Geschäftspraktiken, aggressive und Geschäftspraktiken, irreführende: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Ansgar Ohly]]''
von ''[[Olaf Sosnitza]]''
== 1. Gegenstand, Begriff und Regelungszweck ==
== 1. Begriffsbestimmung ==


Der Verbraucher kann seine Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er auf der Grundlage zutreffender Information frei entscheiden kann. Ein Lauterkeitsrecht, das die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft sichert, ist damit aufgerufen, die Grundlagen und die Freiheit der rationalen Verbraucherentscheidung zu schützen. Dem Schutz der Entscheidungsgrundlage dient das Verbot irreführender Geschäftspraktiken, dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken. Letzteres bildet zugleich den Flankenschutz für diejenigen Bestimmungen des Vertragsrechts, die einem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag im Fall der Drohung oder der unzulässigen Beeinflussung (''undue influence'') erlauben oder ihm für bestimmte Geschäftssituationen wie Haustürgeschäfte oder Fernabsatzverträge ein [[Widerrufsrecht]] zubilligen.
Bei irreführenden Geschäftspraktiken bzw. bei der irreführenden Werbung handelt es sich um ein Element [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)|unlauteren Wettbewerbs]]. Eine Definition des Begriffes der irreführenden Werbung findet sich in Art. 2(b) der Irreführungs-RL (RL 2006/‌114). Um eine irreführende Werbung handelt es sich danach bei jeder Werbung, „die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist“. „Werbung“ ist gemäß Art 2(a) der Irreführungs-RL „jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern“.


<nowiki>Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers durch Belästigung, Nötigung oder unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigt und den Verbraucher dadurch zu einer Entscheidung veranlasst, die er andernfalls nicht getroffen hätte (Art.&nbsp;8 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [UGP-RL, RL&nbsp;2005/‌ 29]). Die aggressive Werbung wirkt also gerade auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ein und unterscheidet sich so von der bloß belästigenden Werbung, etwa der unerwünschten Telefon- oder E-Mail-Werbung.</nowiki>
In der Unlautere Geschäftspraktiken-RL (RL 2005/‌29, UGP-RL) wird der allgemeine Begriff der „irreführenden Geschäftspraxis“ verwendet, wobei dieser nach Art.&nbsp;2(d) UGP-RL auch die Werbung einschließt. Gemäß Art.&nbsp;6(1) UGP-RL gilt eine Geschäftspraxis als irreführend, wenn sie falsche Angaben enthält und somit unwahr ist oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf bestimmte Punkte, welche in der [[Richtlinie]] abschließend aufgezählt werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte.


== 2. Rechtsentwicklung ==
== 2. Rechtsentwicklung ==


Vor Erlass der UGP-RL unterschied sich der Schutz gegen aggressive Werbung in den Mitgliedstaaten so deutlich wie das Lauterkeitsrecht insgesamt ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Das frühere deutsche Recht verbot die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit unter §&nbsp;1 UWG a.F. recht weitgehend durch die Fallgruppe des „Kundenfangs“, teils auch durch diejenige der belästigenden Werbung. Für das französische Recht war ein derartiges allgemeines Verbot nicht ersichtlich, doch waren potentiell die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigende Geschäftspraktiken wie Zugaben, Kopplungsangebote und Gewinnspiele restriktiven Regelungen unterworfen. Das englische Recht ermöglicht zwar einer Vertragspartei im Fall der ''[[undue influence]]'' die Lösung vom Vertrag, schützte Verbraucher hingegen nicht im Vorfeld des Vertragsschlusses gegen unangemessene Beeinflussung. Lediglich die Kodices der freiwilligen Selbstkontrolle enthielten entsprechende Verbote.
Auf der Revisionskonferenz in Lissabon im Jahr 1958 wurde in Art.&nbsp;10<sup>bis</sup> der PVÜ, der die Verbandsländer zum wirksamen Schutz gegen [[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)|unlauteren Wettbewerb]] verpflichtet, in Abs.&nbsp;3 Nr.&nbsp;3 die Irreführung als Beispieltatbestand unlauteren Wettbewerbs eingefügt. Zu untersagen sind demnach „Angaben oder Behauptungen, deren Verwendung im geschäftlichen Verkehr geeignet ist, das Publikum über die Beschaffenheit, die Art der Herstellung, die wesentlichen Eigenschaften, die Brauchbarkeit oder die Menge der Waren irrezuführen“. Art.&nbsp;10<sup>bis</sup> PVÜ bildete auch die Grundlage für die Modellvorschriften der ''[[World Intellectual Property Organization]]'' zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 1996, welche in Art.&nbsp;4 ebenfalls die Unlauterkeit der Irreführung regeln.


Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zielt nunmehr auf eine vollständige Harmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (unlauterer Wettbewerb). Die Richtlinie führt im Rahmen der Generalklausel des Art.&nbsp;5 aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel unlauterer Geschäftspraktiken auf (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL). Der Begriff der aggressiven Geschäftspraxis wird in Art.&nbsp;8, 9 UGP-RL definiert. Diese ihrerseits noch generalklauselartige Definition wird durch acht Beispielsfälle der „schwarzen Liste“ konkretisiert.
Die Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union führten zum Erlass der ursprünglichen Irreführungs-RL (RL&nbsp;84/‌450). Die ursprüngliche Irreführungsrichtlinie wurde später durch Einbeziehung der vergleichenden Werbung durch die RL&nbsp;97/‌55 modifiziert und schließlich in der RL&nbsp;2006/‌114 neu kodifiziert. Ursprünglich galt die Irreführungsrichtlinie sowohl für die Irreführung von Gewerbetreibenden als auch von Verbrauchern ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Nunmehr gilt für irreführende Geschäftspraktiken im Verhältnis von Unternehmen zu Verbrauchern (b2c) ausschließlich die UGP-RL (vgl. Art.&nbsp;3(1) UGP-RL).


Damit gilt für das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken nunmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Standard, den die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Übergangsvorschrift des Art.&nbsp;3(5) UGP-RL weder über- noch unterschreiten dürfen. Allerdings ist die Harmonisierungswirkung der Richtlinie in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Erstens sind die normativen Vorgaben für aggressive Werbung wegen der generalklauselartigen Formulierung des Art.&nbsp;8 UGP-RL und wegen der begrenzten praktischen Relevanz einiger Tatbestände der „schwarzen Liste“ noch sehr unbestimmt. Erst die künftige Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] wird den Begriff der „aggressiven“ <nowiki>Praxis konkretisieren. Zweitens bleiben die Mitgliedstaaten befugt, über die Richtlinie hinaus Geschäftspraktiken aus Gründen der „guten Sitten und des Anstandes“ zu verbieten (Erwägungsgrund&nbsp;7). Damit behalten die Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, belästigende Praktiken wie das Ansprechen von Verbrauchern auf der Straße (ausdrücklich in Erwägungsgrund&nbsp;7 genannt), die Telefonwerbung (Regelung freigestellt durch Art.&nbsp;13 der E-Datenschutz-RL [RL&nbsp;2002/‌58]) oder Hausbesuche von Vertretern auch dann zu verbieten, wenn die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird (so etwa §&nbsp;7 des dt. UWG). Drittens überlässt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den Mitgliedstaaten die Wahl des Instrumentariums zur Durchsetzung der Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken.</nowiki>
Das Verbot der irreführenden Werbung dient sowohl dem Schutz der Verbraucher als auch der Gewerbetreibenden, wobei letztere nicht nur im Vertikalverhältnis als angesprochener Verkehrskreis der Marktgegenseite, sondern auch im Horizontalverhältnis als Mitbewerber vor den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen irreführender Werbung geschützt werden sollen. Zugleich dient das Irreführungsverbot damit auch dem Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. Die ''verschiedenen Schutzzwecke'' sind insbesondere im sekundären Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund des Anwendungsbereichs der einschlägigen Richtlinien von Bedeutung, da durch die Irreführungs-RL nur noch Gewerbetreibende vor Irreführung geschützt werden (b2b), während der Verbraucherschutz durch die UGP-RL geregelt wird.


Dementsprechend unterschiedlich fällt die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten aus ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Im deutschen Recht bestand mit §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1 UWG bereits seit 2004 eine dem Art.&nbsp;8 UGP-RL vergleichbare Vorschrift, zusätzlich verbietet §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 UWG die Ausnutzung von Unerfahrenheit, Angst oder einer Zwangslage. Diese Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Damit besteht in Deutschland ein rein zivilrechtliches Umsetzungsmodell: Die aggressive Werbung kann von Mitbewerbern und Verbänden mit Abwehransprüchen bekämpft werden (§&nbsp;8 UWG), Mitbewerbern steht zudem ein Schadensersatzanspruch zu (§&nbsp;9 UWG) und Verbraucherverbände können Gewinnabschöpfung zugunsten der Staatskasse verlangen (§&nbsp;10 UWG). In Frankreich wurde Art.&nbsp;8 im ''Code de la consommation'' umgesetzt, ein Verstoß löst in erster Linie strafrechtliche Rechtfolgen aus. In mehreren Mitgliedstaaten, etwa in Italien, erhalten Wettbewerbsbehörden die Zuständigkeit, gegen aggressive Geschäftspraktiken vorzugehen. Ähnliches gilt für das britische Recht, wo aber zusätzlich der freiwilligen Werbeselbstkontrolle erhebliche Bedeutung zukommt.
Neben den allgemeinen Irreführungstatbeständen existieren im sekundären Gemeinschaftsrecht zahlreiche Spezialvorschriften zur Irreführung, z.B. die Kosmetik-RL (RL&nbsp;76/‌768) oder die Etikettierungs-RL (RL&nbsp;2000/‌13). Diese sektoral begrenzten Regelungen schließen eine Anwendung der allgemeinen Irreführungsbestimmungen jedoch nicht aus.


== 3. Regelungsgehalt und &#8209;struktur ==
== 3. Einzelausgestaltung ==


Der Schutz gegen aggressive Geschäftspraktiken in der UGP-RL ist dreistufig aufgebaut. Die Prüfung vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge, also vom Konkreten zum Allgemeinen.
Die UGP-RL enthält in Art.&nbsp;6(1) und (2) UGP-RL einen umfassenden Katalog von Verhaltensweisen, die irreführende Geschäftspraktiken darstellen. Hierzu gehören gemäß Art.&nbsp;6(1) UGP-RL Täuschungen über (a) das Vorhandensein oder die Art des Produkts, (b) seine wesentlichen Merkmale, (c) Vertriebspraktiken, (d) den Preis und Preisberechnung, (e) Leistungen und Zusatzleistungen, (f) die Person, die Eigenschaften oder die Rechte des Gewerbetreibenden oder seines Vertreters und (g) die Rechte des Verbrauchers oder die Risiken, denen er sich möglicherweise aussetzt. Zudem gelten gemäß Art.&nbsp;6(2) UGP-RL im Einzelfall Geschäftspraktiken als irreführend, wenn sie einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen oder zu veranlassen geeignet sind, die er ansonsten nicht getroffen hätte, und entweder eine Verwechslungsgefahr mit einem Konkurrenzprodukt, &#8209;warenzeichen, &#8209;namen oder anderem Kennzeichen begründen oder der Gewerbetreibende Verpflichtungen eines von ihm eingegangenen Verhaltenskodexes nicht einhält.


Auf der ersten Stufe verbietet die Generalklausel des Art.&nbsp;5(1) UGP-RL unlautere Geschäftspraktiken im Allgemeinen und nennt aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL).
In den Mitgliedstaaten der [[Europäische Union|Europäischen Union]] ist die irreführende Werbung in unterschiedlicher Form geregelt. Sowohl die Irreführungs-RL als auch die UGP-RL gewähren den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Sanktionierung der irreführenden Werbung einen Umsetzungsspielraum. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, „geeignete und wirksame Mittel zur Bekämpfung“ der irreführenden Werbung bzw. Geschäftspraktiken bereitzustellen (Art.&nbsp;5(1) Irreführungs-RL, Art.&nbsp;11(1) UGP-RL). Dabei steht es ihnen frei, Gerichte oder Verwaltungsbehörden mit der Rechtsdurchsetzung zu betrauen. Vielfach unterliegt die Sanktionierung irreführender Werbung den Zivil- und Strafgerichten der Mitgliedstaaten. In Deutschland beispielsweise enthalten die §§&nbsp;12&nbsp;ff. UWG Verfahrensvorschriften für die zivilgerichtliche Anspruchsdurchsetzung. §&nbsp;16 Abs.&nbsp;1 UWG regelt daneben die strafbare Irreführung, wobei die Strafverfolgungsbehörden auf Grundlage der Strafprozessordnung von Amts wegen tätig werden. In Großbritannien können Verbraucher aufgrund der in Umsetzung der UGP-RL erlassenen ''Consumer Protection from Unfair Trading Regulations 2008'' die Sanktionierung von irreführender Werbung auf strafrechtlicher Ebene durch das ''Office of Fair Trading'' veranlassen. Mitbewerber können sowohl die strafrechtliche Verfolgung (aufgrund der ''Business Protection from Misleading Marketing Regulations 2008'') durch das ''Office of Fair Trading'' herbeiführen als auch zivilrechtlich gegen irreführende Werbung vorgehen. Zudem wurde durch den ''British Code of Advertising'','' Sales Promotion and Direct Marketing'' ein leistungsfähiges System der Selbstkontrolle installiert. In Italien obliegt der Schutz vor irreführender Werbung einer staatlichen Verwaltungsbehörde (Wettbewerbsbehörde), der ''Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato''. In Finnland werden Wettbewerbsverstöße gegenüber Verbrauchern vom ''Konsumentenombudsmann ''verfolgt; Gewerbetreibende sind auf Privatklagen vor dem ''Marktordnungsgericht'' angewiesen.


Die zweite Stufe bildet das generalklauselartig formulierte Verbot aggressiver Geschäftspraktiken in Art.&nbsp;8 UGP-RL, der drei Voraussetzungen enthält. (i) Es muss eine Geschäftspraxis im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern im Sinne des Art.&nbsp;2 (d)UGP-RL, also eine Handlung vorliegen, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts zusammenhängt. Aggressive Praktiken gegenüber Unternehmen werden durch die Richtlinie nicht erfasst, insoweit verbleibt den Mitgliedstaaten bisher eigener Regelungsspielraum. (ii) Als Mittel der Einwirkung nennt Art.&nbsp;8 UGP-RL die Belästigung, die Nötigung und die unzulässige Beeinflussung. Letztere wird in Art.&nbsp;2(j) UGP-RL definiert als „Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung körperlicher Gewalt, in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“. Der Unternehmer muss also aufgrund seiner Überlegenheit beim Verbraucher den Eindruck erwecken, dieser erleide einen empfindlichen Nachteil, wenn er sich auf den Willen des Unternehmers nicht einlässt. ''Helmut Köhler'' und ''Tobias Lettl'' unterscheiden zwischen einer strukturbedingten Machtposition, die sich aus einer familiären, sozialen, wirtschaftlichen, verbandsmäßigen oder intellektuellen Überlegenheit des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher ergibt, und einer situationsbedingten Machtposition, bei der sich der Unternehmer Besonderheiten der Situation (etwa die faktische Schwierigkeit, einen Vertreter aus der Wohnung zu weisen oder ein Ladengeschäft zu verlassen) zunutze macht. (iii) Die Belästigung oder Beeinflussung muss sich tatsächlich oder voraussichtlich auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers auswirken. Dabei ist das Verhalten eines Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, sofern sich die Geschäftspraxis nicht an besonders schutzwürdige Personenkreise richtet (Art.&nbsp;5(2), (3) UGP-RL).
Irreführende Werbung setzt das tatsächliche Eintreten einer Täuschung des Verkehrs nicht voraus. Es genügt vielmehr, dass eine Angabe geeignet ist, die angesprochenen Verkehrskreise irrezuführen. Voraussetzung der ''Täuschungseignung'' ist, dass die zu beurteilende Werbeangabe einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Reine Werturteile und bloße Werbeappelle können nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden und fallen somit nicht unter das Irreführungsverbot.


Auf der dritten Stufe konkretisiert die „schwarze Liste“ das Verbot aggressiver Praktiken und benennt Verhaltensweisen, die unter allen Umständen als unlauter gelten. Hierzu zählen das Erwecken des Eindrucks, der Verbraucher könne die Räumlichkeiten des Unternehmers ohne Vertragsschluss nicht verlassen (Nr&nbsp;24), die Weigerung eines Vertreters, die Wohnung des Verbrauchers zu verlassen (Nr.&nbsp;25), die hartnäckige und unerwünschte Telefon-, Fax- oder E-Mail-Werbung (Nr.&nbsp;26, schon die einmalige unerwünschte Werbung per Fax oder E-Mail ist nach Art.&nbsp;13 der E-Datenschutzrichtlinie verboten, zu den weitergehenden Möglichkeiten des nationalen Rechts s.o.), die Aufforderung des Verbrauchers zur Bezahlung unbestellt zugesandter Waren (Nr.&nbsp;29) und die falsche Gewinnmitteilung (Nr.&nbsp;31, die allerdings eher dem Irreführungsverbot zuzuordnen ist). Probleme bereitet die Auslegung der Nr.&nbsp;28, der zufolge direkte Aufforderungen an Kinder in der Werbung, die Produkte zu kaufen oder ihre Eltern zum Kauf zu überreden, als unlauter gelten. Umstritten ist vor allem, ob der Begriff „Kind“ auch Jugendliche ab dem 14.&nbsp;Lebensjahr umfasst und wann von einer „Aufforderung“ die Rede sein kann.
Bei der Frage, ob eine Werbung zur Täuschung geeignet und damit irreführend ist, kommt der Person des Umworbenen entscheidende Bedeutung zu. Der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] hat den Irreführungsbegriff durch Herausbildung eines ''normativen Verbraucherleitbildes'' – Rs.&nbsp;C-210/‌96 – ''Gut Springenheide'', Slg.&nbsp;1998, I-4681 und Rs.&nbsp;C-220/‌98 – ''Lifting-Creme'', Slg. 2000, I-117 – geprägt. Dieses Verbraucherleitbild wurde aus einer rechtsvergleichenden Betrachtung gewonnen, insbesondere unter Heranziehung der französischen und britischen Auslegung der Irreführungstatbestände. Der Bundesgerichtshof ging demgegenüber früher vom Leitbild des flüchtigen, unkritischen und oberflächlichen Verbrauchers aus; diese Auffassung hat die deutsche Rechtsprechung jedoch mittlerweile aufgegeben und sich dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Verbraucherleitbild angeschlossen.


Nicht ausdrücklich geregelt werden in der Richtlinie Maßnahmen der Verkaufsförderung wie Zugaben, Rabatte, Kopplungsangebote oder Gewinnspiele. Diese Praktiken waren früher in einigen europäischen Rechtsordnungen strikten Beschränkungen unterworfen und sind nach wie vor nicht uneingeschränkt erlaubt. Der Versuch der Kommission, diese Sachverhalte im Verordnungswege zu regeln, scheiterte; der Vorschlag für eine Verordnung über Verkaufsförderung'' ''im'' ''Binnenmarkt von 2001 wurde zurückgezogen. In der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fehlen weitgehend spezielle Bestimmungen, so dass in erster Linie die allgemeinen Verbote irreführender und aggressiver Praktiken greifen. Irreführend ist etwa die fälschliche Bezeichnung eines Angebots als „gratis“ (Nr.&nbsp;20 der „schwarzen Liste“), das Angebot von Wettbewerben oder Preisausschreiben, ohne dass die Preise vergeben werden (dort Nr.&nbsp;19) oder die falsche Gewinnmitteilung (dort Nr.&nbsp;31). Nicht geklärt ist auf Gemeinschaftsebene aber die Reichweite des Transparenzgebots, also die Frage, welche Informationen der Anbieter von Rabatten, Kopplungsangeboten und ähnlichen Gelegenheiten dem Verbraucher zur Verfügung stellen muss ([[Geschäftspraktiken, irreführende]]). Das Verbot der aggressiven Werbung spielt in diesem Zusammenhang nur noch eine sekundäre Rolle, weil vom Durchschnittsverbraucher regelmäßig erwartet werden kann, dass er in der Lage ist, die Vorteile einer Zugabe, eines Rabatts oder einer ähnlichen Maßnahme rational zu beurteilen. Etwas anderes kann für besonders schutzbedürftige Verbraucherkreise wie Jugendliche gelten (vgl. Art.&nbsp;5(3) UGP-RL und §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 des dt. UWG). Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Maßnahmen der Verkaufsförderung generell, also unabhängig von ihrer Irreführungseignung oder ihrem Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit verbieten, sind mit der UGP-RL nur dann vereinbar, wenn die Verbote ausdrücklich in der „schwarzen Liste“ genannt werden. Das belgische generelle Verbot von Kopplungsgeschäften hat der EuGH daher als mit der Richtlinie unvereinbar erklärt (EuGH verb. Rs. C-261/‌07 und C-299/‌07 – ''VTB-VAB/‌Total'', Medien und Recht 2009, 103). Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob §&nbsp;4 Nr.&nbsp;6 UWG, der eine Kopplung der Teilnahme an Preisausschreiben und Gewinnspielen an den Erwerb der Ware verbietet, mit Art.&nbsp;5(2) UGP-RL vereinbar ist (BGH 5.6.2008, GRUR 2008, 807). Es steht zu erwarten, dass der EuGH diese Frage verneinen wird.
Maßgeblich für die Beurteilung der Täuschungseignung einer Werbung ist die Sichtweise eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen'' Durchschnittsverbrauchers''. Gegenstand der Beurteilung ist das Verständnis eines fiktiven, typischen Verbrauchers von der Werbeangabe (vgl. Erwägungsgrund&nbsp;18 UGP-RL). Dabei handelt es sich um ein normatives Leitbild, denn entscheidend ist nicht das tatsächliche Verständnis des angesprochenen Verkehrs, sondern das von einer fiktiven Referenzperson zu erwartende Verständnis. Eine Werbung ist erst dann irreführend, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles (EuGH Rs.&nbsp;C-220/‌98 – ''Lifting-Creme'', Slg. 2000, I-117) zur Täuschung des Durchschnittsverbrauchers geeignet ist. Empirische Verbraucherbefragungen und daraus ermittelte Irreführungsquoten können auf Basis des normativen Verbraucherleitbildes nur eines von mehreren Kriterien sein, anhand derer die Täuschungseignung zu beurteilen ist. Tatsächliche Irreführungen oder Täuschungen (z.B. einzelner Minderheiten oder flüchtiger, uninteressierter Verbraucher) sind hinzunehmen, soweit ihnen die jeweilige Referenzperson nach Ansicht der zuständigen Gerichte oder Behörden nicht unterliegen würde. In diesem Bereich tritt der Irreführungsschutz im Rahmen einer ''Interessenabwägung'' hinter die [[Warenverkehrsfreiheit]] bzw. die [[Dienstleistungsfreiheit]] und das durch Art.&nbsp;10 EMRK gewährleistete Recht zur freien Meinungsäußerung der Werbenden zurück.


== 4. Bewertung und Ausblick ==
Bei der Prüfung der Irreführungsgefahr ist zunächst der ''angesprochene Verkehrskreis'' zu bestimmen. Dabei handelt es sich um die Personengruppe, an die sich die Werbung richtet und deren Verhalten sie beeinflussen soll. In einem zweiten Schritt ist nach der Vorstellung zu fragen, welche die Werbung bei einer Durchschnittsperson dieses Personenkreises hervorruft. Verfügt der angesprochene Verkehrskreis über spezielle Fähigkeiten oder Kenntnisse, so sind diese auch für das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers zu berücksichtigen. Gleiches gilt für etwaige soziale, sprachliche, kulturelle oder nationale Besonderheiten des Verkehrskreises. Zu beachten ist auch, dass die Aufmerksamkeit des Referenzverbrauchers in Abhängigkeit von den betroffenen Waren und Dienstleistungen variiert (EuGH Rs.&nbsp;C-342/‌97 – ''Lloyd'', Slg. 1999, I-3819). Einer Werbung für geringwertige Bedarfsgegenstände wird regelmäßig geringere Aufmerksamkeit zuteil als dies bei höherwertigen und teureren Waren bzw. Dienstleistungen der Fall ist. In einem weiteren Schritt muss die ''Übereinstimmung des ermittelten Verständnisses mit der Wirklichkeit'' überprüft werden. Sofern die Auffassung der Durchschnittsperson von der Realität abweicht, ist schließlich zu fragen, ob diese Irreführung ''relevant'' ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Fehlvorstellung auf Faktoren bezieht, die geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten der Empfänger der Werbebotschaft tatsächlich zu beeinflussen. Die Irreführung über Umstände, die für die Entscheidung der Abnehmer gänzlich irrelevant sind, ist daher unbeachtlich.


Der Schutz der Verbraucher vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit gehört zum Kernbestand des Lauterkeitsrechts. Während sich in der Vergangenheit in Europa liberale Rechtsordnungen wie das englische Recht und hochregulierte Rechtsordnungen wie das deutsche Recht diametral entgegengesetzt gegenüberstanden, stellt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein bedeutendes Zwischenergebnis in einem Konvergenzprozess dar, der schon in den späten 1990er Jahren begann. Allerdings ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass nationale Gerichte unterschiedlich darüber urteilen, wie aggressiv der Verbraucher umworben werden darf. Der Rechtsprechung des EuGH wird daher eine wesentliche Bedeutung bei der Konkretisierung des Begriffs „aggressive Geschäftspraxis“ zukommen. Außerdem werden sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen der divergierenden Durchsetzungs- und Sanktionssysteme auf absehbare Zeit unterscheiden.
Das Referenzverbraucherleitbild des EuGH wird in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt. Teilweise wird von einem generell flüchtigen, unterdurchschnittlichen Verbraucher ausgegangen, der der Werbung nahezu ohne eigene Sachkunde entgegentritt. Auf der anderen Seite wird in manchen Ländern auch auf das Verständnis eines höchst kritischen und skeptischen Verbrauchers mit umfassender eigener Sachkunde abgestellt. Zwischen diesen beiden Extrempositionen existieren weitere Verbraucherleitbilder, mit jeweils abgestuften Anforderungen an die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Durchschnittsverbrauchers.
 
Richtet sich die Werbung nicht an Verbraucher, sondern an Gewerbetreibende, so ist auf deren Sichtweise als angesprochener Verkehrskreis abzustellen, wobei auch hier ein dem Verbraucherleitbild entsprechendes normatives Unternehmerleitbild gilt. Allerdings kann bei Fachkreisen im Allgemeinen ein höherer Grad an Informiertheit, Aufmerksamkeit und Verständigkeit zu Grunde gelegt werden als beim Verbraucher, weil Vorbildung, Erfahrung und Kenntnis der Verhältnisse auf dem konkreten Markt den Gewerbetreibenden eine genauere Prüfung der an sie gerichteten Informationen ermöglichen und erleichtern.


==Literatur==
==Literatur==
''Helmut'' ''Köhler'', ''Tobias'' ''Lettl'', Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, Wettbewerb in Recht und Praxis 2003, 1019; ''Winfried Veelken'', Kundenfang gegenüber dem Verbraucher, Wettbewerb in Recht und Praxis 2004, 1; ''Manfred Hecker'', Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2006, 640; ''Peter Mankowski'', Wer ist ein „Kind“? Zum Begriff des Kindes in der deutschen und der europäischen black list, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, 1398; ''Anja Steinbeck'', Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 865; ''Sonja Fischer'', Schutz der Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Verkaufsförderung, 2008; ''Helmut Köhler'', Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 700; ''idem'', Beispiele unlauterer geschäftlicher Handlungen, §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1, 2 UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27.&nbsp;Aufl. 2009.
''Tobias Lettl'', Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irreführender Werbung in Europa, 2004; ''Christian'' ''Twigg-Flesner'', ''Deborah Parry'', ''Geraint Howells'', ''Annette Nordhausen'', An Analysis of the Application and Scope of the Unfair Commercial Practices Directive: A Report for the Department of Trade and Industry, 18 May 2005, veröffentlicht unter <nowiki>http://www.berr.gov.uk/‌files/‌file32095.pdf</nowiki> (zuletzt abgerufen am 7.7.2009); ''Giuseppe Abbamonte'','' ''The Unfair Commercial Practices Directive, Columbia Journal of European Law 2006, 695&nbsp;ff; ''Frauke Henning-Bodewig'', Unfair Competition Law. European Union and Member States, 2006;'' Geraint Howells'', ''Hans-Wolfgang Micklitz'', ''Thomas Wilhelmsson'', European Fair Trading Law: The Unfair Commercial Practices Directive, 2006; ''Hans-Wolfgang Micklitz'', in: Peter Heermann, Günter Hirsch (Hg.), Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd.&nbsp;1, 2006, EG F; ''Jules Stuyck'', ''Evelyne Terryn'', ''Tom van Dyck'', Confidence through Fairness?, Common Market Law Review 43 (2006) 107&nbsp;ff.; ''Roger W. de Vrey'', Towards a European Unfair Competition Law. A Clash Between Legal Families, 2006; ''Reto M. Hilty'','' Frauke Henning-Bodewig'' (Hg.), Law Against Unfair Competition: Towards a New Paradigm in Europe?, 2007; ''Henrik Saugmandsgaard'','' ''The EU Consumer Policy Framework: Mission Nearly Accomplished?, in: Liber amicorum en l’honneur de Bo Vesterdorf, 2007; ''Helmut Köhler'', Einl. UWG, Kap.&nbsp;4 und §§&nbsp;8&nbsp;ff. UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm (Hg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27.&nbsp;Aufl. 2009.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Commercial_Practices,_Aggressive]]
[[en:Commercial_Practices,_Misleading]]

Version vom 23. November 2021, 18:05 Uhr

von Olaf Sosnitza

1. Begriffsbestimmung

Bei irreführenden Geschäftspraktiken bzw. bei der irreführenden Werbung handelt es sich um ein Element unlauteren Wettbewerbs. Eine Definition des Begriffes der irreführenden Werbung findet sich in Art. 2(b) der Irreführungs-RL (RL 2006/‌114). Um eine irreführende Werbung handelt es sich danach bei jeder Werbung, „die in irgendeiner Weise – einschließlich ihrer Aufmachung – die Personen, an die sie sich richtet oder die von ihr erreicht werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und die infolge der ihr innewohnenden Täuschung ihr wirtschaftliches Verhalten beeinflussen kann oder aus diesen Gründen einen Mitbewerber schädigt oder zu schädigen geeignet ist“. „Werbung“ ist gemäß Art 2(a) der Irreführungs-RL „jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern“.

In der Unlautere Geschäftspraktiken-RL (RL 2005/‌29, UGP-RL) wird der allgemeine Begriff der „irreführenden Geschäftspraxis“ verwendet, wobei dieser nach Art. 2(d) UGP-RL auch die Werbung einschließt. Gemäß Art. 6(1) UGP-RL gilt eine Geschäftspraxis als irreführend, wenn sie falsche Angaben enthält und somit unwahr ist oder wenn sie in irgendeiner Weise, einschließlich sämtlicher Umstände ihrer Präsentation, selbst mit sachlich richtigen Angaben den Durchschnittsverbraucher in Bezug auf bestimmte Punkte, welche in der Richtlinie abschließend aufgezählt werden, täuscht oder zu täuschen geeignet ist und ihn in jedem Fall tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die er ansonsten nicht getroffen hätte.

2. Rechtsentwicklung

Auf der Revisionskonferenz in Lissabon im Jahr 1958 wurde in Art. 10bis der PVÜ, der die Verbandsländer zum wirksamen Schutz gegen unlauteren Wettbewerb verpflichtet, in Abs. 3 Nr. 3 die Irreführung als Beispieltatbestand unlauteren Wettbewerbs eingefügt. Zu untersagen sind demnach „Angaben oder Behauptungen, deren Verwendung im geschäftlichen Verkehr geeignet ist, das Publikum über die Beschaffenheit, die Art der Herstellung, die wesentlichen Eigenschaften, die Brauchbarkeit oder die Menge der Waren irrezuführen“. Art. 10bis PVÜ bildete auch die Grundlage für die Modellvorschriften der World Intellectual Property Organization zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 1996, welche in Art. 4 ebenfalls die Unlauterkeit der Irreführung regeln.

Die Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union führten zum Erlass der ursprünglichen Irreführungs-RL (RL 84/‌450). Die ursprüngliche Irreführungsrichtlinie wurde später durch Einbeziehung der vergleichenden Werbung durch die RL 97/‌55 modifiziert und schließlich in der RL 2006/‌114 neu kodifiziert. Ursprünglich galt die Irreführungsrichtlinie sowohl für die Irreführung von Gewerbetreibenden als auch von Verbrauchern (Verbraucher und Verbraucherschutz). Nunmehr gilt für irreführende Geschäftspraktiken im Verhältnis von Unternehmen zu Verbrauchern (b2c) ausschließlich die UGP-RL (vgl. Art. 3(1) UGP-RL).

Das Verbot der irreführenden Werbung dient sowohl dem Schutz der Verbraucher als auch der Gewerbetreibenden, wobei letztere nicht nur im Vertikalverhältnis als angesprochener Verkehrskreis der Marktgegenseite, sondern auch im Horizontalverhältnis als Mitbewerber vor den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen irreführender Werbung geschützt werden sollen. Zugleich dient das Irreführungsverbot damit auch dem Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. Die verschiedenen Schutzzwecke sind insbesondere im sekundären Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund des Anwendungsbereichs der einschlägigen Richtlinien von Bedeutung, da durch die Irreführungs-RL nur noch Gewerbetreibende vor Irreführung geschützt werden (b2b), während der Verbraucherschutz durch die UGP-RL geregelt wird.

Neben den allgemeinen Irreführungstatbeständen existieren im sekundären Gemeinschaftsrecht zahlreiche Spezialvorschriften zur Irreführung, z.B. die Kosmetik-RL (RL 76/‌768) oder die Etikettierungs-RL (RL 2000/‌13). Diese sektoral begrenzten Regelungen schließen eine Anwendung der allgemeinen Irreführungsbestimmungen jedoch nicht aus.

3. Einzelausgestaltung

Die UGP-RL enthält in Art. 6(1) und (2) UGP-RL einen umfassenden Katalog von Verhaltensweisen, die irreführende Geschäftspraktiken darstellen. Hierzu gehören gemäß Art. 6(1) UGP-RL Täuschungen über (a) das Vorhandensein oder die Art des Produkts, (b) seine wesentlichen Merkmale, (c) Vertriebspraktiken, (d) den Preis und Preisberechnung, (e) Leistungen und Zusatzleistungen, (f) die Person, die Eigenschaften oder die Rechte des Gewerbetreibenden oder seines Vertreters und (g) die Rechte des Verbrauchers oder die Risiken, denen er sich möglicherweise aussetzt. Zudem gelten gemäß Art. 6(2) UGP-RL im Einzelfall Geschäftspraktiken als irreführend, wenn sie einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen oder zu veranlassen geeignet sind, die er ansonsten nicht getroffen hätte, und entweder eine Verwechslungsgefahr mit einem Konkurrenzprodukt, ‑warenzeichen, ‑namen oder anderem Kennzeichen begründen oder der Gewerbetreibende Verpflichtungen eines von ihm eingegangenen Verhaltenskodexes nicht einhält.

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist die irreführende Werbung in unterschiedlicher Form geregelt. Sowohl die Irreführungs-RL als auch die UGP-RL gewähren den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Sanktionierung der irreführenden Werbung einen Umsetzungsspielraum. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, „geeignete und wirksame Mittel zur Bekämpfung“ der irreführenden Werbung bzw. Geschäftspraktiken bereitzustellen (Art. 5(1) Irreführungs-RL, Art. 11(1) UGP-RL). Dabei steht es ihnen frei, Gerichte oder Verwaltungsbehörden mit der Rechtsdurchsetzung zu betrauen. Vielfach unterliegt die Sanktionierung irreführender Werbung den Zivil- und Strafgerichten der Mitgliedstaaten. In Deutschland beispielsweise enthalten die §§ 12 ff. UWG Verfahrensvorschriften für die zivilgerichtliche Anspruchsdurchsetzung. § 16 Abs. 1 UWG regelt daneben die strafbare Irreführung, wobei die Strafverfolgungsbehörden auf Grundlage der Strafprozessordnung von Amts wegen tätig werden. In Großbritannien können Verbraucher aufgrund der in Umsetzung der UGP-RL erlassenen Consumer Protection from Unfair Trading Regulations 2008 die Sanktionierung von irreführender Werbung auf strafrechtlicher Ebene durch das Office of Fair Trading veranlassen. Mitbewerber können sowohl die strafrechtliche Verfolgung (aufgrund der Business Protection from Misleading Marketing Regulations 2008) durch das Office of Fair Trading herbeiführen als auch zivilrechtlich gegen irreführende Werbung vorgehen. Zudem wurde durch den British Code of Advertising, Sales Promotion and Direct Marketing ein leistungsfähiges System der Selbstkontrolle installiert. In Italien obliegt der Schutz vor irreführender Werbung einer staatlichen Verwaltungsbehörde (Wettbewerbsbehörde), der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato. In Finnland werden Wettbewerbsverstöße gegenüber Verbrauchern vom Konsumentenombudsmann verfolgt; Gewerbetreibende sind auf Privatklagen vor dem Marktordnungsgericht angewiesen.

Irreführende Werbung setzt das tatsächliche Eintreten einer Täuschung des Verkehrs nicht voraus. Es genügt vielmehr, dass eine Angabe geeignet ist, die angesprochenen Verkehrskreise irrezuführen. Voraussetzung der Täuschungseignung ist, dass die zu beurteilende Werbeangabe einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Reine Werturteile und bloße Werbeappelle können nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden und fallen somit nicht unter das Irreführungsverbot.

Bei der Frage, ob eine Werbung zur Täuschung geeignet und damit irreführend ist, kommt der Person des Umworbenen entscheidende Bedeutung zu. Der Europäische Gerichtshof hat den Irreführungsbegriff durch Herausbildung eines normativen Verbraucherleitbildes – Rs. C-210/‌96 – Gut Springenheide, Slg. 1998, I-4681 und Rs. C-220/‌98 – Lifting-Creme, Slg. 2000, I-117 – geprägt. Dieses Verbraucherleitbild wurde aus einer rechtsvergleichenden Betrachtung gewonnen, insbesondere unter Heranziehung der französischen und britischen Auslegung der Irreführungstatbestände. Der Bundesgerichtshof ging demgegenüber früher vom Leitbild des flüchtigen, unkritischen und oberflächlichen Verbrauchers aus; diese Auffassung hat die deutsche Rechtsprechung jedoch mittlerweile aufgegeben und sich dem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Verbraucherleitbild angeschlossen.

Maßgeblich für die Beurteilung der Täuschungseignung einer Werbung ist die Sichtweise eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers. Gegenstand der Beurteilung ist das Verständnis eines fiktiven, typischen Verbrauchers von der Werbeangabe (vgl. Erwägungsgrund 18 UGP-RL). Dabei handelt es sich um ein normatives Leitbild, denn entscheidend ist nicht das tatsächliche Verständnis des angesprochenen Verkehrs, sondern das von einer fiktiven Referenzperson zu erwartende Verständnis. Eine Werbung ist erst dann irreführend, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalles (EuGH Rs. C-220/‌98 – Lifting-Creme, Slg. 2000, I-117) zur Täuschung des Durchschnittsverbrauchers geeignet ist. Empirische Verbraucherbefragungen und daraus ermittelte Irreführungsquoten können auf Basis des normativen Verbraucherleitbildes nur eines von mehreren Kriterien sein, anhand derer die Täuschungseignung zu beurteilen ist. Tatsächliche Irreführungen oder Täuschungen (z.B. einzelner Minderheiten oder flüchtiger, uninteressierter Verbraucher) sind hinzunehmen, soweit ihnen die jeweilige Referenzperson nach Ansicht der zuständigen Gerichte oder Behörden nicht unterliegen würde. In diesem Bereich tritt der Irreführungsschutz im Rahmen einer Interessenabwägung hinter die Warenverkehrsfreiheit bzw. die Dienstleistungsfreiheit und das durch Art. 10 EMRK gewährleistete Recht zur freien Meinungsäußerung der Werbenden zurück.

Bei der Prüfung der Irreführungsgefahr ist zunächst der angesprochene Verkehrskreis zu bestimmen. Dabei handelt es sich um die Personengruppe, an die sich die Werbung richtet und deren Verhalten sie beeinflussen soll. In einem zweiten Schritt ist nach der Vorstellung zu fragen, welche die Werbung bei einer Durchschnittsperson dieses Personenkreises hervorruft. Verfügt der angesprochene Verkehrskreis über spezielle Fähigkeiten oder Kenntnisse, so sind diese auch für das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers zu berücksichtigen. Gleiches gilt für etwaige soziale, sprachliche, kulturelle oder nationale Besonderheiten des Verkehrskreises. Zu beachten ist auch, dass die Aufmerksamkeit des Referenzverbrauchers in Abhängigkeit von den betroffenen Waren und Dienstleistungen variiert (EuGH Rs. C-342/‌97 – Lloyd, Slg. 1999, I-3819). Einer Werbung für geringwertige Bedarfsgegenstände wird regelmäßig geringere Aufmerksamkeit zuteil als dies bei höherwertigen und teureren Waren bzw. Dienstleistungen der Fall ist. In einem weiteren Schritt muss die Übereinstimmung des ermittelten Verständnisses mit der Wirklichkeit überprüft werden. Sofern die Auffassung der Durchschnittsperson von der Realität abweicht, ist schließlich zu fragen, ob diese Irreführung relevant ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Fehlvorstellung auf Faktoren bezieht, die geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten der Empfänger der Werbebotschaft tatsächlich zu beeinflussen. Die Irreführung über Umstände, die für die Entscheidung der Abnehmer gänzlich irrelevant sind, ist daher unbeachtlich.

Das Referenzverbraucherleitbild des EuGH wird in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in unterschiedlicher Ausprägung umgesetzt. Teilweise wird von einem generell flüchtigen, unterdurchschnittlichen Verbraucher ausgegangen, der der Werbung nahezu ohne eigene Sachkunde entgegentritt. Auf der anderen Seite wird in manchen Ländern auch auf das Verständnis eines höchst kritischen und skeptischen Verbrauchers mit umfassender eigener Sachkunde abgestellt. Zwischen diesen beiden Extrempositionen existieren weitere Verbraucherleitbilder, mit jeweils abgestuften Anforderungen an die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Durchschnittsverbrauchers.

Richtet sich die Werbung nicht an Verbraucher, sondern an Gewerbetreibende, so ist auf deren Sichtweise als angesprochener Verkehrskreis abzustellen, wobei auch hier ein dem Verbraucherleitbild entsprechendes normatives Unternehmerleitbild gilt. Allerdings kann bei Fachkreisen im Allgemeinen ein höherer Grad an Informiertheit, Aufmerksamkeit und Verständigkeit zu Grunde gelegt werden als beim Verbraucher, weil Vorbildung, Erfahrung und Kenntnis der Verhältnisse auf dem konkreten Markt den Gewerbetreibenden eine genauere Prüfung der an sie gerichteten Informationen ermöglichen und erleichtern.

Literatur

Tobias Lettl, Der lauterkeitsrechtliche Schutz vor irreführender Werbung in Europa, 2004; Christian Twigg-Flesner, Deborah Parry, Geraint Howells, Annette Nordhausen, An Analysis of the Application and Scope of the Unfair Commercial Practices Directive: A Report for the Department of Trade and Industry, 18 May 2005, veröffentlicht unter http://www.berr.gov.uk/‌files/‌file32095.pdf (zuletzt abgerufen am 7.7.2009); Giuseppe Abbamonte, The Unfair Commercial Practices Directive, Columbia Journal of European Law 2006, 695 ff; Frauke Henning-Bodewig, Unfair Competition Law. European Union and Member States, 2006; Geraint Howells, Hans-Wolfgang Micklitz, Thomas Wilhelmsson, European Fair Trading Law: The Unfair Commercial Practices Directive, 2006; Hans-Wolfgang Micklitz, in: Peter Heermann, Günter Hirsch (Hg.), Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd. 1, 2006, EG F; Jules Stuyck, Evelyne Terryn, Tom van Dyck, Confidence through Fairness?, Common Market Law Review 43 (2006) 107 ff.; Roger W. de Vrey, Towards a European Unfair Competition Law. A Clash Between Legal Families, 2006; Reto M. Hilty, Frauke Henning-Bodewig (Hg.), Law Against Unfair Competition: Towards a New Paradigm in Europe?, 2007; Henrik Saugmandsgaard, The EU Consumer Policy Framework: Mission Nearly Accomplished?, in: Liber amicorum en l’honneur de Bo Vesterdorf, 2007; Helmut Köhler, Einl. UWG, Kap. 4 und §§ 8 ff. UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm (Hg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27. Aufl. 2009.