Doch gab es eine erhebliche Zahl von Juristen, die Savignys Programm auch in Frankreich zu verwirklichen suchten und mit ihrer Kritik an der Sterilität der école de l’exégèse auf eine Veränderung der Methoden hinwirkten. Die Bemühungen seiner französischen Anhänger wurden von Savigny gezielt unterstützt. Auch in Italien gab es Anhänger der Historische Schule; Savignys Ideen spielten in den Debatten um eine Kodifikation des Zivilrechts in einzelnen Staaten vor der italienischen Einigung eine Rolle.

Savigny und die Historische Rechtsschule übten über den von der gemeinsamen Tradition des ius commune geprägten europäischen Kontinent hinaus auch in England und den USA erheblichen Einfluss aus. Schon 1848 wurde an den Londoner Inns of Court Vorlesungen gehalten, die maßgeblich von den Schriften Savignys beeinflusst waren. Dem Denken der deutschen Historischen Schule stand insbesondere Henry James Sumner Maine (1822–1888) nahe, der in seinem Hauptwerk „Ancient Law“ von 1861 ein Modell der Evolution des Rechts in der Gesellschaft entwarf, das zugleich an Savignys Vorstellungen anknüpfte und die moderne Rechtssoziologie vorbereitete. Auch die Väter der englischen Rechtsgeschichte, Frederic W. Maitland (1850–1905) und Frederick Pollock (1845–1937) waren vom Denken der Historischen Schule beeinflusst.

6. Savignys Vermächtnis

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor die Vorstellung einer geschichtlichen Rechtswissenschaft an Anziehungskraft. Freirechtsschule, legal realism und Interessenjurisprudenz kritisierten vor allem die begriffliche Orientierung der Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sahen in den Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung nicht mehr den bestimmenden Faktor der Rechtsfortbildung.

In neuerer Zeit gibt es jedoch zahlreiche Ansätze, an das Programm der Historischen Rechtsschule anzuknüpfen. Dies geschieht insbesondere mit Blick auf die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts. Vor allem Reinhard Zimmermann will Savignys Forschungsprogramm für den Prozess der Herausbildung einer einheitlichen europäischen Zivilrechtsordnung fruchtbar machen. Demnach könnte eine gemeinsame europäische Privatrechtsordnung dadurch entstehen, dass sich die Rechtswissenschaft in historischer und rechtsvergleichender Arbeit die bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Rechtsordnungen bewusst macht und auf eine Vertiefung dieser Gemeinsamkeiten hinarbeitet.

Mit der Idee, „Savignys Historische Rechtsschule auf europäischer Ebene wieder[zu]begründen“ (Zimmermann) wird vor allem Savignys Forderung nach gründlicher historischer Forschung als Voraussetzung richtiger Rechtsanwendung und Gesetzgebung aufgenommen und die Erkenntnis ins Gedächtnis gerufen, dass ein Eingriff in die Rechtsentwicklung – etwa durch den Erlass eines Europäischen Zivilgesetzbuches – ohne derartige Vorarbeiten die Rechtsentwicklung nachhaltig stören kann. Hingegen ist eine Anknüpfung an die Vorstellung, dass sich aus dem historischen Rechtsstoff „leitende Grundsätze“ ableiten lassen, die eine unmittelbare Deduktion neuer Rechtsregeln ermöglichen, wohl nicht beabsichtigt. Zimmermann spricht lediglich davon, dass eine an Savigny orientierte historisch und vergleichend ausgerichtete gemeineuropäische Rechtswissenschaft die „Erörterung juristischer Probleme“ und die „vergleichende Würdigung möglicher Lösungen“ über nationale Grenzen hinweg ermöglichen kann. Auf die weiterhin aktuelle Frage, wie weit die „Herrschaft der Vergangenheit“ im Recht reicht und reichen sollte, ist damit eine abschließende Antwort nicht gegeben.

Literatur

Milton R. Konvitz, Historical School of Jurisprudence, in: Encyclopedia of Philosophy, Bde. III/‌IV, 1967, Neudruck 1972, 21 ff.; Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht, 1983; Horst Heinrich Jakobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1992; Matthias Reimann, Historische Schule und Common Law, 1993; Dieter Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre, 1994; Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1995, 150 ff.; Reinhard Zimmermann, Savignys Vermächtnis, 1998; Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 2. Aufl. 1999; Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, 2004; Filippo Ranieri, Savigny e il dibatitto italiano sulla codificazione nell’età del Risorgimento, in: idem (Hg.), Das Europäische Privatrecht des 19. und 20. Jahrhunderts, 2007, 15 ff. (weitere einschlägige Beiträge in demselben Band).

Quellen

Friedrich Carl v. Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hg. von Aldo Mazzacane, 1993; idem, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, ND in: Hans Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, 2. Aufl., 2002; idem, Über den Zweck dieser Zeitschrift, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 1 (1815) 1 ff.; idem, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840; Bernhard Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, in: idem, Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, 66 ff.

Abgerufen von Historische Rechtsschule – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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