Gemeinschaftsprivatrecht/‌ Unionsprivatrecht: Unterschied zwischen den Versionen

Aus HWB-EuP 2009
K (1 Version importiert)
 
Zeile 50: Zeile 50:


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:EU_Private_Law]]

Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:02 Uhr

von Jürgen Basedow

1. Begriff und Abgrenzung

a) Begriffsmerkmale

Der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts ist 1987 von Peter-Christian Müller-Graff geprägt worden. Er umfasst „die kraft Gemeinschaftsrechts gemeinschaftsweit inhaltsidentisch verbindlichen Privatrechtssätze (nicht notwendig mit ausgereiften Anspruchgrundlagen)“. Wesentlich ist danach der Geltungsgrund der betreffenden Privatrechtssätze: Er liegt im Gemeinschaftsrecht. Dabei ist es unerheblich, ob die betreffenden Rechtssätze wie Richtlinien noch der Umsetzung in nationales Recht bedürfen oder wie Verordnungen direkte Geltung in den Mitgliedstaaten beanspruchen (Richtlinie; Verordnung).

Als zweites Begriffsmerkmal nennt die referierte Definition die „inhaltsidentische“ Verbindlichkeit. Ob sie allen Rechtssätzen des Gemeinschaftsprivatrechts zukommt, erscheint indessen zweifelhaft. Erstens eröffnen zahlreiche europäische Rechtsakte den Mitgliedstaaten – zum Teil sehr präzise ausgestaltete – Wahlmöglichkeiten. Wenn ein Mitgliedstaat sich dann für eine der angebotenen Optionen entscheidet, ist sein Recht gleichwohl europäisch „unterfüttert“ und ist insofern auch dem Gemeinschaftsprivatrecht zuzuordnen. Ein Beispiel ist der nachvertragliche Provisionsausgleich des Handelsvertreters gemäß RL 86/‌653. Deren Art. 17 lässt den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen der Einführung eines Schadenersatzanspruchs und einem nachvertraglichen Ausgleich, wobei beide Optionen durch die Richtlinie nähere Konturen erhalten; beide Arten von Ansprüchen bilden einen Teil des Gemeinschaftsprivatrechts, obwohl von inhaltsidentischer Verbindlichkeit nicht die Rede sein kann. Gelegentlich ist der Verzicht auf inhaltsidentische Verbindlichkeit auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückzuführen. Ein Beispiel liefert die Generalklausel der Klauselkontrolle gemäß RL 93/‌13. Nach deren Art. 3 ist eine Klausel als missbräuchlich anzusehen, wenn sie „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht“. Der Gerichtshof hat sich zwar bereit erklärt, „die vom Gemeinschaftsgesetzgeber zur Definition des Begriffes der missbräuchlichen Klausel verwendeten allgemeinen Kriterien [auszulegen]. Dagegen kann er sich nicht zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel äußern, die anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen ist.“ (EuGH Rs. C-237/‌02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403, Rn. 22). Im Ergebnis kann also auch hier trotz gemeinschaftsweiter Geltung der Generalklausel nicht von inhaltsidentischer Verbindlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten die Rede sein. Der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts erschöpft sich demgemäß in der Herkunft seiner Normen: Es handelt sich um Rechtsakte der Gemeinschaft, nach dem Vertrag von Lissabon um solche der Union, weshalb auch künftig eher von Unionsprivatrecht zu sprechen ist.

b) Verhältnis zum nationalen Privatrecht

Das Unionsprivatrecht unterscheidet sich aufgrund seiner Geltungsquelle vom nationalen (oder subnationalen) Privatrecht, vom Einheitsprivatrecht der völkerrechtlichen Übereinkommen und vom nichtstaatlichen Recht. Das in den Mitgliedstaaten geltende Privatrecht führt seine Geltung formal auf die Gesetzgebungssouveränität der Mitgliedstaaten oder – wie etwa in Schottland oder Katalonien – ihrer Unterformationen zurück. Auch wenn es sich hinsichtlich seiner formalen Geltungsquelle vom Unionsprivatrecht abhebt, dient es doch vielfach der Umsetzung von Richtlinien und ist insofern selbst indirekt dem Unionsprivatrecht zuzurechnen.

c) Verhältnis zum Einheits­privatrecht

Das einheitliche Privatrecht der internationalen Konventionen beruht auf einer intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ist kein Ausfluss der auf die Union übertragenen Hoheitsrechte. Insofern ist das Einheitsprivatrecht aus der Sicht der Union nationales Recht. Dies gilt auch für die aufgrund von Art. 293 EG (in Lissabon aufgehoben) abgeschlossenen Verträge, so dass solche Übereinkommen ohne weitere Vorkehrungen nicht der Auslegungshoheit des Gerichtshofs unterliegen. In neuerer Zeit verschwimmen freilich die Trennlinien. Zum einen ist die Union inzwischen Vertragspartei einiger Übereinkommen des einheitlichen Privatrechts, zum Beispiel des Übereinkommens von Montreal vom 28.5.1999 zum Lufttransportrecht. Solche Übereinkommen bilden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen integralen Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung, sind also dem Unionsprivatrecht zuzuordnen und unterliegen damit der Auslegung durch den Gerichtshof. Nach dessen Rechtsprechung haben sie Vorrang vor den Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, EuGH Rs. C-344/‌04 – International Air Transport Association/‌Department for Transport, Slg. 2006, I-403, Rn. 35–36.

Zum anderen finden sich Entscheidungen der Gemeinschaft/‌Union, in denen diese die Mitgliedstaaten zu einer Ratifikation bestimmter internationaler Übereinkommen „im Interesse der Gemeinschaft/‌Union“ ermächtigt. Dies gilt namentlich für solche Konventionen, die auch Fragen der gerichtlichen Zuständigkeit und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen mit betreffen, die im Gemeinschaftsrecht bereits geregelt sind, vgl. VO 44/‌2001. Wegen des umfassenden Charakters dieser Verordnung fällt der Abschluss völkerrechtlicher Übereinkommen über die in der VO 44/‌2001 geregelten Gegenstände in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft, siehe EuGH Gutachten 1/‌03 – Übereinkommen von Lugano, Slg. 2006, I-1145. Diese Zuständigkeit besteht aber häufig nicht bezüglich anderer in einem solchen Übereinkommen geregelter Gegenstände; vielfach lassen die betreffenden Übereinkommen auch nur den Beitritt von Staaten und nicht den der Gemeinschaft/‌Union zu. In solchen Situationen geteilter Zuständigkeit können die Mitgliedstaaten die betreffenden Konventionen also nur „im Interesse der Gemeinschaft/‌Union“ ratifizieren. Entsprechende Entscheidungen sind zum Beispiel in Bezug auf das Übereinkommen über die zivilrechtliche Haftung für Schäden durch Bunkerölverschmutzung von 2001 (Entscheidung 2002/‌ 762) und in Bezug auf das Haager Übereinkommen von 1996 zu Fragen der elterlichen Verantwortung und des Kindesschutzes (Entscheidung 2003/‌93) ergangen. Ob die betreffenden Übereinkommen dadurch zum Bestandteil des Unionsprivatrechts werden, ist ungeklärt, aber für die Auslegungskompetenz des Gerichtshofs wesentlich. Folgerichtig wäre es, diese Auslegungskompetenz in Bezug auf diejenigen in dem Übereinkommen geregelten Gegenstände zu bejahen, die in die ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft fallen.

d) Verhältnis zum nicht­staatlichen Recht

Ob es nichtstaatliches Recht überhaupt gibt, ist strittig. Seine Autorität lässt sich aber jedenfalls nur aus der Überzeugungskraft der betreffenden Regelungen und ihrer Autoren sowie einer anhaltenden Gewohnheit erklären, nicht dagegen aus einem irgendwie gearteten hoheitlichen Geltungsbefehl, sei es eines Mitgliedstaates oder der Union. Union und Mitgliedstaaten können solche Regelwerke lediglich anerkennen, eine Möglichkeit, die in den Erwägungsgründen 13 und 14 der Rom I-VO (VO 593/‌2008) anklingt.

2. Entwicklungstendenzen

a) Etappen der Entwicklung

Die Entwicklung des Gemeinschaftsprivatrechts ergibt sich aus dem Rahmen der Ziele und Gesetzgebungskompetenzen der Gemeinschaft. Diese Kompetenzen beziehen sich nicht auf das Privatrecht insgesamt und noch nicht einmal auf größere Teilgebiete wie etwa das Handelsrecht. Sie sind vielmehr final auf die Verwirklichung bestimmter Ziele ausgerichtet, die in den Gründungsverträgen für spezifische Politikfelder niedergelegt sind. Folgerichtig hat sich das Unionsprivatrecht daher nicht in einem systematischen Sinne in Bezug auf traditionell anerkannte Rechtsgebiete entwickelt, sondern im Hinblick auf die jeweiligen Prioritäten der Gemeinschaftspolitik mit einer Häufung von Rechtsakten in bestimmten Themenfeldern. Am Anfang stand dabei schon seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Angleichung des Gesellschafts- und Unternehmensrechts gemäß Art. 44(2)(g) EG/‌50(2)(g) AEUV. In den siebziger Jahren wuchs der Druck auf die Gemeinschaft in Richtung auf eine Akzentuierung der Sozialpolitik, der sich im Erlass mehrer Richtlinien zum Individualarbeitsrecht äußerte, etwa der Richtlinie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zur Beschäftigung (RL 76/‌207) und der Richtlinie zur Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang (RL 77/‌187).

Mit dem Binnenmarktprogramm der achtziger Jahre verbindet sich die Ankündigung des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors, nach der Umsetzung dieses Programms würden 80 % des Wirtschaftsrechts vom Gemeinschaftsrecht geprägt sein (Europäischer Binnenmarkt). Entsprechend dieser Ankündigung wandte sich die gemeinschaftliche Rechtspolitik auf der Grundlage des erst 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte geschaffenen Art. 95 EG/‌114 AEUV neuen Rechtsgebieten zu, nämlich dem geistigen Eigentum und dem Verbraucherrecht (Geistiges Eigentum; Verbraucher und Verbraucherschutz). Es war besonders die Vermehrung der Gesetzgebungsaktivitäten zum Konsumentenrecht, die zu einem Bewusstseinswandel in der europäischen Rechtswissenschaft geführt hat. Der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts ist erst in dieser Phase entstanden, und auch eine wissenschaftliche Suche nach System und inhaltlicher Konsistenz setzt erst langsam um 1990 ein. Sie findet ihren Ausdruck 1993 in der Gründung erster wissenschaftlicher Foren, nämlich der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht in Deutschland und der European Review of Private Law in den Niederlanden.

Einen weiteren Schub hat die Entwicklung des Gemeinschaftsprivatrechts durch den Vertrag von Amsterdam erfahren. Der Vertrag von Maastricht hatte zwar schon im Rahmen der neu gegründeten Europäischen Union einen Koordinierungsmechanismus für das internationale Privatrecht geschaffen, dieses Gebiet aber letztlich noch im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten belassen. Nur wenige Jahre später führte der Vertrag von Amsterdam den so genannten Säulenwechsel herbei: Die Gemeinschaft erhielt eine eigene Kompetenz für die Gesetzgebung im internationalen Privat- und Zivilprozessrecht (internationales Privatrecht; Europäisches Zivilprozessrecht). Das Erfordernis eines Binnenmarktbezuges der entsprechenden Gemeinschaftspolitik ist im Vertrag von Lissabon aufgegeben worden, so dass das Ziel, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen, nun einen eigenen Stellenwert neben der Verwirklichung des Binnenmarkts hat. Dies hat weit reichende Konsequenzen. Während die Gesetzgebung der Union zum materiellen Privatrecht nach wie vor durch spezifische Politiken determiniert und begrenzt wird, ist der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und damit die kollisionsrechtliche Gesetzgebungskompetenz umfassend ausgestaltet. Dementsprechend haben die Gemeinschaftsinstitutionen sich auch schon Ende 1998 auf ein sehr weit reichendes kollisionsrechtliches Gesetzgebungsprogramm geeinigt. Es erstreckt sich jenseits des internationalen Schuldrechts auf das internationale Familien- und Erbrecht (Europäisches Internationales Familienrecht; Erbrecht, internationales).

b) Dreiteiliges Gesamt­konzept

Damit werden Konturen eines künftigen Systems des Unionsprivatrechts erkennbar, das sich aus drei Komponenten zusammensetzt: Neben (1) einer großen Anzahl vielfach fragmentarischer Richtlinien und Verordnungen zu Spezialfragen einzelner Themengebiete steht (2) bis auf Weiteres das umfassende und flächendeckende nationale Privatrecht, dessen Anwendung in innergemeinschaftlichen Fällen durch (3) ein weitgehend einheitliches internationales Privatrecht der Union konditioniert wird. Während die Rechtsakte der Union zum materiellen Privatrecht gemeinsame absolute oder Mindest-Standards schaffen, wird in den von ihnen nicht abgedeckten Bereichen das Ziel der Entscheidungsharmonie verfolgt. Die dort weiter bestehenden Divergenzen zwischen den nationalen Systemen sollen jedenfalls im konkreten Fall unschädlich gemacht werden, weil alle Gerichte der Gemeinschaft letztlich über einheitliche Kollisionsnormen auf dasselbe maßgebliche nationale Recht verwiesen werden.

Während die Gemeinschaftsorgane an der Verwirklichung dieser dreiteiligen Konzeption der europäischen Privatrechtsordnung arbeiten, haben auch die ersten Vorarbeiten für ein einheitliches materielles Privatrecht der Europäischen Union begonnen, von dem manche annehmen, dass es eines Tages in einem Europäischen Zivilgesetzbuch kodifiziert sein wird. Ein erster Schritt dorthin ist die Ausarbeitung eines Gemeinsamen Referenzrahmens zum europäischen Vertragsrecht, dem aber nach den Verlautbarungen der Gemeinschaftsorgane nur eine interne und keine verbindliche Wirkung zukommen soll. Auf absehbare Zeit ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich in der Union ein monistisches Privatrechtssystem etabliert.

3. Charakteristika

Das Unionsprivatrecht der materiellrechtlichen Richtlinien und Verordnungen ist durchgehend durch einen engen Marktbezug gekennzeichnet; es verdankt seine Existenz dem Wunsch, die Funktionsfähigkeit bestimmter Märkte im europäischen Rahmen zu vereinheitlichen und zu verbessern. Insbesondere steht hinter dem europäischen Verbraucherrecht die Vorstellung, dass Verbrauchermärkte keineswegs immer nur auf den örtlichen oder regionalen Rahmen begrenzt sein müssen, dass also auch der Konsument Güter und Dienstleistungen am Ende der Wertschöpfungskette potentiell auf europaweiten Märkten nachfragt; Divergenzen zwischen den zwingenden Standards in einzelnen Mitgliedstaaten können die Entstehung solcher europaweiten Verbrauchermärkte behindern (Verbraucher und Verbraucherschutz). Die Begründungserwägungen vieler verbraucherrechtlicher Rechtsakte der Union weisen auf Wettbewerbsbeschränkungen und mittelbare Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten hin, die eine Harmonisierung erforderlich machen (Grundfreiheiten; Europäischer Binnenmarkt). Solche marktbezogenen Erwägungen stehen auch dort im Vordergrund, wo die Gemeinschaft die Rechtsangleichung nicht auf Art. 95 EG/‌114 AEUV stützt, sondern auf andere Ermächtigungsgrundlagen wie etwa Art. 44(2)(g)/‌50(2)(g) AEUV für das Gesellschaftsrecht, Art. 71 EG/‌91 AEUV für das Transportrecht oder – subsidiär – auf Art. 308 EG/‌352 AEUV; auch dort war bislang der Marktbezug vorgeschrieben.

Die Einbettung der sekundärrechtlichen Rechtsakte des Privatrechts in spezifische Politikfelder der Union hat eine erhebliche Fragmentierung der Gesetzgebung zur Folge gehabt. Fritz Rittner hat die Richtlinien und Verordnungen des Unionsprivatrechts deshalb als „Inseln“ im Meer des nationalen Privatrechts bezeichnet. Zwar hat die Vermehrung dieser Rechtsakte im Laufe der Jahre auf manchen Gebieten wie dem Verbraucherschutz, dem Unternehmensrecht oder dem geistigen Eigentum Zusammenhänge verdeutlicht und damit den einen oder anderen Archipel hervortreten lassen. Von einer Systematik im Sinne des klassischen Privatrechts kann aber gleichwohl nicht die Rede sein. Unterscheidungen wie Zivilrecht und Handelsrecht, Schuldrecht und Sachenrecht mögen zwar im Zuge der weiteren Arbeiten an einem Gemeinsamen Referenzrahmen klarer hervortreten, für das gegenwärtige Unionsprivatrecht sind sie jedoch ohne Bedeutung. So bezieht sich die RL 94/‌47 über Teilnutzungsrechte an Immobilien auf Verträge über ein „dingliches Recht oder ein sonstiges Nutzungsrecht“, die Nachfolgerichtlinie (RL 2008/‌122) handelt ohne rechtssystematische Spezifizierung allgemein von Rechten zur Nutzung. Die RL 2002/‌47 ist zwar gemäß Art. 1(5) nur auf „besitzgebundene Finanzsicherheiten“ anwendbar, doch lässt sie als Voraussetzung der Besitzverschaffung rein schuldrechtliche Absprachen genügen. Den archimedischen Punkt einer Systematisierung der Richtlinien und Verordnungen des Unionsprivatrechts bilden die spezifischen Politikfelder der Gründungsverträge; die in 2000 Jahren gewachsenen Kategorien des kontinentalen Privatrechts spielen demgegenüber keine Rolle.

Aus demselben Zusammenhang ergibt sich, dass das Unionsrecht bislang auch vielfach nicht zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht unterscheidet. Kennzeichnend ist etwa die konsolidierte RL 2002/‌83 über Lebensversicherungen, die neben zahlreichen öffentlich-rechtlichen Fragen wie der Zulassung zum Geschäftsverkehr, der Aufsicht über die Unternehmen, der Spartentrennung und der Bildung versicherungstechnischer Rückstellungen in den Art. 32 ff. auch zivilrechtliche Aspekte wie die Informationspflichten des Versicherers und ein Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers regelt. Auch hier wird deutlich, dass die Funktionalität von Regelungen für das Wirken der Marktprozesse im Vordergrund der Gesetzgebung steht und nicht das Streben nach einer die Individualinteressen austarierenden zivilrechtlichen Regelung. Der Vertrag von Amsterdam hat freilich in Art. 65 EG/‌81 AEUV eine Ermächtigungsgrundlage für die Gesetzgebung in Zivil- und Handelssachen geschaffen, die nach dem Vertrag von Lissabon ebenso wie die subsidiäre Kompetenz gemäß Art. 308 EG/‌352 AEUV keine Marktfunktionalität mehr aufweisen muss. Einerseits wird dies zu einer deutlicheren Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht im Recht der Europäischen Union beitragen, andererseits dürfte damit auch ein Einfallstor für das traditionelle, auf Individualinteressen gerichtete zivilrechtliche Denken eröffnet sein.

Literatur

Peter-Christian Müller-Graff, Privatrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht, in: idem, Manfred Zuleeg (Hg.), Staat und Wirtschaft in der EG, 1987, 17 ff., wieder abgedruckt in Peter-Christian Müller-Graff (Hg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl. 1999, 267 ff.; Martin Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, 1998; Martin Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999; Jürgen Basedow (Hg.), European Private Law/‌Droit privé européen/‌Diritto privato europeo/‌Europäisches Privatrecht, Bde. I-III, 1999–2002; idem, Die europäische Zivilgesellschaft und ihr Recht: Zum Begriff des Privatrechts in der Gemeinschaft, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. I, 2007, 43 ff.; Bettina Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Aufl. 2007; im Übrigen insbesondere folgende Zeitschriften: European Review of Private Law (ERPL), Gemeinschaftsprivatrecht (GPR), Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZEuP).

Abgerufen von Gemeinschaftsprivatrecht/‌ Unionsprivatrecht – HWB-EuP 2009 am 24. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).