Kausalität und Kinderschutz: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Jens Kleinschmidt]]''
von ''[[Josep Ferrer i Riba]]''
== 1. Zweck und Begriffsklärung ==
== 1. Zielsetzung und Entwicklung des Kinderschutzes ==
''Casum sentit dominus''. Nicht jeder Schaden begründet eine Ersatzpflicht. Solange das Haftungsrecht die individuelle Verantwortlichkeit zum Gegenstand hat, gehört es überall – auch im Gemeinschaftsprivatrecht – zu den Voraussetzungen einer Ersatzpflicht, dass der Schaden der als Schädiger in Anspruch genommenen Person zugerechnet werden kann, oder genauer: deren Verhalten oder dem Verhalten eines anderen, für den sie einzustehen hat, oder einer Sache, die sie unter Kontrolle zu halten hat. Diese Zurechnung wird meist unter dem Sammelbegriff „Kausalität“ analysiert, und zwar unabhängig davon, ob es um vertragliche, quasi-vertragliche oder außervertragliche Haftung geht; letztere wird hier im Vordergrund stehen.
Die Gewährleistung eines effektiven Kinderschutzes und einer effektiven Kinderfürsorge ist ein fundamentales Gebot der Sozialpolitik, über das ein breiter internationaler Konsens besteht. Die Garantie dieses Schutzes ist eine Pflicht der Staaten (Art. 3(2) UN-Kinderrechtskonvention; Art. 17 EU-Sozialcharta revidiert). Nach dem EU-Recht haben Kinder gemäß Art. 24(1) GRCh einen Anspruch auf diesen Schutz und auf Fürsorge ([[Kindschaftsrecht, internationales]]). Die Schutzpflicht obliegt der Natur der Sache nach in erster Linie nicht dem Staat, sondern den Eltern, als Aufgabe ihrer vornehmlichen Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder (Art. 18(1) UN-Kinderrechtskonvention). In der Ausübung ihrer Verantwortung ([[Elterliche Verantwortung]]) haben die Eltern ein Recht auf angemessene Unterstützung. Allerdings können sie in den Fällen, in denen sie ihre Aufgaben nicht erfüllen und das überwiegende Interesse des Kindes eine staatliche Intervention erfordert, auch behördlichen Eingriffen und Einschränkungen der elterlichen Selbstbestimmung unterliegen.


Diese Zurechnungsentscheidung beruht nicht auf einem objektiven, vorrechtlichen Konzept, sondern ist das Ergebnis normativer Überlegungen. Es genügt nicht, sich auf naturwissenschaftliche Ursachenzusammenhänge zu berufen oder philosophische Ansätze zu bemühen. Vielmehr ist es Aufgabe jeder Rechtsordnung, den Begriff der Kausalität mit Inhalt zu füllen. Bemerkenswert ist, dass selbst Rechtsordnungen mit zivilrechtlichen Kodifikationen dieser Aufgabe allenfalls ansatzweise mit einer gesetzlichen Regelung nachkommen und es statt dessen Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen, Zweifelsfälle zu entscheiden und daraus allgemeine Prinzipien zu gewinnen (siehe aber den Entwurf eines neuen österreichischen Schadenersatzrechts von 2005/‌07 und die [[Principles of European Tort Law|PETL]]).
Im engen Rechtssinne umfasst der Kinderschutz die Gesamtheit aller Mittel, die den Behörden für die Wahrnehmung eines integralen Schutzes des Minderjährigen zur Verfügung stehen. Obwohl solche Maßnahmen mit einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Eltern einhergehen und sogar das vorübergehende Ruhen oder den teilweisen bzw. vollständigen Entzug der elterlichen Verantwortung zur Folge haben können, beinhaltet der Kinderschutz auch – und zwar vorrangig – Maßnahmen der Unterstützung und der Zusammenarbeit mit den Familien. Die Rechtsinstrumente des internationalen und europäischen Rechts nehmen die Zuordnung und Ausübung von Rechten und Pflichten betreffend den persönlichen oder vermögensrechtlichen Kinderschutz in den Begriff der [[Elterliche Verantwortung|elterlichen Verantwortung]] auf. <nowiki>Dies gilt auch dann, wenn die Verantwortung Dritten außerhalb des Familienbereiches oder einer juristischen Person übertragen wird (Art.&nbsp;1(2) Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) und Art.&nbsp;1(2) und Art.&nbsp;2 Nr.&nbsp;7 Brüssel&nbsp;IIa-VO [VO 2201/‌2003]).</nowiki>


Dabei hat sich eine Zweiteilung herausgebildet, die sich in nahezu allen europäischen Rechtsordnungen und auch im Gemeinschaftsprivatrecht findet: Einerseits wird gefragt, ob ein Verhalten tatsächlich Ursache des Schadens gewesen sein kann („faktische“ oder „natürliche“ Kausalität). Andererseits wird mit Hilfe verschiedener Ansätze versucht, diesen allzu weiten Kreis möglicher Ursachen mit Hilfe normativer Gesichtspunkte zu begrenzen. Da es hier um normative Erwägungen geht, sollte nicht von Kausalität (z.B. „legal causation“), sondern von Zurechnung (''scope of liability'') gesprochen werden. Umfassende Kausalitätstheorien vereinigen beide Fragen in einem Begriff, laufen indes Gefahr, die normativen Gründe für eine bestimmte Entscheidung hinter scheinbar objektiven und beschreibenden Begriffen zu verdecken. Einen einheitlichen Ansatz verfolgt auch die generalklauselartige Vorschrift im Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] (Art.&nbsp;VI.-4:101 (1)): „A person causes legally relevant damage to another if the damage is to be regarded as a consequence of that person’s conduct or the source of danger for which that person is responsible.“ Die dem deutschen Recht geläufige konzeptionelle Unterscheidung zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität ist den meisten europäischen Rechtsordnungen unbekannt.
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
In der Praxis hat der Kinderschutz in den letzten Jahrzehnten in Europa umfassende Veränderungen erfahren. Bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 20.&nbsp;Jahrhunderts griffen die Sozialeinrichtungen vornehmlich aus Gründen der Wohltätigkeit ein. Sie kümmerten sich vor allem um verwaiste oder aufgrund ihrer außerehelichen Abstammung ausgesetzte Kinder. In den heutigen Gesellschaften ist der Kinderschutz als gesetzliche Pflicht ausgestaltet: Die fahrlässige Nichtergreifung schützender Maßnahmen bei Vermutung schwerwiegender und andauernder Vernachlässigung oder sexuelles Missbrauchs, kann eine Haftung aufgrund der Verletzung des Rechtes auf Nichterleidung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zur Folge haben (EGMR Nr.&nbsp;29392/‌95 − ''Z.&nbsp;u.a./‌Großbritannien''<nowiki>; EGMR Nr. 33218/‌96 − </nowiki>''E.&nbsp;u.a./‌Großbritannien''). Zudem ist der Hauptfokus des Kinderschutzes heute vor allem auf diejenigen Kinder gerichtet, für die ein Risiko der Vernachlässigung, der Misshandlung, des sexuellen Missbrauchs, der Ausbeutung und anderer Fälle der Missachtung besteht. Aufgrund der häufigen Notwendigkeit zwingender Interventionen in das familiäre Umfeld solcher Kinder, sind rechtlich komplexe Handlungsrahmen entwickelt worden. Ein wichtiges Ziel dieser Vorschriften ist, die die staatliche Intervention rechtfertigende Schwelle konkret zu bestimmen. Obwohl die genaue Formulierung der Eingriffsschwelle je nach Land variiert, weisen die Tatbestände ähnliche Kriterien auf. Tendenziell werden die Umstände, die eine Intervention der staatlichen Gewalt rechtfertigen, in den jeweiligen Rechtsordnungen derart objektiviert, dass nicht notwendigerweise bewiesen werden muss, dass die Gefährdung des Kindes auf ein vorwerfbares Verhalten der Eltern zurückzuführen ist (analog der Reform des §&nbsp;1666 Abs.&nbsp;1 BGB im Jahre 2008). Der einen staatlichen Eingriff legitimierende Tatbestand wird in der Regel unter dem Vorbehalt definiert, dass der Eingriff nur dann erfolgen darf, wenn es für das Wohlergehen des Kindes erforderlich ist. Dieser ''necessity test'' (der im Rahmen von Art.&nbsp;8(2) EMRK entwickelt und von Art.&nbsp;9(1) UN-Kinderrechtskonvention sowie von Art.&nbsp;24(1) GRCh übernommen wurde) findet nicht nur Anwendung auf das „Ob“ eines staatlichen Eingriffs, sondern auch auf das „Wie“ – also auch auf die Bestimmung der Art der jeweiligen Maßnahme, die ergriffen werden soll.


Erschwert wird die Analyse dadurch, dass sich die Frage nach dem Kausalnexus selten vollständig von den Elementen des Haftungstatbestandes isolieren lässt, die dieser verknüpft. Verbindungen bestehen einerseits zum Verschulden bzw. zur Pflichtverletzung. Das wird plastisch im römischen Recht, in dem die ''culpa'' im Vordergrund stand. Die römischen Juristen hatten noch keine eigene Kausalitätslehre entwickelt; der Zusammenhang zwischen Verhalten und Schaden war Sache der Auslegung des Verbs in dem jeweils einschlägigen Tatbestand (z.B. ''occidere'' für die Tötung). Es sollte bis in das 19.&nbsp;Jahrhundert dauern, bis sich moderne allgemeine Kausalitätslehren im Recht herausgebildet hatten. Auch in der deliktischen Generalklausel in Frankreich spielt die ''faute'' eine überragende Rolle, so dass haftungsbegrenzende Wertungen mitunter in diesem Zusammenhang zum Tragen kommen. Und der englische ''negligence''-Tatbestand fragt zunächst, welche Pflicht genau ein Beklagter verletzt hat, und erst dann, ob diese Pflichtverletzung kausal für den eingetretenen Schaden war. Verbindungen bestehen andererseits zwischen Kausalität und Schadensbegriff. Dies zeigt das Beispiel des Verlusts einer Heilungschance infolge ärztlicher Fehlbehandlung (''loss of a chance''<nowiki>; </nowiki>''perte d’une chance''): Wer den Verlust der Chance selbst als ersatzfähigen Schaden betrachtet (so vor allem Frankreich; s. auch Art.&nbsp;7.4.3(2) UNIDRIT PICC), kann die Kausalität mit Sicherheit bejahen und anteiligen Schadensersatz zusprechen. Wer hingegen den Schaden in der Verschlechterung des Gesundheitszustands sieht, muss fragen, ob diese wirklich auf dem Kunstfehler beruht oder ob sie nicht möglicherweise auch ohne diesen eingetreten wäre.
Das in Europa vorherrschende System des Kinderschutzes ist im Hinblick auf die Zuständigkeitsregelung dual, d.h. nach national spezifischen Kriterien auf Verwaltungsbehörden und Gerichte verteilt. Die Gerichte, denen in den meisten Ländern der Status einer Sondergerichtsbarkeit zukommt, sind stets für die Überprüfung der Verwaltungsakte und die Ergreifung einschneidender Maßnahmen zuständig, wie etwa der Entziehung der elterlichen Verantwortung. Die Verwaltungsbehörden, die in der Regel in Zusammenarbeit mit Sozialberatern tätig werden, sind für die Anordnung von Informations-, Unterstützungs- sowie Beaufsichtigungsmaßnahmen und die Durchführung sämtlicher Maßnahmen zuständig. In vielen Fällen wird die Implementierung solcher Maßnahmen Pflegepersonen, Pflegefamilien oder anderen privaten Einrichtungen übertragen. Als Ausnahme dieses Dualsystems ist der Fall Dänemark zu nennen, wo die Maßnahmen durch städtische, gemischte Ausschüsse angeordnet werden, denen Vertreter der lokalen Verwaltung und der Gerichtsbarkeit angehören. Auch die Überprüfung der Maßnahmen findet im dänischen Recht wiederum durch unabhängige Ausschüsse statt; den Gerichten obliegt hier allenfalls die Entziehung der elterlichen Verantwortung.


Trotz dieser Querverbindungen bleiben Kausalität und Zurechnung unverzichtbare Bestandteile jedes Haftungstatbestands: Selbst in einem beweglichen System (PETL) oder einer „Kreislaufrelation“ (Grundregeln der [[Study Group on a European Civil Code|''Study Group'']] und Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]]) können sie nicht vollständig zugunsten anderer Elemente zurücktreten.
Für die Bestimmung der im einzelnen zu ergreifenden Schutzmaßnahmen gelten in Europa uniforme Handlungsprinzipien, was hauptsächlich auf die harmonisierende Funktion der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]] (s.unten 3.) zurückzuführen ist. Die Schutzmaßnahmen müssen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit (bzw. dem Prinzip des geringsten Eingriffes) entsprechen. Aus diesem Grund haben unterstützende Maßnahmen Vorrang gegenüber Maßnahmen der Zwangsintervention. Sind im Einzelfall Zwangsmaßnahmen anzuordnen, müssen die Behörden solche vorziehen, die im eigenen Heim des Kindes durchgeführt werden können. Ist letztlich erforderlich, das Kind von seinem familiären Umfeld zu trennen, muss die Reversibilität der Trennung abgewogen werden. In letzterem Fall darf die einzelne Maßnahme einer möglichen zukünftigen Rückführung des Kindes in seine Familie nicht entgegenstehen. Ist eine Pflegeunterbringung erforderlich, geht die Pflegschaft in einem familiären Umfeld einer Pflegschaft in einer Einrichtung vor. Bei Anordnung eines Zwangsmittels sind die berechtigten Interessen der Eltern zu beachten. Bei der Festlegung der Maßnahmen ist das Kind entsprechend seines Alters und seiner Reife anzuhören. Trotz dieser Homogenität der insbesondere verfahrensrechtlichen Handlungsprinzipien in Europa bestehen Unterschiede in Bezug auf die Art der Maßnahmen, die ergriffen werden können, und deren rechtliche Ausgestaltung: Die Art der Maßnahmen hängt von den Prioritäten der Sozialpolitik und den finanziellen Mittel ab, die jedem einzelnen Staat zur Verfügung stehen; die einzelne gesetzliche Ausgestaltung richtet sich nach den jeweiligen nationalen Rechtstraditionen.


== 2. Erste Ebene: Faktische Kausalität ==
Die Übernahme von Schutzfunktionen durch andere Personen als die Eltern sei es durch Angehörige im weiteren Familienkreis, Pflegepersonen, öffentliche oder private Einrichtungen ist rechtlich unterschiedlich ausgestaltet. Einige Rechtsordnungen greifen auf die gleichen Rechtsinstitutionen zurück, die gewöhnlich Anwendung finden, um die Ausübung der elterlichen Verantwortung zu ersetzen, wenn diese nicht oder nur zum Teil erfolgt. Hierunter fallen etwa die Vormundschaft für Kinder ([[Vormundschaft (rechtliche Fürsorge) für Minderjährige]]), die Pflegschaft oder andere entsprechende Institutionen (so z.B. in Deutschland, Spanien und Italien). In den Fällen, in denen die Vormundschaft oder die Pflegschaft einer öffentlichen Einrichtung übertragen wird, unterliegt allerdings ihre Begründung und Ausübung Sonderregelungen aufgrund der Ausübung durch die öffentliche Gewalt. Andere Rechtsordnungen greifen auf die Technik der freiwilligen oder aufgezwungenen Delegation der elterlichen Verantwortung an Dritte zurück, wenn auch in schwerwiegenden Fällen die Entziehung dieser Verantwortung und die Begründung einer Vormundschaft möglich ist (Frankreich). Der Kinderschutz kann auch durch Übertragung der elterlichen Verantwortung auf öffentliche Einrichtungen im Wege der richterlichen Anordnung wahrgenommen werden (England). Im englischen Recht führt zwar die richterliche Anordnung eines ''care order'' zugunsten einer Kommunalbehörde zu einer Übertragung der ''parental responsibility'' auf diese. Diese Zuordnung führt jedoch weder zu einem Ruhen noch zur Entziehung der Verantwortung der Eltern. Die Eltern dürfen ihre Verantwortung aber in diesem Falle nur im Einklang mit den Entscheidungen ausüben, zu denen die Behörde legitimiert wurde. Hinsichtlich der Vielfalt dieser rechtlichen Ausgestaltungen, die in Europa angewendet werden, ist die Einordnung der Ausübung der Schutzfunktionen und der Kindessorge unter den einheitlichen Begriff der [[Elterliche Verantwortung|elterlichen Verantwortung]] im europäischen Recht eine problemlösende und fortschrittliche Entwicklung. Allerdings werden die Probleme der Koordination zwischen der miteinander konkurrierenden Ausübung der Verantwortung durch die Eltern einerseits und durch Dritte andererseits nicht gelöst.
=== a) Regelungsprobleme und Tendenzen der Rechtsentwicklung ===
Alle europäischen Rechtsordnungen beginnen häufig unausgesprochen jede Kausalitätsprüfung mit der sog. ''conditio sine qua non''-Formel (''csqn''-Formel), die im englischen Recht – ohne Unterschied in der Sache – ''but for''-''test'', in Schottland bisweilen ''causa sine qua non'' heißt. Danach ist eine Handlung für einen Erfolg kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Diese scheinbar einfache Formel birgt eine Reihe von Problemen: (i)&nbsp;In Randbereichen enthält die ''csqn''-Formel wertende Elemente und muss auf Erfahrungswissen und Wahrscheinlichkeiten zurückgreifen, denn die gedankliche Eliminierung eines Ereignisses zieht notwendig hypothetische Überlegungen nach sich. Deutlich wird das im Fall von Unterlassungen, die nur mit einer Modifikation der Formel zu erfassen sind: Eine Unterlassung ist kausal, wenn die hinzugedachte Handlung den Erfolg verhindert hätte. (ii)&nbsp;Mit Nuancierungen in Voraussetzungen und Intensität erkennen alle Rechtsordnungen eine psychologische Beeinflussung als mögliche Begründung für den Kausalzusammenhang an. Auch derartige Fälle einer sog. „psychischen“ oder „psychisch vermittelten“ Kausalität erfordern hypothetische Überlegungen, da sich nie mit naturwissenschaftlicher Exaktheit ermitteln lässt, wie sich eine Person ohne die Beeinflussung verhalten hätte. (iii)&nbsp;Die ''csqn''-Formel versagt, wenn ein Erfolg überdeterminiert ist, d.h. wenn von zwei oder mehr unabhängigen gleichzeitigen Ereignissen eines ausgereicht hätte, um den Erfolg herbeizuführen. Doch ist das nirgends ein Grund, die Haftung zu verneinen. Die Lehre hat zur konzeptionellen Erfassung dieser Fälle den sog. „NESS-test“ (''necessary element of a sufficient set'') entwickelt: Danach werden zunächst mögliche Ursachen aus dem Geschehensablauf eliminiert; erst dann wird gefragt, ob das fragliche Ereignis notwendiges Element einer für sich hinreichenden Ursachenkette war. (iv)&nbsp;Schwierigkeiten entstehen ferner in Fällen, die unter dem Stichwort „hypothetische Kausalität“ zusammengefasst werden, wenn nämlich ein zeitlich nachfolgendes Ereignis denselben Schaden herbeigeführt hätte. Das nachfolgende Ereignis kann das Verhalten einer weiteren Person sein, es kann sich aber auch um einen Zufall oder einen Umstand aus der Sphäre des Geschädigten (z.B. Schadensanlage) handeln. Sowohl das erste wie auch das zweite Ereignis können hier hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. Eine Haftpflicht kann nur normativ begründet werden; es handelt sich um ein Problem der Zurechnung und auch des Schadensbegriffs. Generalisierende Aussagen zur Lösung lassen sich kaum treffen, da die Problematik sowohl international als auch innerhalb vieler Rechtsordnungen umstritten ist. Überwiegend wird angenommen, dass eine Haftung für einen bereits entstandenen abgrenzbaren Schaden aufgrund des ersten Verhaltens bestehen bleibt. Handelt es sich jedoch um einen noch nicht abgeschlossenen Dauerschaden (Vermögensfolgeschaden), wird dem zweiten Ereignis Relevanz zugemessen: Ein zufälliges oder aus der Sphäre des Geschädigten stammendes Ereignis kann den Ersatzanspruch ab diesem Zeitpunkt entfallen lassen. Deliktisches Verhalten eines Dritten kann – ähnlich dem Fall des überbestimmten Erfolges – ab diesem Zeitpunkt zu dessen Haftung neben dem Erstschädiger führen. In den Details bleiben viele Fragen: Wie ist der Schaden exakt zu bestimmen (z.B. Zerstörung einer Sache überhaupt oder aufgrund eines konkreten Ereignisses)? Wann gilt ein Schaden als abgeschlossen (z.B. einmalige Minderung der Erwerbsfähigkeit oder dauernde Einkommensverluste)? Sollen für Körperschäden und Sachschäden dieselben Regeln gelten (bei Sachen ließe sich nach der ersten Schädigung ein reduzierter Wert ermitteln)? Für Schadensvertiefungen haftet der Erstschädiger nicht, es sei denn diese sind nach allgemeinen Regeln seinem Verhalten zuzurechnen.


Grundsätzlich hat überall der Geschädigte den Kausalzusammenhang zu beweisen. Doch reichen die nationalen Antworten auf die Frage nach dem Beweismaß von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (''more likely than not''<nowiki>; z.B. England; Schottland) mit diversen Abstufungen bis hin zu einer Überzeugung des Richters (z.B. Portugal; Deutschland). Gleichwohl wird verbreitet angenommen, dass daraus in der Praxis kaum unterschiedliche Ergebnisse folgen. Denn manche Rechtsordnungen helfen dem Geschädigten in bestimmten Fällen mit einem Anscheinsbeweis oder mit einer Beweislastumkehr, wenn er das geforderte hohe Beweismaß nicht erfüllen kann. Beweismaß und Beweislast wirken sich vor allem aus, wenn der Kausalverlauf nicht aufklärbar ist. Vielerorts sind daher Fälle der Haftung wegen bloß </nowiki>''möglicher'' Kausalität bekannt. Jeder Regelgeber steht dabei grundsätzlich vor der Wahl zwischen einem „Alles oder Nichts“-Prinzip (volle Haftung trotz nur möglicher Kausalität) oder einer anteiligen Haftung nach Verursachungswahrscheinlichkeit (Proportionalhaftung). Paradigmatisch ist der Fall der Täteralternativität: Viele Rechtsordnungen gelangen hier – etwa mit Hilfe einer widerleglichen Vermutung – zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der (somit mit dem Regressrisiko belasteten) möglichen Verursacher, wenn das Verhalten jedes potentiellen Verursachers alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt und für sich genommen ausgereicht hätte, den gesamten Schaden herbeizuführen (Deutschland; Österreich; Niederlande; Italien). Doch wird eine Haftung meist abgelehnt, wenn der Schaden auch auf Zufall beruhen könnte. Auch der Verlust einer Chance gehört in diesen Problemkomplex. Gerade im Bereich von Massenschäden und Langzeitschäden (z.B. Arzneimittelhaftung, Asbestfälle) zeigt sich, dass die Suche nach einer umfassenden befriedigenden Lösung noch nicht abgeschlossen ist. Fonds&#8209; oder Versicherungslösungen stellen Alternativmodelle dar, mit denen die Beweisschwierigkeiten vermieden werden.
== 3. Internationaler Kinderschutz und Konvergenzlinien in den Rechtsordnungen ==
Um einen möglichst effektiven grenzüberschreitenden Kinderschutz zu gewährleisten, wurden unterschiedliche Instrumente des internationalen Privatrechts und Prozessrechts entwickelt ([[Kindschaftsrecht, internationales]]). In kollisionsrechtlicher Hinsicht sind hier hauptsächlich das durch die [[Haager Konferenz für IPR]] entwickelte Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 (KSÜ) und die Brüssel&nbsp;IIa-VO zu nennen. Beide legen die behördliche und gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung sowie die Vollstreckung von Entscheidungen über die elterliche Verantwortung im weitesten Sinne fest. Zu diesen Entscheidungen zählen alle Schutzmaßnahmen außer denen, die zur Vorbereitung einer [[Adoption]] dienen (Art.&nbsp;4(b) KSÜ; Art.&nbsp;1(3) (b) Brüssel&nbsp;IIa-VO). Das KSÜ revidiert das Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (1961), das nur von wenigen Staaten ratifiziert wurde. Daneben regelt das Übereinkommen das jeweils anzuwendende Recht und geht von dem Prinzip aus, dass grundsätzlich die zuständigen Behörden ihr jeweiliges nationales Recht für die Ergreifung von Maßnahmen anwenden (Art.&nbsp;15 (1)). Die Brüssel&nbsp;IIa-VO ersetzt ihrerseits die Brüssel&nbsp;II-VO (VO&nbsp;1347/‌2000), die zwar den gleichen Zweck verfolgte, in ihrem Anwendungsbereich indes enger ausgestaltet war, da nur die Fragen der elterlichen Verantwortung im Rahmen von Eheverfahren Gegenstand der Regelungen waren. Die Erweiterung der Brüssel&nbsp;IIa-VO ist für den Kinderschutz insbesondere insoweit relevant, als dieser Bereich nicht Gegenstand der Brüssel&nbsp;II-VO war. Nach dem Urteil des EuGH vom 27.11.2007 (EuGH Rs.&nbsp;C-435/‌06 ''– C'', Slg.&nbsp;2007, I-10141) ist Art.&nbsp;1(1) Brüssel IIa-VO dahingehend auszulegen, dass eine Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie anordnet, unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne des Art.&nbsp;1 fällt, selbst wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kinderschutzes ergangen ist. Zahlreiche Vorschriften der Brüssel&nbsp;IIa-VO sind dem KSÜ entlehnt, das zeitgleich zum Brüssel&nbsp;II-Übereinkommen von 1998 (das seinerseits später durch die Brüssel&nbsp;II-VO ersetzt wurde) entwickelt wurde. Beide Instrumente enthalten Regeln zur Vereinfachung ihrer gegenseitigen Anwendung (Art.&nbsp;52 KSÜ und Art.&nbsp;61 Brüssel&nbsp;IIa-VO). Grundsätzlich ist der Richter desjenigen Staates für die Anordnung von Schutzmaßnahmen zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art.&nbsp;8(1) Brüssel&nbsp;IIa-VO). Liegt der Aufenthalt des Kindes innerhalb der EU, findet die Brüssel IIa-VO Anwendung; im gegenteiligen Falle ist das KSÜ anzuwenden.


=== b) Ansätze der Grundregeln zum Haftungsrecht ===
Hingegen wurden keine Versuche unternommen, die Regelung des Kinderschutzes in materiellrechtlicher Hinsicht zu vereinheitlichen. Die CEFL hat einen wichtigen Anstoß zur Untersuchung des vergleichenden Rechts im Bereich der Vorarbeiten zur Entwicklung von ''[[Principles of European Family Law]]'' im Hinblick auf die elterliche Verantwortung gegeben. Ausgehend davon, dass der Kinderschutz dem Rechtsinstitut der [[Elterliche Verantwortung|elterlichen Verantwortung]] zuzuordnen ist, sind diese Prinzipien maßgebend für: (i)&nbsp;die Regelungen der Ausübung von Kinderschutzaufgaben durch Verwandte des Kindes, Pflegepersonen und private oder öffentliche Einrichtungen; (ii)&nbsp;den Inhalt der Rechte und Pflichten, die diesen Personen übertragen werden; (iii)&nbsp;den Entzug und die Wiederherstellung der elterlichen Verantwortung; (iv)&nbsp;grundlegende prozessuale Fragen für die Anordnung von Schutzmaßnahmen.
Allenfalls implizit ist die ''csqn''-Formel der wertenden allgemeinen Zurechnungsregel des DCFR zu entnehmen. Ergänzt wird diese Regel um zwei Vorschriften für Schädigermehrheiten (Art.&nbsp;VI.-4:102&nbsp;f.): Im Fall ihres Zusammenwirkens gelten alle potentiellen Schädiger als ursächlich. Im Fall der Täteralternativität (auch bei Massenschäden) besteht eine widerlegliche Vermutung der Ursächlichkeit jedes einzelnen potentiellen Täters; können diese sich nicht entlasten, haften sie als Gesamtschuldner.


Die Art.&nbsp;3:101 bis 3:106 PETL enthalten demgegenüber ungewöhnlich ausführliche, zum Teil innovative Regeln zur faktischen Kausalität: Sie verankern einleitend ausdrücklich die ''csqn''-Formel und ergänzen für den Fall eines überbestimmten Erfolges, dass jede Aktivität, die für sich hinreichend gewesen wäre, den Schaden zu derselben Zeit herbeizuführen, als Ursache gilt. Es folgt eine Reihe von Vorschriften für Fallgruppen, in denen die ''csqn''-Formel nicht ausreicht, weil ein Verhalten nicht kausal in ihrem Sinne war oder weil sich die Kausalität nicht aufklären lässt. In der Frage der hypothetischen Kausalität greifen die PETL die Differenzierung zwischen endgültig und unumkehrbar eingetretenen Schäden einerseits und Dauerschäden andererseits auf: Bei endgültigen Schäden wird das nachfolgende Ereignis nur soweit für beachtlich erklärt, wie dadurch ein zusätzlicher Schaden herbeigeführt wird; unabhängig davon kann das zweite Ereignis die Schadensberechnung beeinflussen (z.B. geringe Lebenserwartung). Bei Dauerschäden gelten ab dem Zeitpunkt der Ersatzursache beide Aktivitäten als ursächlich für den fortlaufend eintretenden Schaden. Ist der Kausalverlauf nicht aufklärbar, entscheiden sich die PETL für ein System der Anteilshaftung nach Wahrscheinlichkeiten: Dies gilt im Fall der Täteralternativität ebenso wie im Fall der Opferalternativität und schafft somit auch ein Modell zur Bewältigung von Massenschäden. Unsichere Ursachen aus der Sphäre des Geschädigten (einschließlich Zufall) wirken nach dem Grad ihrer Wahrscheinlichkeit anspruchsmindernd.
In Ermangelung einer Einheitsgesetzgebung ist insbesondere die Harmonisierung und die Festlegung gemeinsamer Standards in den nationalen Rechtsordnungen durch die Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung. In Anbetracht der sensiblen Eigenart der Materie und der erheblichen Beweisschwierigkeiten in diesen Verfahren räumt der Gerichtshof grundsätzlich den nationalen Behörden zur Ermittlung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles und zur Festlegung eines angemessenen Handlungsvorgehens einen weiten Handlungsspielraum ein. Ebenso ist seitens des Gerichtshofs anerkannt, dass die Definition der Eingriffsschwelle der zuständigen Behörden für den Schutz von Minderjährigen unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Es kann nicht verlangt werden, dass das Gesetz alle vorstellbaren Eventualitäten, die das Ergreifen von Maßnahmen rechtfertigen könnte, explizit erfasst (EGMR Nr.&nbsp;10465/‌83 – ''Olsson/‌Schweden (Nr.&nbsp;1)''). Der Gerichtshof hat zudem den Ausnahmecharakter der Maßnahmen einer Trennung des Minderjährigen von seinem familiären Umfeld betont. Derartige Maßnahmen müssen durch ein überwiegendes Interesse des Minderjährigen gerechtfertigt sein. Wenn kein solcher Ausnahmefall vorliegt, sind die Pflegemaßnahmen temporär und im Einklang mit dem Ziel der Wiederzusammenführung der [[Familie]] festzulegen und durchzuführen (EGMR Nr.&nbsp;10465/‌83 – ''Olsson/‌Schweden (Nr.&nbsp;1)''). Dies verlangt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig zu der konkreten Situation sind, die eine Intervention erforderlich macht. Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist insbesondere in den Fällen evident, in denen die Kinder nicht Opfer von Missbrauch oder Misshandlung der Eltern sind, sondern aufgrund geistiger Defizite der Eltern (EGMR Nr.&nbsp;46544/‌99 – ''Kutzner/‌Deutschland'') oder durch materielle Mängel, wie etwa im Falle des Fehlens einer adäquaten Unterkunft, vernachlässigt werden (EGMR Nr.&nbsp;23848/‌04 – ''Wallová und Walla/‌Tschechische Republik''). Da die Einschränkungen des Umgangsrechts zu einer endgültigen Entfremdung des Kindes von seiner Familie führen können, wenn diese auf Dauer anhält und das Kind sich bereits in seine Pflegefamilie integriert hat, sind solche Einschränkungen eingehender und strenger zu prüfen als die Beschränkung der Personensorge (EGMR Nr.&nbsp;61/‌1990/‌252/‌323 – ''Andersson/‌ Schweden''<nowiki>; EGMR Nr.&nbsp;31127/‌96 – </nowiki>''E.P./‌Italien''<nowiki>; EGMR Nr.&nbsp;74969/‌01 – </nowiki>''Görgülü/‌Deutschland''). Ebenso müssen die zuständigen Behörden gewährleisten, dass sowohl die Auswirkungen eines Herausnehmens als auch mögliche Alternativen eingehend untersucht werden, bevor eine Trennung von der Familie erwogen wird (EGMR Nr.&nbsp;25702/‌94 – ''K. und T./‌Finnland''<nowiki>; EGMR Nr.&nbsp;11057/‌02 – </nowiki>''Haase/‌Deutschland'').


=== c) Gemeinschaftsprivatrecht ===
Die Rechtsprechung des EGMR fordert zudem weitgehende prozessuale Garantien. So hat sich der Gerichtshof dafür ausgesprochen, dass den durch die jeweiligen Maßnahmen betroffenen Eltern eine ausreichende Einflussnahme auf das Verfahren gewährt werden muss, die ihnen eine angemessene Verteidigung ihrer Interessen erlaubt (EGMR Nr.&nbsp;9749/‌82 – ''W./‌Großbritannien''). Dies beinhaltet das Recht auf Zugang zu relevanten Dokumenten (z.B. Sozial- oder Sachverständigengutachten) (EGMR Nr. 16424/‌90 – ''McMichael/‌Großbritannien'') und auf Rechtsbeistand während des Verfahrens (EGMR Nr.&nbsp;56547/‌00 – ''P.C. und S./‌Großbritannien''). In den Verfahren des Kinderschutzes hat das Kind Recht auf alle sachdienlichen Auskünfte und auf Anhörung, wenn es hierfür nach innerstaatlichem Recht als hinreichend verständig angesehen wird (Art.&nbsp;3 EuKinderrechteÜ (1996)).
Zur Prüfung der Kausalität gehen die Gemeinschaftsgerichte in allen haftungsrechtlichen Zusammenhängen, teils ausdrücklich, teils implizit, von der ''csqn''-Formel als erstem Schritt aus. In Rechtsakten wird die Kausalität allenfalls als Tatbestandsmerkmal erwähnt, aber in ihren Voraussetzungen nicht näher umschrieben. Beispielsweise verlangt die Produkthaftungs-RL (RL&nbsp;85/‌374) einen Kausalnexus zwischen Schaden und Fehler des Produkts und ergänzt, dass eine Mitverursachung durch einen Dritten, nicht aber durch den Geschädigten unbeachtlich ist. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist die rudimentäre Regelung in Art.&nbsp;4 Umwelthaftungs-RL (RL&nbsp;2004/‌35).
 
== 3. Zweite Ebene: Zurechnung ==
Die ''csqn''-Formel führt zu einer Vielzahl gleichwertiger Ursachen; sogar das Verhalten des Opfers lässt sich mit ihrer Hilfe als kausal für den Schaden bezeichnen. Erforderlich ist somit in einem zweiten Schritt eine wertende Eingrenzung, um zu ermitteln, ob ein Schaden ''suite directe'' (Frankreich) oder ''too remote'' (England) ist. Und obwohl in Belgien die ''csqn''-Formel immer wieder als das einzige Kausalitätskriterium genannt wird, kommt auch dort die Rechtsprechung nicht ohne diesen zweiten Schritt aus. In allen nationalen Rechtsordnungen, in den Grundregeln wie auch im Gemeinschaftsprivatrecht fällt auf dieser Ebene die eigentliche Entscheidung über den Nexus zwischen Verhalten und Schaden.
 
=== a) Kriterien auf nationaler Ebene ===
So groß die Einigkeit über die Notwendigkeit dieses zweiten Schritts ist, so vielfältig und uneinheitlich sind die dafür angebotenen Kriterien. Unter ihnen lässt sich kein herrschender europäischer Ansatz ausmachen, doch dürften andererseits die Unterschiede im Ergebnis geringer ausfallen als die Differenzen in der konzeptionellen Herleitung. Folgende Kriterien, von denen allerdings nicht eines als stets maßgeblich oder vorrangig betrachtet werden kann, ragen heraus und sind zugleich Ausdruck einer Tendenz weg von generalisierenden Zurechnungstheorien: (i)&nbsp;Wahrscheinlichkeit. Als zurechenbar gelten im Allgemeinen nur Schadensfolgen, die – so die ständige Rechtsprechung in Deutschland – „im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung des Erfolges geeignet sind“ (Adäquanztheorie). Adäquanzerwägungen werden auch in anderen Rechtsordnungen angestellt, insbesondere in Österreich und der Schweiz, aber z.B. auch in Portugal sowie mit anderer Nuancierung in Frankreich. (ii) Schutzzweckerwägungen (''scope of the rule''<nowiki>; </nowiki>''relativité aquilienne''). Der Schaden muss vom Schutzzweck der verletzten Norm bzw. Verhaltenspflicht umfasst sein (z.B. Niederlande; Deutschland; England). (iii)&nbsp;Vorhersehbarkeit (''foreseeability''). Insbesondere dominiert dieses Kriterium die englische Rechtsprechung; es ist aber auch in anderen Rechtsordnungen relevant, nicht zuletzt klingt es in der Adäquanztheorie mit. Im Detail geht mit der Vorhersehbarkeitsprüfung ein beträchtlicher Wertungsspielraum einher, beispielsweise was die Beurteilungsperspektive oder den Bezugspunkt der Beurteilung angeht. (iv)&nbsp;Verschuldensform. Vorsätzlich verursachte Schäden sind immer zurechenbar. Bei grob fahrlässigem Verhalten besteht verbreitet eine größere Neigung, die Zurechenbarkeit zu bejahen oder durch Beweiserleichterungen zu helfen. (v)&nbsp;Rechtmäßiges Alternativverhalten. Nicht zurechenbar (bzw. nach englischem Recht schon nicht kausal verursacht) ist grundsätzlich ein Schaden, der ebenso bei sorgfältigem Verhalten des Schädigers eingetreten wäre; doch gibt es Ausnahmen je nach Gewicht und Inhalt der verletzten Pflicht (z.B. Selbstbestimmungsrecht des nicht ordnungsgemäß aufgeklärten Patienten). (vi)&nbsp;Art des Schadens und der Haftung (so ausdrücklich Art.&nbsp;6:98 BW). Generalisierend lässt sich sagen, dass Personenschäden eher zugerechnet werden als Sach&#8209; und reine Vermögensschäden. Im Bereich der Personenschäden kann grundsätzlich nicht einmal eine besondere Prädisposition des Geschädigten (und damit ein unwahrscheinlicher Verlauf) den Schädiger entlasten (sog. ''eggshell skull-rule''). Unterschiede können auch zwischen Verschuldenshaftung und strikter Haftung bestehen, denn schließlich sollen bestimmte Vorschriften der Gefährdungshaftung (z.B. Atomenergie) gerade unwahrscheinliche Schadensfälle erfassen. (vii)&nbsp;„Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs“. Unter dieser, unglücklichen, Bezeichnung werden Fälle erörtert, in denen ein Dritter, das Opfer oder aber ein zufälliges Ereignis auf den vom Schädiger in Gang gesetzten Geschehensablauf einwirkt. Im Einzelfall können die Lösungen der nationalen Rechtsordnungen voneinander abweichen. Der Versuch, diese Fälle in einer eigenen Kategorie zusammenzufassen, erweist sich jedoch nicht als hilfreich und irreführend. Die Auswirkungen des zweiten Ereignisses auf die Zurechnung zum Erstschädiger sind vielmehr nach den allgemeinen Regeln zu beurteilen. So stellt die Handlung eines Dritten üblicherweise gerade keine „Unterbrechung“ dar, wenn sich in ihr ein vom Erstschädiger geschaffenes Risiko realisiert. Vorsatz des Dritten oder die Unvorhersehbarkeit seines Verhaltens können die Zurechnung zum Erstschädiger hindern – sofern dieser nicht gerade die Schädigung zu verhindern hatte. Bei einer Mitwirkung des Opfers besteht eine Überlappung mit der Problematik des [[Mitverschulden (Mitverantwortlichkeit) des Geschädigten|Mitverschuldens]]. Höhere Gewalt wird vielerorts als Grund angesehen, die Zurechnung zu verneinen (z.B. Frankreich; Schweiz). (viii)&nbsp;Bisweilen ziehen sich Gerichte bei der Zurechnungsentscheidung auf allgemeine Billigkeitserwägungen (''policy considerations'') zurück, beispielsweise um ein allgemein erwünschtes Verhalten (z.B. Hilfe bei Unglücksfällen) zu ermutigen.
 
=== b) Ansätze der Grundregeln zum Haftungsrecht ===
Nach beiden Regelwerken hat der Anwender einen großen Wertungsspielraum. Der DCFR gibt – abgesehen von einer Verankerung der ''eggshell skull-rule'' in Art.&nbsp;VI.-4:101&nbsp;(2) – keine Indizien, wann ein Schaden zuzurechnen ist, sondern lässt die erforderliche Wertung in dem Begriff der „consequence“ aufgehen. Konkrete Ergebnisse lassen sich damit nicht vorhersagen. Wiederum weisen die PETL eine höhere Regelungsdichte auf, bleiben aber im Vergleich zu der äußerst detaillierten Regelung der faktischen Kausalität vage. Unter der Überschrift „Haftungsumfang“ zählt Art.&nbsp;3:201 PETL (nicht abschließend) fünf Wertungsgesichtspunkte auf, die auch den nationalen Rechtsordnungen in unterschiedlichem Ausmaß vertraut sind: Vorhersehbarkeit, Natur und Wert der geschützten Interessen, Haftungsgrund, Ausmaß des allgemeinen Lebensrisikos sowie Schutzzweck der verletzten Norm. Welche Maßstäbe den Anwender dieses beweglichen Systems leiten sollen, teilen die PETL nicht mit.
 
=== c) Gemeinschaftsprivatrecht ===
Die Gemeinschaftsgerichte haben nicht einen mitgliedstaatlichen Ansatz übernommen, sondern wenden einzelfallorientiert verschiedene Kriterien nebeneinander an, um den erforderlichen „unmittelbaren Kausalzusammenhang“ zu ermitteln. Teils wird dieses Vorgehen als unklar kritisiert. Im Vordergrund stehen die Begriffe der Vorhersehbarkeit und der Unmittelbarkeit. Die Unmittelbarkeit ist ein ausfüllungsbedürftiges, wertendes Kriterium. In diese Wertung fließen auch Schutzzweckerwägungen ein. Meist betreffen die Urteile reine Vermögensschäden; diese werden eher restriktiv zugerechnet. Schwierige, bislang nur partiell gelöste Zurechnungsprobleme können sich aus dem Nebeneinander von Handeln eines Mitgliedstaats und der Gemeinschaft ergeben (z.B. gestuftes Verwaltungshandeln).
 
== 4. Einheitsrecht ==
Auch haftungsrechtliche Konventionen setzen Kausalität lediglich als Tatbestandsmerkmal voraus, umschreiben sie aber nicht näher. Beispielhaft erwähnt seien zur Atomhaftung das Pariser Übereinkommen, zur [[Umwelthaftung]] das Ölverschmutzungsübereinkommen und zur Luftverkehrshaftung das Montrealer Übereinkommen ([[Luftverkehr (Vertragliche Haftung)]]). Ausdrücklich geregelt ist – im Sinne einer Unbeachtlichkeit – allenfalls vereinzelt das Zusammentreffen mehrerer Ursachen.


==Literatur==
==Literatur==
''Herbert L.A. Hart'','' Tony Honoré'', Causation in the Law, 2.&nbsp;Aufl. 1985; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996, 988&nbsp;ff.; ''Christian v.&nbsp;Bar'', Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd.&nbsp;II, 1999, Rn.&nbsp;411&nbsp;ff.; ''Jaap Spier'' (Hg.), Unification of Tort Law: Causation, 2000; ''Wolfgang Wurmnest'', Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts: Eine rechtsvergleichende Untersuchung des Gemeinschaftsrechts, 2003, 159&nbsp;ff.; ''Lars Klöhn'', „Wertende Kausalität“ im Spiegel von Rechtsvergleichung, Rechtsdogmatik und Rechtsökonomik, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 105 (2006) 455&nbsp;ff.; ''Martin Schmidt-Kessel'', Reform des Schadenersatzrechts, Bd.&nbsp;I, 2006, 72&nbsp;f., 76, 90, 144&nbsp;ff.; ''Cees van Dam'', European Tort Law, 2006, Nr.&nbsp;1101&nbsp;ff.; ''Luboš Tichý'' (Hg.), Causation in Law, 2007; ''Bénédict Winiger'','' Helmut Koziol'','' Bernhard A. Koch'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Digest of European Tort Law, Bd.&nbsp;I: Essential Cases on Natural Causation, 2007; ''Helmut Koziol'','' Reiner Schulze'' (Hg.), Tort Law of the European Community, 2008, 47&nbsp;ff., 335&nbsp;ff., 354&nbsp;f., 378&nbsp;ff., 413&nbsp;ff., 465&nbsp;ff., 498&nbsp;ff., 533&nbsp;ff., 543&nbsp;ff., 569&nbsp;ff.
''Ludwig Salgo'', Der Anwalt des Kindes, 1993; ''Paul Lagarde'', Explanatory Report on the 1996 Hague Child Protection Convention, in: Hague Conference on Private International Law, Proceedings of the Eighteenth Session (1996), Bd.&nbsp;II, Protection of children, 1996, 534&nbsp;ff.; ''Jacqueline Pousson-Petit'', L’enfant et les familles nourricières en droit comparé, 1997; ''Ursula Kilkelly'', The Child and the European Convention on Human Rights, 1999; ''Katja Schweppe'', Child Protection in Europe: Different Systems – Common Challenges, German Law Journal 3 (2002) No.&nbsp;10; ''Katharina Boele-Woelki'','' Bente Braat'','' Ian Curry-Sumner'' (Hg.), European Family Law in Action, Bd.&nbsp;III: Parental Responsibilities, 2005; ''Nancy Freymond'','' Gary Cameron'' (Hg.), Towards Positive Systems of Child and Family Welfare: International Comparisons of Child Protection, Family Service, and Community Caring Systems, 2006; ''Service des études juridiques France'', Les structures de protection de l'enfance, Les documents de travail du Sénat, Études de législation comparée, no. LC 170, 2007<nowiki>; </nowiki>''Géraldine van Bueren'', Child Rights in Europe, 2008.


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Version vom 8. September 2021, 12:15 Uhr

von Josep Ferrer i Riba

1. Zielsetzung und Entwicklung des Kinderschutzes

Die Gewährleistung eines effektiven Kinderschutzes und einer effektiven Kinderfürsorge ist ein fundamentales Gebot der Sozialpolitik, über das ein breiter internationaler Konsens besteht. Die Garantie dieses Schutzes ist eine Pflicht der Staaten (Art. 3(2) UN-Kinderrechtskonvention; Art. 17 EU-Sozialcharta revidiert). Nach dem EU-Recht haben Kinder gemäß Art. 24(1) GRCh einen Anspruch auf diesen Schutz und auf Fürsorge (Kindschaftsrecht, internationales). Die Schutzpflicht obliegt der Natur der Sache nach in erster Linie nicht dem Staat, sondern den Eltern, als Aufgabe ihrer vornehmlichen Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder (Art. 18(1) UN-Kinderrechtskonvention). In der Ausübung ihrer Verantwortung (Elterliche Verantwortung) haben die Eltern ein Recht auf angemessene Unterstützung. Allerdings können sie in den Fällen, in denen sie ihre Aufgaben nicht erfüllen und das überwiegende Interesse des Kindes eine staatliche Intervention erfordert, auch behördlichen Eingriffen und Einschränkungen der elterlichen Selbstbestimmung unterliegen.

Im engen Rechtssinne umfasst der Kinderschutz die Gesamtheit aller Mittel, die den Behörden für die Wahrnehmung eines integralen Schutzes des Minderjährigen zur Verfügung stehen. Obwohl solche Maßnahmen mit einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Eltern einhergehen und sogar das vorübergehende Ruhen oder den teilweisen bzw. vollständigen Entzug der elterlichen Verantwortung zur Folge haben können, beinhaltet der Kinderschutz auch – und zwar vorrangig – Maßnahmen der Unterstützung und der Zusammenarbeit mit den Familien. Die Rechtsinstrumente des internationalen und europäischen Rechts nehmen die Zuordnung und Ausübung von Rechten und Pflichten betreffend den persönlichen oder vermögensrechtlichen Kinderschutz in den Begriff der elterlichen Verantwortung auf. Dies gilt auch dann, wenn die Verantwortung Dritten außerhalb des Familienbereiches oder einer juristischen Person übertragen wird (Art. 1(2) Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) und Art. 1(2) und Art. 2 Nr. 7 Brüssel IIa-VO [VO 2201/‌2003]).

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

In der Praxis hat der Kinderschutz in den letzten Jahrzehnten in Europa umfassende Veränderungen erfahren. Bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts griffen die Sozialeinrichtungen vornehmlich aus Gründen der Wohltätigkeit ein. Sie kümmerten sich vor allem um verwaiste oder aufgrund ihrer außerehelichen Abstammung ausgesetzte Kinder. In den heutigen Gesellschaften ist der Kinderschutz als gesetzliche Pflicht ausgestaltet: Die fahrlässige Nichtergreifung schützender Maßnahmen bei Vermutung schwerwiegender und andauernder Vernachlässigung oder sexuelles Missbrauchs, kann eine Haftung aufgrund der Verletzung des Rechtes auf Nichterleidung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zur Folge haben (EGMR Nr. 29392/‌95 − Z. u.a./‌Großbritannien; EGMR Nr. 33218/‌96 − E. u.a./‌Großbritannien). Zudem ist der Hauptfokus des Kinderschutzes heute vor allem auf diejenigen Kinder gerichtet, für die ein Risiko der Vernachlässigung, der Misshandlung, des sexuellen Missbrauchs, der Ausbeutung und anderer Fälle der Missachtung besteht. Aufgrund der häufigen Notwendigkeit zwingender Interventionen in das familiäre Umfeld solcher Kinder, sind rechtlich komplexe Handlungsrahmen entwickelt worden. Ein wichtiges Ziel dieser Vorschriften ist, die die staatliche Intervention rechtfertigende Schwelle konkret zu bestimmen. Obwohl die genaue Formulierung der Eingriffsschwelle je nach Land variiert, weisen die Tatbestände ähnliche Kriterien auf. Tendenziell werden die Umstände, die eine Intervention der staatlichen Gewalt rechtfertigen, in den jeweiligen Rechtsordnungen derart objektiviert, dass nicht notwendigerweise bewiesen werden muss, dass die Gefährdung des Kindes auf ein vorwerfbares Verhalten der Eltern zurückzuführen ist (analog der Reform des § 1666 Abs. 1 BGB im Jahre 2008). Der einen staatlichen Eingriff legitimierende Tatbestand wird in der Regel unter dem Vorbehalt definiert, dass der Eingriff nur dann erfolgen darf, wenn es für das Wohlergehen des Kindes erforderlich ist. Dieser necessity test (der im Rahmen von Art. 8(2) EMRK entwickelt und von Art. 9(1) UN-Kinderrechtskonvention sowie von Art. 24(1) GRCh übernommen wurde) findet nicht nur Anwendung auf das „Ob“ eines staatlichen Eingriffs, sondern auch auf das „Wie“ – also auch auf die Bestimmung der Art der jeweiligen Maßnahme, die ergriffen werden soll.

Das in Europa vorherrschende System des Kinderschutzes ist im Hinblick auf die Zuständigkeitsregelung dual, d.h. nach national spezifischen Kriterien auf Verwaltungsbehörden und Gerichte verteilt. Die Gerichte, denen in den meisten Ländern der Status einer Sondergerichtsbarkeit zukommt, sind stets für die Überprüfung der Verwaltungsakte und die Ergreifung einschneidender Maßnahmen zuständig, wie etwa der Entziehung der elterlichen Verantwortung. Die Verwaltungsbehörden, die in der Regel in Zusammenarbeit mit Sozialberatern tätig werden, sind für die Anordnung von Informations-, Unterstützungs- sowie Beaufsichtigungsmaßnahmen und die Durchführung sämtlicher Maßnahmen zuständig. In vielen Fällen wird die Implementierung solcher Maßnahmen Pflegepersonen, Pflegefamilien oder anderen privaten Einrichtungen übertragen. Als Ausnahme dieses Dualsystems ist der Fall Dänemark zu nennen, wo die Maßnahmen durch städtische, gemischte Ausschüsse angeordnet werden, denen Vertreter der lokalen Verwaltung und der Gerichtsbarkeit angehören. Auch die Überprüfung der Maßnahmen findet im dänischen Recht wiederum durch unabhängige Ausschüsse statt; den Gerichten obliegt hier allenfalls die Entziehung der elterlichen Verantwortung.

Für die Bestimmung der im einzelnen zu ergreifenden Schutzmaßnahmen gelten in Europa uniforme Handlungsprinzipien, was hauptsächlich auf die harmonisierende Funktion der Rechtsprechung des EGMR (s.unten 3.) zurückzuführen ist. Die Schutzmaßnahmen müssen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit (bzw. dem Prinzip des geringsten Eingriffes) entsprechen. Aus diesem Grund haben unterstützende Maßnahmen Vorrang gegenüber Maßnahmen der Zwangsintervention. Sind im Einzelfall Zwangsmaßnahmen anzuordnen, müssen die Behörden solche vorziehen, die im eigenen Heim des Kindes durchgeführt werden können. Ist letztlich erforderlich, das Kind von seinem familiären Umfeld zu trennen, muss die Reversibilität der Trennung abgewogen werden. In letzterem Fall darf die einzelne Maßnahme einer möglichen zukünftigen Rückführung des Kindes in seine Familie nicht entgegenstehen. Ist eine Pflegeunterbringung erforderlich, geht die Pflegschaft in einem familiären Umfeld einer Pflegschaft in einer Einrichtung vor. Bei Anordnung eines Zwangsmittels sind die berechtigten Interessen der Eltern zu beachten. Bei der Festlegung der Maßnahmen ist das Kind entsprechend seines Alters und seiner Reife anzuhören. Trotz dieser Homogenität der insbesondere verfahrensrechtlichen Handlungsprinzipien in Europa bestehen Unterschiede in Bezug auf die Art der Maßnahmen, die ergriffen werden können, und deren rechtliche Ausgestaltung: Die Art der Maßnahmen hängt von den Prioritäten der Sozialpolitik und den finanziellen Mittel ab, die jedem einzelnen Staat zur Verfügung stehen; die einzelne gesetzliche Ausgestaltung richtet sich nach den jeweiligen nationalen Rechtstraditionen.

Die Übernahme von Schutzfunktionen durch andere Personen als die Eltern – sei es durch Angehörige im weiteren Familienkreis, Pflegepersonen, öffentliche oder private Einrichtungen – ist rechtlich unterschiedlich ausgestaltet. Einige Rechtsordnungen greifen auf die gleichen Rechtsinstitutionen zurück, die gewöhnlich Anwendung finden, um die Ausübung der elterlichen Verantwortung zu ersetzen, wenn diese nicht oder nur zum Teil erfolgt. Hierunter fallen etwa die Vormundschaft für Kinder (Vormundschaft (rechtliche Fürsorge) für Minderjährige), die Pflegschaft oder andere entsprechende Institutionen (so z.B. in Deutschland, Spanien und Italien). In den Fällen, in denen die Vormundschaft oder die Pflegschaft einer öffentlichen Einrichtung übertragen wird, unterliegt allerdings ihre Begründung und Ausübung Sonderregelungen aufgrund der Ausübung durch die öffentliche Gewalt. Andere Rechtsordnungen greifen auf die Technik der freiwilligen oder aufgezwungenen Delegation der elterlichen Verantwortung an Dritte zurück, wenn auch in schwerwiegenden Fällen die Entziehung dieser Verantwortung und die Begründung einer Vormundschaft möglich ist (Frankreich). Der Kinderschutz kann auch durch Übertragung der elterlichen Verantwortung auf öffentliche Einrichtungen im Wege der richterlichen Anordnung wahrgenommen werden (England). Im englischen Recht führt zwar die richterliche Anordnung eines care order zugunsten einer Kommunalbehörde zu einer Übertragung der parental responsibility auf diese. Diese Zuordnung führt jedoch weder zu einem Ruhen noch zur Entziehung der Verantwortung der Eltern. Die Eltern dürfen ihre Verantwortung aber in diesem Falle nur im Einklang mit den Entscheidungen ausüben, zu denen die Behörde legitimiert wurde. Hinsichtlich der Vielfalt dieser rechtlichen Ausgestaltungen, die in Europa angewendet werden, ist die Einordnung der Ausübung der Schutzfunktionen und der Kindessorge unter den einheitlichen Begriff der elterlichen Verantwortung im europäischen Recht eine problemlösende und fortschrittliche Entwicklung. Allerdings werden die Probleme der Koordination zwischen der miteinander konkurrierenden Ausübung der Verantwortung durch die Eltern einerseits und durch Dritte andererseits nicht gelöst.

3. Internationaler Kinderschutz und Konvergenzlinien in den Rechtsordnungen

Um einen möglichst effektiven grenzüberschreitenden Kinderschutz zu gewährleisten, wurden unterschiedliche Instrumente des internationalen Privatrechts und Prozessrechts entwickelt (Kindschaftsrecht, internationales). In kollisionsrechtlicher Hinsicht sind hier hauptsächlich das durch die Haager Konferenz für IPR entwickelte Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 (KSÜ) und die Brüssel IIa-VO zu nennen. Beide legen die behördliche und gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung sowie die Vollstreckung von Entscheidungen über die elterliche Verantwortung im weitesten Sinne fest. Zu diesen Entscheidungen zählen alle Schutzmaßnahmen außer denen, die zur Vorbereitung einer Adoption dienen (Art. 4(b) KSÜ; Art. 1(3) (b) Brüssel IIa-VO). Das KSÜ revidiert das Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (1961), das nur von wenigen Staaten ratifiziert wurde. Daneben regelt das Übereinkommen das jeweils anzuwendende Recht und geht von dem Prinzip aus, dass grundsätzlich die zuständigen Behörden ihr jeweiliges nationales Recht für die Ergreifung von Maßnahmen anwenden (Art. 15 (1)). Die Brüssel IIa-VO ersetzt ihrerseits die Brüssel II-VO (VO 1347/‌2000), die zwar den gleichen Zweck verfolgte, in ihrem Anwendungsbereich indes enger ausgestaltet war, da nur die Fragen der elterlichen Verantwortung im Rahmen von Eheverfahren Gegenstand der Regelungen waren. Die Erweiterung der Brüssel IIa-VO ist für den Kinderschutz insbesondere insoweit relevant, als dieser Bereich nicht Gegenstand der Brüssel II-VO war. Nach dem Urteil des EuGH vom 27.11.2007 (EuGH Rs. C-435/‌06 – C, Slg. 2007, I-10141) ist Art. 1(1) Brüssel IIa-VO dahingehend auszulegen, dass eine Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie anordnet, unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne des Art. 1 fällt, selbst wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kinderschutzes ergangen ist. Zahlreiche Vorschriften der Brüssel IIa-VO sind dem KSÜ entlehnt, das zeitgleich zum Brüssel II-Übereinkommen von 1998 (das seinerseits später durch die Brüssel II-VO ersetzt wurde) entwickelt wurde. Beide Instrumente enthalten Regeln zur Vereinfachung ihrer gegenseitigen Anwendung (Art. 52 KSÜ und Art. 61 Brüssel IIa-VO). Grundsätzlich ist der Richter desjenigen Staates für die Anordnung von Schutzmaßnahmen zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 8(1) Brüssel IIa-VO). Liegt der Aufenthalt des Kindes innerhalb der EU, findet die Brüssel IIa-VO Anwendung; im gegenteiligen Falle ist das KSÜ anzuwenden.

Hingegen wurden keine Versuche unternommen, die Regelung des Kinderschutzes in materiellrechtlicher Hinsicht zu vereinheitlichen. Die CEFL hat einen wichtigen Anstoß zur Untersuchung des vergleichenden Rechts im Bereich der Vorarbeiten zur Entwicklung von Principles of European Family Law im Hinblick auf die elterliche Verantwortung gegeben. Ausgehend davon, dass der Kinderschutz dem Rechtsinstitut der elterlichen Verantwortung zuzuordnen ist, sind diese Prinzipien maßgebend für: (i) die Regelungen der Ausübung von Kinderschutzaufgaben durch Verwandte des Kindes, Pflegepersonen und private oder öffentliche Einrichtungen; (ii) den Inhalt der Rechte und Pflichten, die diesen Personen übertragen werden; (iii) den Entzug und die Wiederherstellung der elterlichen Verantwortung; (iv) grundlegende prozessuale Fragen für die Anordnung von Schutzmaßnahmen.

In Ermangelung einer Einheitsgesetzgebung ist insbesondere die Harmonisierung und die Festlegung gemeinsamer Standards in den nationalen Rechtsordnungen durch die Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung. In Anbetracht der sensiblen Eigenart der Materie und der erheblichen Beweisschwierigkeiten in diesen Verfahren räumt der Gerichtshof grundsätzlich den nationalen Behörden zur Ermittlung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles und zur Festlegung eines angemessenen Handlungsvorgehens einen weiten Handlungsspielraum ein. Ebenso ist seitens des Gerichtshofs anerkannt, dass die Definition der Eingriffsschwelle der zuständigen Behörden für den Schutz von Minderjährigen unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Es kann nicht verlangt werden, dass das Gesetz alle vorstellbaren Eventualitäten, die das Ergreifen von Maßnahmen rechtfertigen könnte, explizit erfasst (EGMR Nr. 10465/‌83 – Olsson/‌Schweden (Nr. 1)). Der Gerichtshof hat zudem den Ausnahmecharakter der Maßnahmen einer Trennung des Minderjährigen von seinem familiären Umfeld betont. Derartige Maßnahmen müssen durch ein überwiegendes Interesse des Minderjährigen gerechtfertigt sein. Wenn kein solcher Ausnahmefall vorliegt, sind die Pflegemaßnahmen temporär und im Einklang mit dem Ziel der Wiederzusammenführung der Familie festzulegen und durchzuführen (EGMR Nr. 10465/‌83 – Olsson/‌Schweden (Nr. 1)). Dies verlangt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig zu der konkreten Situation sind, die eine Intervention erforderlich macht. Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist insbesondere in den Fällen evident, in denen die Kinder nicht Opfer von Missbrauch oder Misshandlung der Eltern sind, sondern aufgrund geistiger Defizite der Eltern (EGMR Nr. 46544/‌99 – Kutzner/‌Deutschland) oder durch materielle Mängel, wie etwa im Falle des Fehlens einer adäquaten Unterkunft, vernachlässigt werden (EGMR Nr. 23848/‌04 – Wallová und Walla/‌Tschechische Republik). Da die Einschränkungen des Umgangsrechts zu einer endgültigen Entfremdung des Kindes von seiner Familie führen können, wenn diese auf Dauer anhält und das Kind sich bereits in seine Pflegefamilie integriert hat, sind solche Einschränkungen eingehender und strenger zu prüfen als die Beschränkung der Personensorge (EGMR Nr. 61/‌1990/‌252/‌323 – Andersson/‌ Schweden; EGMR Nr. 31127/‌96 – E.P./‌Italien; EGMR Nr. 74969/‌01 – Görgülü/‌Deutschland). Ebenso müssen die zuständigen Behörden gewährleisten, dass sowohl die Auswirkungen eines Herausnehmens als auch mögliche Alternativen eingehend untersucht werden, bevor eine Trennung von der Familie erwogen wird (EGMR Nr. 25702/‌94 – K. und T./‌Finnland; EGMR Nr. 11057/‌02 – Haase/‌Deutschland).

Die Rechtsprechung des EGMR fordert zudem weitgehende prozessuale Garantien. So hat sich der Gerichtshof dafür ausgesprochen, dass den durch die jeweiligen Maßnahmen betroffenen Eltern eine ausreichende Einflussnahme auf das Verfahren gewährt werden muss, die ihnen eine angemessene Verteidigung ihrer Interessen erlaubt (EGMR Nr. 9749/‌82 – W./‌Großbritannien). Dies beinhaltet das Recht auf Zugang zu relevanten Dokumenten (z.B. Sozial- oder Sachverständigengutachten) (EGMR Nr. 16424/‌90 – McMichael/‌Großbritannien) und auf Rechtsbeistand während des Verfahrens (EGMR Nr. 56547/‌00 – P.C. und S./‌Großbritannien). In den Verfahren des Kinderschutzes hat das Kind Recht auf alle sachdienlichen Auskünfte und auf Anhörung, wenn es hierfür nach innerstaatlichem Recht als hinreichend verständig angesehen wird (Art. 3 EuKinderrechteÜ (1996)).

Literatur

Ludwig Salgo, Der Anwalt des Kindes, 1993; Paul Lagarde, Explanatory Report on the 1996 Hague Child Protection Convention, in: Hague Conference on Private International Law, Proceedings of the Eighteenth Session (1996), Bd. II, Protection of children, 1996, 534 ff.; Jacqueline Pousson-Petit, L’enfant et les familles nourricières en droit comparé, 1997; Ursula Kilkelly, The Child and the European Convention on Human Rights, 1999; Katja Schweppe, Child Protection in Europe: Different Systems – Common Challenges, German Law Journal 3 (2002) No. 10; Katharina Boele-Woelki, Bente Braat, Ian Curry-Sumner (Hg.), European Family Law in Action, Bd. III: Parental Responsibilities, 2005; Nancy Freymond, Gary Cameron (Hg.), Towards Positive Systems of Child and Family Welfare: International Comparisons of Child Protection, Family Service, and Community Caring Systems, 2006; Service des études juridiques France, Les structures de protection de l'enfance, Les documents de travail du Sénat, Études de législation comparée, no. LC 170, 2007; Géraldine van Bueren, Child Rights in Europe, 2008.