Herkunftslandprinzip und Historische Rechtsschule: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Peter Mankowski]]''
von ''[[Thomas Rüfner]]''
== 1. Zweck und Grundaussage ==
==1. Recht und Geschichte ==


Das Herkunftslandprinzip ist ein Baustein von wichtigen Teilen des Gemeinschaftsrechts. Sein Zweck ist es, nur einem Mitgliedstaat Regulierungskompetenz, die Anwendung nur eines Rechts sicherzustellen und so die Rechtsermittlungs- und Rechtsbefolgungskosten für die Anbieter von Leistungen zu vermindern. Anbieter sollen sich an einem einzigen Recht und an der Regulierung durch einen einzigen Staat orientieren können. Sie sollen nicht die Rechte von 27 Mitgliedstaaten erforschen und entsprechende Kosten investieren müssen. Dies soll das europaweit einheitliche Angebot von Leistungen und insbesondere ein einheitliches Euromarketing erleichtern. Das Herkunftslandprinzip fördert mittelbar Mobilität und Suche nach dem für Anbieter günstigsten Standort. Es basiert auf dem Vertrauen der Mitgliedstaaten zueinander. Die Bestimmungsländer verzichten darauf, ihrerseits zu regulieren, weil das Herkunftslandprinzip sie zwingt, auf eine hinreichende Regulierung durch das Herkunftsland zu vertrauen. Das Herkunftslandprinzip hat zwei Komponenten, eine positive und eine negative: In der positiven Komponente ist es ein Gebot an das Herkunftsland, zu regulieren und das in es gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Geboten sind effektive Regulierung und effektive Kontrolle. In der negativen Komponente verbietet das Herkunftslandprinzip eine Doppelregulierung durch das jeweils betroffene Bestimmungsland. Es soll nur einmal reguliert und kontrolliert werden, und dies allein im Herkunftsland. Das Herkunftsland nimmt gleichsam Regulierung und Kontrolle stellvertretend für alle Mitgliedstaaten vor.
Das Verhältnis zur Historie ist ein Grundproblem der juristischen Wissenschaft. Die Quellen des Rechts sind im Moment der Rechtsanwendung immer schon Texte aus einer vergangenen Zeit. Zwischen Gesetzestexten, die vor Jahrtausenden entstanden sind, und solchen aus neuerer und neuester Zeit besteht dabei letztlich nur ein gradueller Unterschied. Für jeden Rechtsanwender stellt sich daher die Frage, inwieweit er die Bedeutung einer Rechtsquelle in ihrem ursprünglichen historischen Kontext ermitteln kann und muss und inwieweit er frei ist, dem überlieferten Text für die Gegenwart eine neue Bedeutung zu geben.


== 2. Verbreitung ==
Bei diesem Dilemma setzte die Historische Rechtschule an. Für ihre Exponenten erfordert die Beantwortung jeder Rechtsfrage zwingend die Auseinandersetzung mit den historischen Ursprüngen der anwendbaren Rechtsnormen. Hinsichtlich der Möglichkeit, die Bedeutung historischer Texte zu verstehen und daraus Folgerungen für die Gegenwart zu ziehen, ist die Historische Rechtsschule optimistisch. Zugleich hält sie es für ausgeschlossen, von der Geschichte abzusehen. Selbst wer sich einbildet, die Rechtsordnung für die Gegenwart ganz neu zu erfinden, reagiert auf die historisch gewachsenen Rahmenbedingungen, die er vorfindet und ist insofern von der Geschichte beeinflusst.


===a) Primärrecht ===
Die Historische Rechtsschule entstand in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde bald zur dominierenden wissenschaftlichen Richtung in Deutschland. Sie übte auch auf die Jurisprudenz in anderen Ländern großen Einfluss aus. Wegen dieses Erfolgs ist das Gedankengut der Historischen Rechtsschule seinerseits von historischer Bedeutung. Die deutsche Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist geprägt von den Ideen der Historischen Rechtsschule; ihre Lehren sind nur vor dem Hintergrund dieser Ideen verständlich. An der Historischen Rechtsschule besteht aber nicht nur ein antiquarisches Interesse. Die Frage nach dem Verhältnis der „Vergangenheit zur Gegenwart“ (''Friedrich Carl von Savigny'') oder nach der Bedeutung der historischen Grundlagen für die Fortentwicklung des Rechts in der Zukunft ist nach wie vor aktuell, und es fehlt nicht an Versuchen, das Denken der Historischen Rechtsschule für die Gegenwart fruchtbar zu machen.


Im Primärrecht existiert kein Herkunftslandprinzip (EuGH Rs. C-233/‌94 – ''Bundesrepublik Deutschland/‌Parlament und Rat; sog. Einlagensicherungsurteil'', Slg. 1997, I-2405, 2464). Insbesondere lässt sich ein Herkunftslandprinzip nicht aus den [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] herleiten, insbesondere auch nicht aus der [[Warenverkehrsfreiheit]]. Die Grundfreiheiten enthalten negative Kontrolltatbestände. Ihnen lässt sich aber kein positives Gebot zur Anwendung von Herkunftslandrecht entnehmen. Zudem wären auch die passiven Freiheiten einzubeziehen, die eher für ein Bestimmungslandprinzip sprächen. Ein Bestimmungslandprinzip in mitgliedstaatlichen Rechten hält jedenfalls der Kontrolle an der Warenverkehrsfreiheit stand (EuGH Rs. 58/‌80 – ''Dansk Supermarked'', Slg. 1981, 181, 194), was es nicht könnte, wenn diese Freiheit zwingend ein Herkunftslandprinzip geböte.
== 2. ''Savigny'' und das Programm der Historischen Rechtsschule ==


===b) Sekundärrecht===
Das Forschungs- und Methodenprogramm der Historischen Rechtsschule wird im Folgenden im Wesentlichen anhand der Schriften'' Savignys'' (1779–1861) referiert. Damit soll die Bedeutung anderer Rechtslehrer nicht herabgewürdigt werden. Die Lehre ''Savignys'' nahm in wichtigen Punkten Gedanken auf, die schon ''Gustav Hugo'' (1764–1844) entwickelt hatte. ''Georg Friedrich Puchta'' (1798–1864) entwickelte ''Savignys'' Lehre der Rechtsentstehung weiter. Dessen ungeachtet ist nicht zu bezweifeln, dass die Ideen der Historischen Rechtsschule vor allem in der Gestalt wirksam wurden, die ihnen ''Savigny'' in seinen schwungvollen Programmschriften gab.


Vielmehr ist das Herkunftslandprinzip ein Prinzip des Sekundärrechts. Namentlich die Generaldirektion Binnenmarkt fördert seine Einführung und Verbreitung, um so die Liberalisierung des Binnenmarktes voranzutreiben ([[Europäischer Binnenmarkt]]). Seine weiteste Verbreitung hat es im Aufsichtsrecht, namentlich für Finanzdienstleistungen einschließlich der Versicherungen ([[Versicherungsbinnenmarkt]]). Dort existiert es in der Spielart des so genannten European Single Passport: Die Zulassung oder Genehmigung der Tätigkeit durch das Herkunftsland erlaubt die Ausübung der Tätigkeit in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es weitere Zulassungserfordernisse in den anderen Mitgliedstaaten geben dürfte. Für das Finanzmarktrecht der Gemeinschaft ist das Herkunftslandprinzip typisch. Jüngster Ausdruck dafür ist Art. 31(1) MiFID (RL 2004/‌39). Auch die Prospekt-RL (RL 2003/‌71) kennt das Herkunftslandprinzip, um so einen europaweit einheitlichen Prospekt zu ermöglichen und dergestalt die Kosten einer Emission und Platzierung deutlich zu reduzieren ([[Prospekthaftung]]). Im Medienrecht der Gemeinschaft begegnet das Herkunftslandprinzip ebenfalls, nämlich ursprünglich in Art. 2(1) Fernseh-RL, heute Art. 2(2); 2a(1) Audiovisuelle Medien-RL (RL 2007/‌65), und in Art. 1(2)(a), (b); 8 Satelliten-RL (RL 93/‌83).
Erstmals formulierte ''Savigny'' seine Theorie und Methodenlehre, die er schon ab 1802 in Vorlesungen vorgetragen hatte, in der bekannten Streitschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ von 1814. Eine knappe Fassung seiner Grundgedanken ist in dem ein Jahr später publizierten Aufsatz „Über den Zweck dieser Zeitschrift“ enthalten, mit der ''Savigny'' die von ihm gemeinsam mit den gleichgesinnten Kollegen ''Karl Friedrich Eichhorn'' (1781–1854) und ''Johann Friedrich Ludwig Göschen'' (1778–1837) herausgegebene „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ einleitete. Ausführlich legte ''Savigny'' seine Ideen im ersten Band seines Hauptwerks „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840 dar.


Prominent ist das Herkunftslandprinzip auch im E‑Commerce. Art. 3 E‑Commerce-RL (RL 2000/‌31) verwirklicht es dort. Dagegen ist der Versuch, das Herkunftslandprinzip auch in der Dienstleistungs-RL (RL 2006/‌123, [[Dienstleistungsfreiheit]]) festzuschreiben, nominell gescheitert. Die entsprechende Vorschrift des Vorschlags provozierte starke politische Kontroversen und letztlich unüberwindlichen Widerstand aus Mitgliedstaaten, die eine Bedrohung ihrer mittelständischen Wirtschaftsstruktur sahen. Das Herkunftslandprinzip hat seinen Niederschlag durchweg in Rechtsakten gefunden, welche sich die Förderung des Binnenmarkts nach herkömmlichem Verständnis auf die Fahnen geschrieben haben und die (angeblichen) Hindernisse durch Doppelregulierung und Anpassungserfordernisse abbauen wollen. Dagegen hat es nur ausnahmsweise in die Kernakte des gemeinschaftsrechtlichen internationalen Privatrechts, nämlich die Rom I- (VO 593/‌2008) und die Rom II-VO (VO 864/‌2007), gefunden ([[Vertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]; [[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]). Das Herkunftslandprinzip ist kein fundamentales Grundprinzip, das jedwedem Sekundärrecht inhärent wäre. Vielmehr wirkt es nur dort, wo es ausdrücklich eingeführt und angeordnet wird.
=== a) Die „Herrschaft der Vergangenheit“ ===


== 3. Rechtsnatur ==
Der Grundgedanke ''Savignys'' kommt in dem Satz zum Ausdruck, für die Historische Rechtsschule sei „der Stoff des Rechts … durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben“. Damit bringt ''Savigny'' nicht nur die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass das jeweils geltende Recht das Produkt einer historischen Entwicklung ist, sondern auch, dass ein Bruch mit der Geschichte, die Neuerfindung des Rechts unter Absehen von den historischen Vorläufern, nicht möglich ist. Die Begründung liegt für ''Savigny'' darin, dass „die Richtung der Gedanken, die Fragen und Aufgaben … auch da noch durch den vorhergehenden Zustand bestimmt“ werden, wo neues Recht gesetzt wurde. Für den Gesetzgeber ist es unmöglich, ein neues Rechtsystem zu schaffen, ohne sich auf den vorherigen Rechtszustand wenigstens dadurch zu beziehen, dass er ihn negiert. Für den Rechtsanwender ist es ebenso unmöglich, sich von den Problemen und Fragestellungen der Vergangenheit vollständig zu lösen.


Seiner Rechtsnatur nach ist das Herkunftslandprinzip eine Kollisionsnorm, sofern es mehr besagt, als die Kompetenz des Herkunftslandes zu achten und Entscheidungen herkunftsstaatlicher Behörden oder Gerichte anzuerkennen. Es gebietet in seiner positiven Komponente, das Recht des Herkunftslandes anzuwenden. Freilich schlägt sich dies in den öffentlichrechtlichen Materien nicht nieder, weil dort Fremdrechtsanwendung gemeinhin nicht in Rede steht und insbesondere weil sich dort dem anzuwendenden Recht eine exklusive Regulierungskompetenz des Herkunftslandes und seiner Behörden zugesellt. In der E‑Commerce-RL ergibt sich die Besonderheit, dass deren Art. 1(4) aus politischen Gründen den kollisionsrechtlichen Charakter des Herkunftslandprinzips leugnet.
Weil der Bruch mit der Geschichte unmöglich und die „Herrschaft der Vergangenheit“ unumgänglich ist, kommt es für ''Savigny'' darauf an, die Abhängigkeit des Rechts von der Geschichte anzunehmen und die Rechtswissenschaft als geschichtliche Wissenschaft zu betreiben. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, „den gegebenen Stoff zu durchschauen, zu verjüngen und frisch zu erhalten“. Auf der Basis historischen Verständnisses soll es möglich sein, dass Recht nicht nur zu verstehen, sondern es auch organisch, das heißt, im Einklang mit seinen inneren Gesetzmäßigkeiten fortzuentwickeln.


Die kollisionsrechtliche Rechtsnatur des Herkunftslandprinzips spiegelt sich indirekt auch darin wider, dass es im Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]] und den ''[[Acquis Principles]]'' nicht auftaucht, denn beide sind eben ausschließlich dem Sachrecht zugewandt und wenden sich dem Kollisionsrecht nicht zu. Im europäischen Vertragsrecht, das bisher wesentlich Verbrauchervertragsrecht ist, wird das Herkunftslandprinzip nicht einmal erwähnt. Vielmehr dominiert diesen Bereich über Art. 6 Rom I-VO und zuvor über Art. 5 EVÜ das genau entgegengesetzte Bestimmungslandprinzip.
Den Ursprung dieser inneren Gesetzmäßigkeiten sieht ''Savigny'' im Volksgeist, der das Recht hervorbringt. In einem ursprünglichen Entwicklungszustand bringt das Volk als Ganzes das Recht hervor – nicht durch Gesetzgebung, sondern durch die allmähliche Herausbildung von Rechtsgewohnheiten. Auf einer höheren Entwicklungsstufe wird die Fortbildung des Rechts zur Sache von Spezialisten. Der Volksgeist wirkt nun durch die wissenschaftliche Tätigkeit der Juristen, die das Recht systematisch darstellen, aber auch neue Regeln entwickeln und als überholt erkannte Normen, „abgestorbenen Rechtsstoff“, ausscheiden. Die Juristen werden so gewissermaßen zu Volksvertretern, sie sind der Stand, „der in diesem Kreise des Denkens die Gesammtheit vertritt“. Die Aufgabe, in dieser Weise an der Fortentwicklung des Rechts mitzuwirken, fällt akademisch-theoretisch arbeitenden Juristen und Praktikern in gleicher Weise zu. Auch die juristische Praxis ist für ''Savigny'' wissenschaftliche Tätigkeit.


== 4. Anknüpfungspunkt ==
=== b) Geschichtliche Methode und Begriffsjurisprudenz ===


Welcher Staat das Herkunftsland ist, bestimmt sich danach, welchen Anknüpfungspunkt das Herkunftslandprinzip in seiner jeweiligen Ausprägung für den einzelnen Bereich verwendet. Typischerweise ist Anknüpfungspunkt eine Form der Niederlassung. Dies kann einerseits die Primärniederlassung meinen (so im Aufsichtsrecht), andererseits jegliche Art von Niederlassung einschließlich von Zweigniederlassungen für deren jeweilige Aktivitäten (so in der E‑Commerce-RL). Es ist jeweils durch Auslegung und Zweckbestimmung im einzelnen Kontext festzustellen, welche Art Niederlassung gemeint und verlangt ist. Teilweise wird das Herkunftsland als das Land der Zulassung umschrieben; in der Regel löst sich auch dies als Anknüpfung an eine Niederlassung auf, wenn Voraussetzung für die Zulassung eine Niederlassung ist. Das Herkunftslandprinzip kann man, soweit es an die Niederlassung anknüpft, auch als Niederlassungsprinzip bezeichnen.
Zur Frage, welche juristische Methode die Erkenntnis und Fortbildung des Rechts im Einklang mit dem Volksgeist ermöglicht, äußert sich ''Savigny'' in seinen Programmschriften nicht präzise. Im „Beruf“ spricht er von der Notwendigkeit, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so sein organisches Princip zu entdecken“. Dieses „organische Princip“ ist mit den „leitenden Grundsätzen“ zu identifizieren, aus denen sich die einzelnen Rechtsregeln mit mathematischer Sicherheit ergeben und deren Beherrschung nach ''Savigny'' für die römischen Juristen der klassischen Zeit charakteristisch ist. Im „System“ konkretisiert ''Savigny'' seine Überlegungen insofern, als er die Betrachtung von Rechtsinstituten in den Vordergrund stellt. Eine genaue Erklärung für den Weg, auf dem sich das „organische Princip“ oder die „leitenden Grundsätze“ aus dem gegebenen Rechtsstoff oder der Anschauung eines Rechtsinstituts herausdestillieren lassen sollten, gibt ''Savigny'' nicht.


== 5. Ausnahmen ==
Spätere Anhänger der Historischen Rechtsschule, vor allem ''Rudolf von Jhering'' (1818–1892) in seinen frühen Werken, versuchten, den Vorgang der Entwicklung neuer Rechtsätze aus dem historischen Rechtsstoff näher zu erläutern. Für ''Jhering'' war die Bildung von Begriffen, die das Wesen eines Rechtsinstituts richtig erfassen, der entscheidende Schritt. Nach ''Jhering'' bieten die so gebildeten Begriffe die „Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts von innen heraus“. Durch Kombination der aus dem Rechtsstoff gewonnenen Begriffe sollen sich „neue Begriffe und Rechtssätze bilden“ lassen. Es ist vor allem diese Betonung begrifflicher Deduktionen, die der deutschen Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den (später von ''Jhering'' selbst in Abkehr von seinen früheren Überzeugungen erhobenen) Vorwurf eingetragen hat, sie sei eine lebensfremde Begriffsjurisprudenz. Inwieweit dieser Vorwurf auch Zeitgenossen ''Jherings'' und bereits ''Puchta'', den ''Jhering'' (vor seier Abkehr von der begrifflichen Methode) als sein Vorbild nannte, oder gar ''Savigny'' selbst trifft, ist strittig.


Ebenso wie das Herkunftslandprinzip selbst sektorspezifisch eingesetzt wird, gestalten sich auch die jeweiligen Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip sektorspezifisch. Die Ausnahmen sind ein wichtiger Faktor für die jeweilige Reichweite des Herkunftslandprinzips, denn sie spiegeln die politischen Kompromisse wider und signalisieren, wo die Widerstände gegen das Herkunftslandprinzip zu groß waren. Typischer Anwendungsfall sind verbraucherschutzrelevante Aspekte. Die E‑Commerce-RL ist hier paradigmatisch.
=== c) Geschichtliches Recht und Naturrecht ===


== 6. Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung ==
Aus ''Savignys'' Auffassung des Rechts als Produkt einer historischen Entwicklung folgt unmittelbar seine Ablehnung der juristischen Methodik des [[Naturrecht]]s und des ''[[usus modernus]]''. Das Naturrecht ging davon aus, dass sich das Recht aus vernünftigen Prinzipien ableiten ließ. Für ''Savigny'' war die Neuerrichtung einer Rechtsordnung ohne Rücksicht auf den gewachsenen Normbestand unmöglich und jeder Versuch zu einem solchen Bruch mit der Vergangenheit eine Störung der organischen Fortentwicklung des Rechts. Den ''usus modernus'' musste er wegen der synkretistischen Verwendung von Elementen der römischen und der deutschen Rechtstradition ohne Berücksichtigung der historischen Herkunft ablehnen. In der Ablehnung dieser beiden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dominierenden wissenschaftlichen Richtungen knüpfte ''Savigny'' an ''Gustav Hugo'' an.


Anstelle des Herkunftslandprinzips wird in neuerer Zeit ein so genannter Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung propagiert. Musterbeispiel dafür ist die Dienstleistungsrichtlinie. Ob dieser Grundsatz nur ein politisch motivierter Verschleierungsbegriff für ein Herkunftslandprinzip ist oder ob er sich materiell wirklich vom Herkunftslandprinzip unterscheidet, steht kritischer Hinterfragung offen. Auffällig ist, dass der Grundsatz als Institution formuliert wurde, als das Herkunftslandprinzip politisch diskutiert und teilweise diskreditiert wurde. Allerdings ist der Grundsatz als solcher älter. Er hat jedenfalls dort seine Berechtigung, wo es darum geht, die ausdrückliche ''behördliche'' Zulassung und Genehmigung einer bestimmten, zumeist wirtschaftlichen Betätigung durch einen Mitgliedstaat auch in anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen und so die Betätigung gemeinschaftsweit erlaubt zu machen. Der ''European Single Passport'' im Aufsichtsrecht für Banken und Versicherungen ist der deutlichste Ausdruck; außerhalb des Wirtschaftsrechts greift der Grundsatz wechselseitiger Anerkennung bisher insbesondere bei Führerscheinen für Kraftfahrzeuge (siehe nur auf der Basis der ursprünglichen Führerschein-RL zuletzt EuGH verb. Rs. C-329/‌06 und C-343/‌06 – ''Wiedemann/‌Land Baden-Württemberg'', Slg. 2008, I-4635). Gerade diese Historie des Grundsatzes wechselseitiger Anerkennung lässt aber bezweifeln, dass es sich um etwas qualitativ Anderes handelt als das Herkunftslandprinzip. Vielmehr könnte man beide als einander ergänzende Spielarten desselben Basisprinzips ansehen: die Anerkennung, soweit konkrete behördliche Akte im Herkunftsland in Rede stehen, und das Herkunftslandprinzip, soweit es um Anwendung des Herkunftslandrechts in den Bestimmungsländern geht. Vermischende Formulierungen wie jene, dass man „Dienste“ anerkenne, fordern die Frage nach dem Anerkennungsobjekt dagegen förmlich heraus.
''Savigny'' missbilligte indes nicht nur die Methoden der Rechtswissenschaft in der Zeit, die seiner eigenen Epoche unmittelbar voranging, sondern berücksichtigte auch deren Resultate in seinen dogmatischen Schriften kaum. Vielmehr griffen er und seine Schüler unmittelbar auf das [[römisches Recht|römische Recht]] der Antike zurück. Damit verletzte ''Savigny'' selbst schon die Forderung nach einer umfassenden Erforschung der gesamten Rechtsentwicklung als Grundlage der Rechtswissenschaft.


== 7. Bestimmungslandprinzip als Gegenbegriff ==
=== d) Wissenschaft und Gesetzgebung ===


Gegenbegriff zum Herkunftslandprinzip ist das Bestimmungslandprinzip. Das Bestimmungslandprinzip erfordert, sich an die rechtlichen Verhältnisse auf dem jeweiligen Markt anzupassen. Es begünstigt die Nachfrager und wahrt die Einheitlichkeit der Wettbewerbsbedingungen auf dem betreffenden Markt. Das Bestimmungslandprinzip dominiert in den verbraucherrelevanten Materien, insbesondere gemäß Art. 6 Rom I-VO im internationalen Verbrauchervertragsrecht ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]), und gilt nach Art. 6(1) Rom II-VO auch im allgemeinen internationalen Lauterkeitsrecht ([[Außervertragliche Schuldverhältnisse (IPR)]]), vorbehaltlich seiner Überlagerung und Verdrängung durch spezielle Regelungen.
Auch die Ablehnung der Kodifikationsidee in der Auseinandersetzung mit ''Anton'' ''Friedrich Justus Thibaut'' (1772–1840) ist unmittelbare Konsequenz von ''Savgnys'' Vorstellungen von der Entstehung des Rechts. Eine [[Kodifikation]] ohne zureichende Kenntnis der gesamten geschichtlichen Entwicklung stellte in den Augen ''Savignys'' einen Eingriff in die Rechtsentwicklung dar, der die gedeihliche Fortentwicklung der Rechtsordnung nur stören konnte. Da er die Voraussetzung einer vollständigen Durchdringung des historischen Rechtsstoffs als nicht gegeben ansah, sprach er seiner Zeit die Fähigkeit zu einer brauchbaren Kodifikation des Rechts ab. Er machte auch deutlich, dass er die künftige Verwirklichung dieses Ziels kaum für möglich hielt. Gleichwohl waren Anhänger der Historischen Rechtsschule wie ''Bernhard Windscheid ''(1817–1892) am Ende des 19. Jahrhunderts der Auffassung, die Zeit sei reif, um im Einklang mit ''Savignys'' Lehren die Kodifikation in Angriff nehmen zu können.  


== 8. Rechtspolitische Kritik ==
Obwohl er der umfassenden Kodifikation des Rechts strikt ablehnend gegenüber stand, lehnte ''Savigny'' nicht jedes Eingreifen des Gesetzgebers ab. Vielmehr wies er der Gesetzgebung durchaus eine wichtige Rolle zu. Der Gesetzgeber soll aus ''Savignys'' Sicht immer dann tätig werden, wenn eine Regelung erforderlich ist, deren genauer Inhalt nicht durch Sachgesichtspunkte, sondern nur durch eine autoritative Entscheidung festgelegt werden kann, also etwa bei der Festlegung von Verjährungs- und anderen Fristen. ''Savigny'' sieht den Gesetzgeber aber auch zu einer über solche technischen Festlegungen hinausgehenden Fortbildung des Rechts und zur Angleichung geltender Normen an gewandelte Umstände befugt. Voraussetzung für eine gelungene Gesetzgebung ist nur, dass dem Gesetzgeber „die vollständige Anschauung des organischen Rechtsinstituts“ vor Augen steht, auf das sich seine Regelung bezieht. Der Gesetzgeber muss also wie der praktisch oder akademisch tätige Jurist durch umfassende historische Studien über die Materie informiert sein, in die er eingreift.


Rechtspolitisch sprechen gegen ein Herkunftslandprinzip auch im Binnenmarkt gute und gewichtige Gründe. Insbesondere stehen seiner notwendigen Komponente der Herkunftslandkontrolle die fehlenden Anreize für die Behörden des Herkunftslandes entgegen, Sachverhalte zu regulieren, die sich nur auf Auslandsmärkten abspielen. Im Zweifel knappe Ressourcen zum Schutz ausländischer Märkte und Marktteilnehmer einzusetzen, wird Behörden kaum in den Sinn kommen. Hinzu kommen erhebliche Informationsprobleme. Die Aufgabenteilung im Binnenmarkt und die stellvertretende Rechtspflege des Herkunftsstaates für alle Gemeinschaftsbürger werden schon deshalb nicht funktionieren. Rechtssicherheit für den Verbraucher durch Regulierung an der Quelle zu reklamieren, stellt die Dinge auf den Kopf. Effektive Regulierung ist Regulierung auf den betroffenen Märkten. Im Gegenteil vermittelt das Herkunftslandprinzip Staaten den Anreiz, Wettbewerbshandlungen inländischer Unternehmen im Ausland kaum zu regulieren. Exportförderung durch ''laissez-faire'' droht. Ausländische Konkurrenten oder Verbraucher werden im inländischen Gesetzgebungsverfahren keine hinreichend austarierende Lobby haben. Der Herkunftsstaat kann zu Lasten ausländischer Märkte politische Kosten externalisieren. Er kann den Auslandswettbewerb seiner eigenen Unternehmen durch liberale Kontrolle subventionieren. Bei Externalisierung negativer Folgen stehen Unterregulierung und ein suboptimales Regulierungsniveau zu erwarten. Selbst konkret Geschädigte haben kaum Möglichkeiten und Zwangsmittel, um überprüfen zu können, ob der Herkunftsstaat effektiv kontrolliert. Äquivalenz- und Diskriminierungsprinzip des Gemeinschaftsrechts würden zwar theoretisch dazu führen, dass sich ein suboptimales Regulierungsniveau auch im Inland auswirkt; jedoch brechen sie sich erstens an der politischen Wirklichkeit, zweitens an der Attraktivität von Exportförderung und drittens an der Knappheit behördlicher Ressourcen. Ohne effektive Regulierung und Kontrolle im Herkunftsland aber fehlt es an der Basis für notwendiges Vertrauen. Dann wird nicht, wie erforderlich, einmal, sondern keinmal reguliert. Dies geht weit über das legitime Ziel hinaus, eine Doppelregulierung zu vermeiden. Das Herkunftslandprinzip ist kein Optimum an Chancengleichheit, sondern ein Optimum an Chancen für den Anbieter: Dieser hat nur Vorteile, aber keine Nachteile auf dem ausländischen Markt. Die Rücksicht auf mobile Anbieter und die Furcht vor deren Wegzug vermag den Rechtssetzungsprozess zu prägen. Benachteiligt sind die ortstreuen Anbieter. Die Benachteiligung trifft insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, wenn diese hauptsächlich oder gar ausschließlich auf ihrem Heimatmarkt agieren: Sie werden auf ihrem Heimatmarkt von weiteren Konkurrenten zu für diese vorteilhaften Konditionen angegriffen, während sie selber mangels eigenem Interesse an der Expansion auf Auslandsmärkte keine Vorteile vom Herkunftslandprinzip haben. Der Mittelständler kämpft im Privatkundengeschäft primär um seinen Heimatmarkt, einheitliches Euromarketing ist ihm weniger wichtig. Sofern er auf Auslandsmärkten auftritt, tut er dies häufig durch eigene Niederlassungen.
== 3. Der geistesgeschichtliche Hintergrund ==


Das Herkunftslandprinzip soll den Anbietern Rechtsermittlungskosten ersparen. Die Anbieter sollen nicht mehr gezwungen sein, bei der Betätigung auf einer Mehrzahl nationaler Märkte das Recht jedes einzelnen dieser Märkte ermitteln zu müssen, um sich rechtstreu zu verhalten, sondern sollen sich weitgehend an einem einzigen Recht orientieren können, ihrem vertrauten Heimatrecht. Damit betont das Herkunftslandprinzip einseitig die Interessen der Anbieterseite. Die Gesamtsumme der Rechtsermittlungskosten ''aller'' Beteiligten aber gerät aus dem Blick. Den Anbietern stehen insoweit die Marktgegenseite, aber auch die Gerichte des Marktstaates gegenüber, die gezwungen wären, das aus ihrer Sicht ausländische Recht des Herkunftsstaates zu ermitteln. Zugleich wird der Grundsatz gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Teilnehmer auf den einzelnen Märkten zerstört. In der Summe ist das Herkunftslandprinzip nicht notwendig die billigere, weil kostengünstigere Lösung. Insbesondere drohen eine in sich unstimmige und inkonsistente Hybridlösung mit Bestimmungslandanknüpfung im IZPR ([[Europäisches Zivilprozessrecht]]) und Herkunftslandanknüpfung im [[Internationales Privatrecht|IPR]] zu entstehen, welche die tertiären Kosten der Rechtsverfolgung erhöhen.
Die Ideen, von denen die Exponenten der Historischen Rechtsschule sich leiten ließen, stehen im Zusammenhang mit den allgemeinen geistigen Strömungen in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch ohne nähere Erörterung der Frage, welchen Anteil einzelne Philosophen (''Kant'', ''Hegel'', ''Fichte'', ''Schelling'', ''Herder'') an der Entwicklung von ''Savignys'' Vorstellungen über Recht und Geschichte hatten, lässt sich festhalten, dass ''Savigny'' von der Philosophie des deutschen Idealismus und vom Geschichtsdenken der Romantik beeinflusst war. Mit dem Kreis der Romantiker war er auch persönlich durch seine Ehe mit ''Kunigunde Brentano'', einer Schwester von ''Clemens Brentano'' und ''Bettina von Arnim'', verbunden.
 
Die Historische Rechtsschule steht außerdem im Zusammenhang mit den Historischen Schulen anderer Disziplinen, die gleichfalls die herausragende Bedeutung geschichtlicher Studien als Erkenntnismittel betonten. Zu nennen sind etwa die Historische Schule der Wirtschaftswissenschaften, die in unterschiedlichen Ausprägungen in Deutschland, England und Frankreich existierte, und die historische Richtung in der deutschen Philologie. Für letztere waren die Brüder'' Jakob'' (1785–1863) und ''Wilhelm Grimm'' (1786–1859) von großer Bedeutung, die als Juristen und Philologen arbeiteten und Schüler ''Savignys'' waren. In dem gleichen Zusammenhang steht auch die gleichfalls als Historische Schule bezeichnete Strömung der deutschen Geschichtswissenschaft, zu der Historiker wie ''Leopold von Ranke'' (1795–1886), ''Johann Gustav Droysen'' (1808–1884) und ''Theodor Mommsen'' (1817–1903) gezählt werden.
 
== 4. Weitere Entwicklung in Deutschland ==
 
Nahezu alle bedeutenden deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts verstanden sich als Anhänger der Historischen Rechtschule und Schüler ''Savignys''. Allerdings trat schon vor der Mitte des Jahrhunderts eine Spaltung in eine germanistische und eine romanistische Richtung ein. Dem Streit lag die Frage zugrunde, welche Traditionsstränge im Mittelpunkt des historischen Forschungsprojekts stehen sollten. ''Savigny'' selbst sah die [[Rezeption]] des römischen Rechts als Teil der deutschen Rechtsentwicklung. Da er die Ergebnisse der gemeinrechtlichen Wissenschaft als Früchte einer ungeschichtlichen Herangehensweise zu großen Teilen verwarf, stellte er das antike römische Recht sogar in den Mittelpunkt seiner Forschungen. Die Tendenz zum unmittelbaren Rückgriff auf die antiken römischen Quellen war bei späteren romanistischen Anhängern der Historischen Schule noch stärker. Die auf das rezipierte römische Recht und seine Anwendung spezialisierten Juristen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden daher als Pandektisten, die wissenschaftliche Richtung als Pandektistik ([[Pandektensystem]]) bezeichnetet, obgleich sich die heute als Pandektisten bezeichneten Rechtsgelehrten selbst als Anhänger und Fortführer der Historischen Schule verstanden.
 
Demgegenüber verstanden Germanisten wie ''Georg Beseler'' (1809–1888) – wie es an sich auf der Grundlage von ''Savignys'' Vorstellungen nahe lag – die Rezeption als Störung der organischen Fortentwicklung des deutschen Rechts. ''Beseler'' lehnte auch ''Savignys'' Vorstellung ab, dass der Juristenstand die Aufgabe der Rechtsbildung stellvertretend für das Gesamtvolk wahrnehmen könnte und sah statt der Befassung mit dem römischen Juristenrecht die Erforschung der Quellen des deutschen Volksrechts als das Gebot der Zeit.
 
Da überall in Deutschland das rezipierte römische Recht oder auf dem römisch-gemeinen Recht aufbauende Kodifikationen in Kraft waren, blieb der Einfluss der romanistisch-pandektistischen Schule in der Praxis dominierend.
 
== 5. Wirkungen außerhalb Deutschlands ==
 
Der Erfolg der Lehre ''Savignys'' und der Historischen Rechtsschule war nicht auf Deutschland beschränkt. In Österreich verbreitete vor allem ''Joseph Unger'' (1828–1913) die Ideen der Historischen Rechtsschule. Sein Vorhaben, Rechtslehre und Praxis in Österreich im Sinne der Historischen Rechtsschule umzugestalten, wurde durch den Unterrichtsminister ''Leo von Thun-Hohenstein'' (1811–1888) gefördert, der sich von der als konservativ empfundenen Historischen Rechtsschule ein Gegenmittel gegen liberale Bestrebungen unter den Rechtstudenten erhoffte. ''Ungers'' Vorstoß verdrängte die bis dahin in Österreich dominierende „exegetische Schule“, die sich auf die Auslegung des [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge konzentrierte. Ähnlich wie in Österreich war in Frankreich nach dem Erlass des ''[[Code civil]]'' zunächst die allein auf die Auslegung des neuen Gesetzes fixierte ''École de l’exégèse'' herrschend. Doch gab es eine erhebliche Zahl von Juristen, die ''Savignys'' Programm auch in Frankreich zu verwirklichen suchten und mit ihrer Kritik an der Sterilität der ''école de l’exégèse'' auf eine Veränderung der Methoden hinwirkten. Die Bemühungen seiner französischen Anhänger wurden von ''Savigny'' gezielt unterstützt. Auch in Italien gab es Anhänger der Historische Schule; ''Savignys'' Ideen spielten in den Debatten um eine Kodifikation des Zivilrechts in einzelnen Staaten vor der italienischen Einigung eine Rolle.
 
''Savigny'' und die Historische Rechtsschule übten über den von der gemeinsamen Tradition des [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] geprägten europäischen Kontinent hinaus auch in England und den USA erheblichen Einfluss aus. Schon 1848 wurde an den Londoner ''Inns of Court'' Vorlesungen gehalten, die maßgeblich von den Schriften ''Savignys'' beeinflusst waren. Dem Denken der deutschen Historischen Schule stand insbesondere ''Henry James Sumner Maine'' (1822–1888) nahe, der in seinem Hauptwerk „Ancient Law“ von 1861 ein Modell der Evolution des Rechts in der Gesellschaft entwarf, das zugleich an ''Savignys'' Vorstellungen anknüpfte und die moderne Rechtssoziologie vorbereitete. Auch die Väter der englischen Rechtsgeschichte, ''Frederic W. Maitland'' (1850–1905) und ''Frederick Pollock'' (1845–1937) waren vom Denken der Historischen Schule beeinflusst.
 
== 6. ''Savignys'' Vermächtnis ==
 
Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor die Vorstellung einer geschichtlichen Rechtswissenschaft an Anziehungskraft. Freirechtsschule, ''legal realism ''und Interessenjurisprudenz kritisierten vor allem die begriffliche Orientierung der Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sahen in den Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung nicht mehr den bestimmenden Faktor der Rechtsfortbildung.
 
In neuerer Zeit gibt es jedoch zahlreiche Ansätze, an das Programm der Historischen Rechtsschule anzuknüpfen. Dies geschieht insbesondere mit Blick auf die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts. Vor allem ''Reinhard Zimmermann'' will ''Savignys'' Forschungsprogramm für den Prozess der Herausbildung einer einheitlichen europäischen Zivilrechtsordnung fruchtbar machen. Demnach könnte eine gemeinsame europäische Privatrechtsordnung dadurch entstehen, dass sich die Rechtswissenschaft in historischer und rechtsvergleichender Arbeit die bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Rechtsordnungen bewusst macht und auf eine Vertiefung dieser Gemeinsamkeiten hinarbeitet.
 
<nowiki>Mit der Idee, „Savignys Historische Rechtsschule auf europäischer Ebene wieder[zu]begründen“ (</nowiki>''Zimmermann'') wird vor allem ''Savignys'' Forderung nach gründlicher historischer Forschung als Voraussetzung richtiger Rechtsanwendung und Gesetzgebung aufgenommen und die Erkenntnis ins Gedächtnis gerufen, dass ein Eingriff in die Rechtsentwicklung – etwa durch den Erlass eines Europäischen Zivilgesetzbuches – ohne derartige Vorarbeiten die Rechtsentwicklung nachhaltig stören kann. Hingegen ist eine Anknüpfung an die Vorstellung, dass sich aus dem historischen Rechtsstoff „leitende Grundsätze“ ableiten lassen, die eine unmittelbare Deduktion neuer Rechtsregeln ermöglichen, wohl nicht beabsichtigt. ''Zimmermann'' spricht lediglich davon, dass eine an ''Savigny'' orientierte historisch und vergleichend ausgerichtete gemeineuropäische Rechtswissenschaft die „Erörterung juristischer Probleme“ und die „vergleichende Würdigung möglicher Lösungen“ über nationale Grenzen hinweg ermöglichen kann. Auf die weiterhin aktuelle Frage, wie weit die „Herrschaft der Vergangenheit“ im Recht reicht und reichen sollte, ist damit eine abschließende Antwort nicht gegeben.


==Literatur==
==Literatur==
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''Milton R. Konvitz'','' ''Historical School of Jurisprudence, in: Encyclopedia of Philosophy, Bde.&nbsp;III/‌IV, 1967, Neudruck 1972, 21&nbsp;ff.; ''Horst Heinrich Jakobs'', Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht, 1983;'' Horst Heinrich Jakobs'', Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1992;'' Matthias Reimann'', Historische Schule und Common Law, 1993;'' Dieter Nörr'', Savignys philosophische Lehrjahre, 1994;'' Alfons Bürge'','' ''Das französische Privatrecht im 19.&nbsp;Jahrhundert, 2.&nbsp;Aufl. 1995, 150&nbsp;ff.; ''Reinhard Zimmermann'', Savignys Vermächtnis, 1998; ''Ulrich Falk'', Ein Gelehrter wie Windscheid, 2.&nbsp;Aufl. 1999; ''Hans-Peter Haferkamp'', Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, 2004; ''Filippo Ranieri'','' ''Savigny e il dibatitto italiano sulla codificazione nell’età del Risorgimento, in: idem (Hg.), Das Europäische Privatrecht des 19. und 20.&nbsp;Jahrhunderts, 2007, 15&nbsp;ff. (weitere einschlägige Beiträge in demselben Band).
 
==Quellen==
''Friedrich Carl v. Savigny'', Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hg. von Aldo Mazzacane, 1993; ''idem'', Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, ND in: Hans Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, 2. Aufl., 2002; ''idem'', Über den Zweck dieser Zeitschrift, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 1 (1815) 1&nbsp;ff.; ''idem'', System des heutigen römischen Rechts, Bd.&nbsp;I, 1840; ''Bernhard Windscheid'', Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, in: ''idem'', Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, 66&nbsp;ff.


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Version vom 28. September 2021, 17:24 Uhr

von Thomas Rüfner

1. Recht und Geschichte

Das Verhältnis zur Historie ist ein Grundproblem der juristischen Wissenschaft. Die Quellen des Rechts sind im Moment der Rechtsanwendung immer schon Texte aus einer vergangenen Zeit. Zwischen Gesetzestexten, die vor Jahrtausenden entstanden sind, und solchen aus neuerer und neuester Zeit besteht dabei letztlich nur ein gradueller Unterschied. Für jeden Rechtsanwender stellt sich daher die Frage, inwieweit er die Bedeutung einer Rechtsquelle in ihrem ursprünglichen historischen Kontext ermitteln kann und muss und inwieweit er frei ist, dem überlieferten Text für die Gegenwart eine neue Bedeutung zu geben.

Bei diesem Dilemma setzte die Historische Rechtschule an. Für ihre Exponenten erfordert die Beantwortung jeder Rechtsfrage zwingend die Auseinandersetzung mit den historischen Ursprüngen der anwendbaren Rechtsnormen. Hinsichtlich der Möglichkeit, die Bedeutung historischer Texte zu verstehen und daraus Folgerungen für die Gegenwart zu ziehen, ist die Historische Rechtsschule optimistisch. Zugleich hält sie es für ausgeschlossen, von der Geschichte abzusehen. Selbst wer sich einbildet, die Rechtsordnung für die Gegenwart ganz neu zu erfinden, reagiert auf die historisch gewachsenen Rahmenbedingungen, die er vorfindet und ist insofern von der Geschichte beeinflusst.

Die Historische Rechtsschule entstand in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurde bald zur dominierenden wissenschaftlichen Richtung in Deutschland. Sie übte auch auf die Jurisprudenz in anderen Ländern großen Einfluss aus. Wegen dieses Erfolgs ist das Gedankengut der Historischen Rechtsschule seinerseits von historischer Bedeutung. Die deutsche Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist geprägt von den Ideen der Historischen Rechtsschule; ihre Lehren sind nur vor dem Hintergrund dieser Ideen verständlich. An der Historischen Rechtsschule besteht aber nicht nur ein antiquarisches Interesse. Die Frage nach dem Verhältnis der „Vergangenheit zur Gegenwart“ (Friedrich Carl von Savigny) oder nach der Bedeutung der historischen Grundlagen für die Fortentwicklung des Rechts in der Zukunft ist nach wie vor aktuell, und es fehlt nicht an Versuchen, das Denken der Historischen Rechtsschule für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

2. Savigny und das Programm der Historischen Rechtsschule

Das Forschungs- und Methodenprogramm der Historischen Rechtsschule wird im Folgenden im Wesentlichen anhand der Schriften Savignys (1779–1861) referiert. Damit soll die Bedeutung anderer Rechtslehrer nicht herabgewürdigt werden. Die Lehre Savignys nahm in wichtigen Punkten Gedanken auf, die schon Gustav Hugo (1764–1844) entwickelt hatte. Georg Friedrich Puchta (1798–1864) entwickelte Savignys Lehre der Rechtsentstehung weiter. Dessen ungeachtet ist nicht zu bezweifeln, dass die Ideen der Historischen Rechtsschule vor allem in der Gestalt wirksam wurden, die ihnen Savigny in seinen schwungvollen Programmschriften gab.

Erstmals formulierte Savigny seine Theorie und Methodenlehre, die er schon ab 1802 in Vorlesungen vorgetragen hatte, in der bekannten Streitschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ von 1814. Eine knappe Fassung seiner Grundgedanken ist in dem ein Jahr später publizierten Aufsatz „Über den Zweck dieser Zeitschrift“ enthalten, mit der Savigny die von ihm gemeinsam mit den gleichgesinnten Kollegen Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854) und Johann Friedrich Ludwig Göschen (1778–1837) herausgegebene „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ einleitete. Ausführlich legte Savigny seine Ideen im ersten Band seines Hauptwerks „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840 dar.

a) Die „Herrschaft der Vergangenheit“

Der Grundgedanke Savignys kommt in dem Satz zum Ausdruck, für die Historische Rechtsschule sei „der Stoff des Rechts … durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben“. Damit bringt Savigny nicht nur die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass das jeweils geltende Recht das Produkt einer historischen Entwicklung ist, sondern auch, dass ein Bruch mit der Geschichte, die Neuerfindung des Rechts unter Absehen von den historischen Vorläufern, nicht möglich ist. Die Begründung liegt für Savigny darin, dass „die Richtung der Gedanken, die Fragen und Aufgaben … auch da noch durch den vorhergehenden Zustand bestimmt“ werden, wo neues Recht gesetzt wurde. Für den Gesetzgeber ist es unmöglich, ein neues Rechtsystem zu schaffen, ohne sich auf den vorherigen Rechtszustand wenigstens dadurch zu beziehen, dass er ihn negiert. Für den Rechtsanwender ist es ebenso unmöglich, sich von den Problemen und Fragestellungen der Vergangenheit vollständig zu lösen.

Weil der Bruch mit der Geschichte unmöglich und die „Herrschaft der Vergangenheit“ unumgänglich ist, kommt es für Savigny darauf an, die Abhängigkeit des Rechts von der Geschichte anzunehmen und die Rechtswissenschaft als geschichtliche Wissenschaft zu betreiben. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, „den gegebenen Stoff zu durchschauen, zu verjüngen und frisch zu erhalten“. Auf der Basis historischen Verständnisses soll es möglich sein, dass Recht nicht nur zu verstehen, sondern es auch organisch, das heißt, im Einklang mit seinen inneren Gesetzmäßigkeiten fortzuentwickeln.

Den Ursprung dieser inneren Gesetzmäßigkeiten sieht Savigny im Volksgeist, der das Recht hervorbringt. In einem ursprünglichen Entwicklungszustand bringt das Volk als Ganzes das Recht hervor – nicht durch Gesetzgebung, sondern durch die allmähliche Herausbildung von Rechtsgewohnheiten. Auf einer höheren Entwicklungsstufe wird die Fortbildung des Rechts zur Sache von Spezialisten. Der Volksgeist wirkt nun durch die wissenschaftliche Tätigkeit der Juristen, die das Recht systematisch darstellen, aber auch neue Regeln entwickeln und als überholt erkannte Normen, „abgestorbenen Rechtsstoff“, ausscheiden. Die Juristen werden so gewissermaßen zu Volksvertretern, sie sind der Stand, „der in diesem Kreise des Denkens die Gesammtheit vertritt“. Die Aufgabe, in dieser Weise an der Fortentwicklung des Rechts mitzuwirken, fällt akademisch-theoretisch arbeitenden Juristen und Praktikern in gleicher Weise zu. Auch die juristische Praxis ist für Savigny wissenschaftliche Tätigkeit.

b) Geschichtliche Methode und Begriffsjurisprudenz

Zur Frage, welche juristische Methode die Erkenntnis und Fortbildung des Rechts im Einklang mit dem Volksgeist ermöglicht, äußert sich Savigny in seinen Programmschriften nicht präzise. Im „Beruf“ spricht er von der Notwendigkeit, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so sein organisches Princip zu entdecken“. Dieses „organische Princip“ ist mit den „leitenden Grundsätzen“ zu identifizieren, aus denen sich die einzelnen Rechtsregeln mit mathematischer Sicherheit ergeben und deren Beherrschung nach Savigny für die römischen Juristen der klassischen Zeit charakteristisch ist. Im „System“ konkretisiert Savigny seine Überlegungen insofern, als er die Betrachtung von Rechtsinstituten in den Vordergrund stellt. Eine genaue Erklärung für den Weg, auf dem sich das „organische Princip“ oder die „leitenden Grundsätze“ aus dem gegebenen Rechtsstoff oder der Anschauung eines Rechtsinstituts herausdestillieren lassen sollten, gibt Savigny nicht.

Spätere Anhänger der Historischen Rechtsschule, vor allem Rudolf von Jhering (1818–1892) in seinen frühen Werken, versuchten, den Vorgang der Entwicklung neuer Rechtsätze aus dem historischen Rechtsstoff näher zu erläutern. Für Jhering war die Bildung von Begriffen, die das Wesen eines Rechtsinstituts richtig erfassen, der entscheidende Schritt. Nach Jhering bieten die so gebildeten Begriffe die „Möglichkeit einer Vermehrung des Rechts von innen heraus“. Durch Kombination der aus dem Rechtsstoff gewonnenen Begriffe sollen sich „neue Begriffe und Rechtssätze bilden“ lassen. Es ist vor allem diese Betonung begrifflicher Deduktionen, die der deutschen Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den (später von Jhering selbst in Abkehr von seinen früheren Überzeugungen erhobenen) Vorwurf eingetragen hat, sie sei eine lebensfremde Begriffsjurisprudenz. Inwieweit dieser Vorwurf auch Zeitgenossen Jherings und bereits Puchta, den Jhering (vor seier Abkehr von der begrifflichen Methode) als sein Vorbild nannte, oder gar Savigny selbst trifft, ist strittig.

c) Geschichtliches Recht und Naturrecht

Aus Savignys Auffassung des Rechts als Produkt einer historischen Entwicklung folgt unmittelbar seine Ablehnung der juristischen Methodik des Naturrechts und des usus modernus. Das Naturrecht ging davon aus, dass sich das Recht aus vernünftigen Prinzipien ableiten ließ. Für Savigny war die Neuerrichtung einer Rechtsordnung ohne Rücksicht auf den gewachsenen Normbestand unmöglich und jeder Versuch zu einem solchen Bruch mit der Vergangenheit eine Störung der organischen Fortentwicklung des Rechts. Den usus modernus musste er wegen der synkretistischen Verwendung von Elementen der römischen und der deutschen Rechtstradition ohne Berücksichtigung der historischen Herkunft ablehnen. In der Ablehnung dieser beiden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dominierenden wissenschaftlichen Richtungen knüpfte Savigny an Gustav Hugo an.

Savigny missbilligte indes nicht nur die Methoden der Rechtswissenschaft in der Zeit, die seiner eigenen Epoche unmittelbar voranging, sondern berücksichtigte auch deren Resultate in seinen dogmatischen Schriften kaum. Vielmehr griffen er und seine Schüler unmittelbar auf das römische Recht der Antike zurück. Damit verletzte Savigny selbst schon die Forderung nach einer umfassenden Erforschung der gesamten Rechtsentwicklung als Grundlage der Rechtswissenschaft.

d) Wissenschaft und Gesetzgebung

Auch die Ablehnung der Kodifikationsidee in der Auseinandersetzung mit Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840) ist unmittelbare Konsequenz von Savgnys Vorstellungen von der Entstehung des Rechts. Eine Kodifikation ohne zureichende Kenntnis der gesamten geschichtlichen Entwicklung stellte in den Augen Savignys einen Eingriff in die Rechtsentwicklung dar, der die gedeihliche Fortentwicklung der Rechtsordnung nur stören konnte. Da er die Voraussetzung einer vollständigen Durchdringung des historischen Rechtsstoffs als nicht gegeben ansah, sprach er seiner Zeit die Fähigkeit zu einer brauchbaren Kodifikation des Rechts ab. Er machte auch deutlich, dass er die künftige Verwirklichung dieses Ziels kaum für möglich hielt. Gleichwohl waren Anhänger der Historischen Rechtsschule wie Bernhard Windscheid (1817–1892) am Ende des 19. Jahrhunderts der Auffassung, die Zeit sei reif, um im Einklang mit Savignys Lehren die Kodifikation in Angriff nehmen zu können.

Obwohl er der umfassenden Kodifikation des Rechts strikt ablehnend gegenüber stand, lehnte Savigny nicht jedes Eingreifen des Gesetzgebers ab. Vielmehr wies er der Gesetzgebung durchaus eine wichtige Rolle zu. Der Gesetzgeber soll aus Savignys Sicht immer dann tätig werden, wenn eine Regelung erforderlich ist, deren genauer Inhalt nicht durch Sachgesichtspunkte, sondern nur durch eine autoritative Entscheidung festgelegt werden kann, also etwa bei der Festlegung von Verjährungs- und anderen Fristen. Savigny sieht den Gesetzgeber aber auch zu einer über solche technischen Festlegungen hinausgehenden Fortbildung des Rechts und zur Angleichung geltender Normen an gewandelte Umstände befugt. Voraussetzung für eine gelungene Gesetzgebung ist nur, dass dem Gesetzgeber „die vollständige Anschauung des organischen Rechtsinstituts“ vor Augen steht, auf das sich seine Regelung bezieht. Der Gesetzgeber muss also wie der praktisch oder akademisch tätige Jurist durch umfassende historische Studien über die Materie informiert sein, in die er eingreift.

3. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Die Ideen, von denen die Exponenten der Historischen Rechtsschule sich leiten ließen, stehen im Zusammenhang mit den allgemeinen geistigen Strömungen in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch ohne nähere Erörterung der Frage, welchen Anteil einzelne Philosophen (Kant, Hegel, Fichte, Schelling, Herder) an der Entwicklung von Savignys Vorstellungen über Recht und Geschichte hatten, lässt sich festhalten, dass Savigny von der Philosophie des deutschen Idealismus und vom Geschichtsdenken der Romantik beeinflusst war. Mit dem Kreis der Romantiker war er auch persönlich durch seine Ehe mit Kunigunde Brentano, einer Schwester von Clemens Brentano und Bettina von Arnim, verbunden.

Die Historische Rechtsschule steht außerdem im Zusammenhang mit den Historischen Schulen anderer Disziplinen, die gleichfalls die herausragende Bedeutung geschichtlicher Studien als Erkenntnismittel betonten. Zu nennen sind etwa die Historische Schule der Wirtschaftswissenschaften, die in unterschiedlichen Ausprägungen in Deutschland, England und Frankreich existierte, und die historische Richtung in der deutschen Philologie. Für letztere waren die Brüder Jakob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) von großer Bedeutung, die als Juristen und Philologen arbeiteten und Schüler Savignys waren. In dem gleichen Zusammenhang steht auch die gleichfalls als Historische Schule bezeichnete Strömung der deutschen Geschichtswissenschaft, zu der Historiker wie Leopold von Ranke (1795–1886), Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Theodor Mommsen (1817–1903) gezählt werden.

4. Weitere Entwicklung in Deutschland

Nahezu alle bedeutenden deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts verstanden sich als Anhänger der Historischen Rechtschule und Schüler Savignys. Allerdings trat schon vor der Mitte des Jahrhunderts eine Spaltung in eine germanistische und eine romanistische Richtung ein. Dem Streit lag die Frage zugrunde, welche Traditionsstränge im Mittelpunkt des historischen Forschungsprojekts stehen sollten. Savigny selbst sah die Rezeption des römischen Rechts als Teil der deutschen Rechtsentwicklung. Da er die Ergebnisse der gemeinrechtlichen Wissenschaft als Früchte einer ungeschichtlichen Herangehensweise zu großen Teilen verwarf, stellte er das antike römische Recht sogar in den Mittelpunkt seiner Forschungen. Die Tendenz zum unmittelbaren Rückgriff auf die antiken römischen Quellen war bei späteren romanistischen Anhängern der Historischen Schule noch stärker. Die auf das rezipierte römische Recht und seine Anwendung spezialisierten Juristen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden daher als Pandektisten, die wissenschaftliche Richtung als Pandektistik (Pandektensystem) bezeichnetet, obgleich sich die heute als Pandektisten bezeichneten Rechtsgelehrten selbst als Anhänger und Fortführer der Historischen Schule verstanden.

Demgegenüber verstanden Germanisten wie Georg Beseler (1809–1888) – wie es an sich auf der Grundlage von Savignys Vorstellungen nahe lag – die Rezeption als Störung der organischen Fortentwicklung des deutschen Rechts. Beseler lehnte auch Savignys Vorstellung ab, dass der Juristenstand die Aufgabe der Rechtsbildung stellvertretend für das Gesamtvolk wahrnehmen könnte und sah statt der Befassung mit dem römischen Juristenrecht die Erforschung der Quellen des deutschen Volksrechts als das Gebot der Zeit.

Da überall in Deutschland das rezipierte römische Recht oder auf dem römisch-gemeinen Recht aufbauende Kodifikationen in Kraft waren, blieb der Einfluss der romanistisch-pandektistischen Schule in der Praxis dominierend.

5. Wirkungen außerhalb Deutschlands

Der Erfolg der Lehre Savignys und der Historischen Rechtsschule war nicht auf Deutschland beschränkt. In Österreich verbreitete vor allem Joseph Unger (1828–1913) die Ideen der Historischen Rechtsschule. Sein Vorhaben, Rechtslehre und Praxis in Österreich im Sinne der Historischen Rechtsschule umzugestalten, wurde durch den Unterrichtsminister Leo von Thun-Hohenstein (1811–1888) gefördert, der sich von der als konservativ empfundenen Historischen Rechtsschule ein Gegenmittel gegen liberale Bestrebungen unter den Rechtstudenten erhoffte. Ungers Vorstoß verdrängte die bis dahin in Österreich dominierende „exegetische Schule“, die sich auf die Auslegung des ABGB ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge konzentrierte. Ähnlich wie in Österreich war in Frankreich nach dem Erlass des Code civil zunächst die allein auf die Auslegung des neuen Gesetzes fixierte École de l’exégèse herrschend. Doch gab es eine erhebliche Zahl von Juristen, die Savignys Programm auch in Frankreich zu verwirklichen suchten und mit ihrer Kritik an der Sterilität der école de l’exégèse auf eine Veränderung der Methoden hinwirkten. Die Bemühungen seiner französischen Anhänger wurden von Savigny gezielt unterstützt. Auch in Italien gab es Anhänger der Historische Schule; Savignys Ideen spielten in den Debatten um eine Kodifikation des Zivilrechts in einzelnen Staaten vor der italienischen Einigung eine Rolle.

Savigny und die Historische Rechtsschule übten über den von der gemeinsamen Tradition des ius commune geprägten europäischen Kontinent hinaus auch in England und den USA erheblichen Einfluss aus. Schon 1848 wurde an den Londoner Inns of Court Vorlesungen gehalten, die maßgeblich von den Schriften Savignys beeinflusst waren. Dem Denken der deutschen Historischen Schule stand insbesondere Henry James Sumner Maine (1822–1888) nahe, der in seinem Hauptwerk „Ancient Law“ von 1861 ein Modell der Evolution des Rechts in der Gesellschaft entwarf, das zugleich an Savignys Vorstellungen anknüpfte und die moderne Rechtssoziologie vorbereitete. Auch die Väter der englischen Rechtsgeschichte, Frederic W. Maitland (1850–1905) und Frederick Pollock (1845–1937) waren vom Denken der Historischen Schule beeinflusst.

6. Savignys Vermächtnis

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor die Vorstellung einer geschichtlichen Rechtswissenschaft an Anziehungskraft. Freirechtsschule, legal realism und Interessenjurisprudenz kritisierten vor allem die begriffliche Orientierung der Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sahen in den Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung nicht mehr den bestimmenden Faktor der Rechtsfortbildung.

In neuerer Zeit gibt es jedoch zahlreiche Ansätze, an das Programm der Historischen Rechtsschule anzuknüpfen. Dies geschieht insbesondere mit Blick auf die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts. Vor allem Reinhard Zimmermann will Savignys Forschungsprogramm für den Prozess der Herausbildung einer einheitlichen europäischen Zivilrechtsordnung fruchtbar machen. Demnach könnte eine gemeinsame europäische Privatrechtsordnung dadurch entstehen, dass sich die Rechtswissenschaft in historischer und rechtsvergleichender Arbeit die bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Rechtsordnungen bewusst macht und auf eine Vertiefung dieser Gemeinsamkeiten hinarbeitet.

Mit der Idee, „Savignys Historische Rechtsschule auf europäischer Ebene wieder[zu]begründen“ (Zimmermann) wird vor allem Savignys Forderung nach gründlicher historischer Forschung als Voraussetzung richtiger Rechtsanwendung und Gesetzgebung aufgenommen und die Erkenntnis ins Gedächtnis gerufen, dass ein Eingriff in die Rechtsentwicklung – etwa durch den Erlass eines Europäischen Zivilgesetzbuches – ohne derartige Vorarbeiten die Rechtsentwicklung nachhaltig stören kann. Hingegen ist eine Anknüpfung an die Vorstellung, dass sich aus dem historischen Rechtsstoff „leitende Grundsätze“ ableiten lassen, die eine unmittelbare Deduktion neuer Rechtsregeln ermöglichen, wohl nicht beabsichtigt. Zimmermann spricht lediglich davon, dass eine an Savigny orientierte historisch und vergleichend ausgerichtete gemeineuropäische Rechtswissenschaft die „Erörterung juristischer Probleme“ und die „vergleichende Würdigung möglicher Lösungen“ über nationale Grenzen hinweg ermöglichen kann. Auf die weiterhin aktuelle Frage, wie weit die „Herrschaft der Vergangenheit“ im Recht reicht und reichen sollte, ist damit eine abschließende Antwort nicht gegeben.

Literatur

Milton R. Konvitz, Historical School of Jurisprudence, in: Encyclopedia of Philosophy, Bde. III/‌IV, 1967, Neudruck 1972, 21 ff.; Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht, 1983; Horst Heinrich Jakobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1992; Matthias Reimann, Historische Schule und Common Law, 1993; Dieter Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre, 1994; Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1995, 150 ff.; Reinhard Zimmermann, Savignys Vermächtnis, 1998; Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 2. Aufl. 1999; Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, 2004; Filippo Ranieri, Savigny e il dibatitto italiano sulla codificazione nell’età del Risorgimento, in: idem (Hg.), Das Europäische Privatrecht des 19. und 20. Jahrhunderts, 2007, 15 ff. (weitere einschlägige Beiträge in demselben Band).

Quellen

Friedrich Carl v. Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hg. von Aldo Mazzacane, 1993; idem, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, ND in: Hans Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, 2. Aufl., 2002; idem, Über den Zweck dieser Zeitschrift, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 1 (1815) 1 ff.; idem, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840; Bernhard Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, in: idem, Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, 66 ff.