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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:44 Uhr
von Robert Koch
1. Gegenstand, Zweck und Funktion
Die Pflichtversicherung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Versicherungsnehmer durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes durch Verordnung oder Satzung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder – wie bei der Haftpflichtversicherung für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber (Luftverkehr (Deliktische Haftung)) – durch eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung zu ihrem Abschluss verpflichtet ist. Insoweit besteht ein gesetzlicher Zwang für den Versicherungsnehmer, sich zu versichern. Jedoch entsteht das Versicherungsverhältnis durch Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages und nicht – wie im Sozialversicherungsrecht – unmittelbar kraft Gesetzes. Im Unterschied zur gesetzlichen Sozialversicherung bleiben die Regeln über das Zustandekommen von Versicherungsverträgen anwendbar und behält der Verpflichtete die Freiheit der Auswahl des Versicherers.
Die Gegenkategorie zur Pflichtversicherung bildet im Privatversicherungsrecht die freiwillige Versicherung. Damit sind solche Versicherungen gemeint, die ohne gesetzlichen Zwang begründet werden. Freiwillige Versicherungen, zu deren Abschluss der Versicherungsnehmer gegenüber Dritten vertraglich verpflicht ist, fallen nicht unter den Begriff der Pflichtversicherung. An einer gesetzlichen Verpflichtung fehlt es auch, wenn die Pflicht zum Abschluss einer ansonsten freiwilligen Versicherung auf Verlangen einer Behörde, eines Gerichts, einer tarifvertraglichen Regelung oder auf Standesrecht zurückzuführen ist. Lässt die gesetzliche Regelung dem Betroffenen die Wahl, ob er eine Versicherung abschließt oder in anderer Form Sicherheit leistet, liegt eine„alternative Versicherungspflicht“ vor. Ob die in Ausübung der Wahlmöglichkeit abgeschlossene Versicherung denselben Regeln unterliegt, die für Versicherungen gelten, zu deren Abschluss der Versicherungsnehmer unmittelbar verpflichtet ist, hängt von den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften ab.
Pflichtversicherungen können grundsätzlich alle Risiken zum Gegenstand haben, die in der Nichtpersonenversicherung (Beschädigung, Zerstörung und Abhandenkommen von Sachen; Inanspruchnahme auf Schadensersatz durch Dritte; Zahlungsunfähigkeit) und in der Personenversicherung (Unfall, Krankheit/Pflege, Berufsunfähigkeit, Leben) versicherbar sind.
Hinsichtlich der Zwecke der Pflichtversicherung ist innerhalb der Schadenversicherung zwischen Sach- und Haftpflichtversicherung zu unterscheiden. Die obligatorische Sachversicherung dient sowohl dem Interesse des Versicherungspflichtigen als auch dem Interesse der durch den Versicherungsfall wirtschaftlich nachteilig Betroffenen. Dies lässt sich am Beispiel der obligatorischen Gebäudefeuerversicherung illustrieren, deren Anfänge bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen. Sie besteht noch heute in einigen europäischen Versicherungsrechtsordnungen (z.B. Deutschland, Portugal, Schweiz, England) und hat Eingang in Art. IX.-5:201(3) DCFR gefunden. Sie hat(te) die Aufgabe, den vom Brand betroffenen Gebäudeeigentümer vor wirtschaftlicher Not und die Realgläubiger vor dem Verlust der Haftungssubstanz zu schützen, Wohnungen und Arbeitsplätze zu erhalten und dem Fiskus eine wichtige Besteuerungsgrundlage zu sichern. Bei der obligatorischen Haftpflichtversicherung steht dagegen der Schutz des Geschädigten im Vordergrund. Ihm soll das Risiko genommen werden, seine Ersatzansprüche mangels Solvenz des Schädigers nicht realisieren zu können. Der Schutzgedanke findet seinen besonderen Ausdruck darin, dass es dem Versicherer verwehrt ist, dem Geschädigten Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag entgegenzuhalten, er jedoch beim Versicherungsnehmer Rückgriff nehmen kann, soweit er diesem gegenüber zur Ablehnung oder Kürzung seiner Leistung berechtigt ist. Eine herausgehobene Stellung hat der Geschädigte in der Kfz-Haftpflichtversicherung. Dort kann er seinen Haftpflichtanspruch direkt gegenüber dem Haftpflichtversicherer geltend machen (action directe). In der obligatorischen Personenversicherung (Kranken-, Pflege-, Berufsunfähigkeits- oder Unfallversicherung) geht es demgegenüber in erster Linie um den Schutz des Versicherungsnehmers. Soweit die Pflichtversicherung kraft Gesetzes zugunsten Dritter als Versicherung für fremde Rechnung abzuschließen ist, ist sie zusätzlich auf deren soziale Risikoabsicherung gerichtet.
Die private Pflichtversicherung hat Risikovorsorgefunktion. Die Versicherungspflichtigen werden durch den verordneten Versicherungsschutz zur Eigenvorsorge für sich und die Mitversicherten gegen die sie treffenden Vermögensgefahren gezwungen. Hierdurch werden die staatlichen sozialen Sicherungssysteme entlastet. Versicherungstechnisch wirkt sich vorteilhaft aus, dass das für den Risikoausgleich erforderliche Gesetz der großen Zahl wegen der Vielzahl von Versicherungspflichtigen leichter erreicht werden kann. Für den Versicherer vermindert sich dadurch die Gefahr einer negativen Risikoauslese, und für den Versicherungspflichtigen verbilligt sich der Versicherungsschutz. Andererseits stellt der gesetzliche Zwang zum Abschluss einer Versicherung einen Eingriff in die Privatautonomie des Versicherungspflichtigen dar. Ist die Ausübung eines Berufs oder die Führung eines Unternehmens vom Abschluss oder dem Fortbestehen einer Versicherung abhängig, sind zudem die Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht des Versicherungspflichtigen betroffen. Soweit Pflichtversicherungen Mindeststandards der Versicherungsdeckung festlegen, greifen sie zudem in die Vertragsgestaltungsfreiheit der Versicherer ein. Die Einführung einer Pflichtversicherung bedarf deshalb besonderer Rechtfertigung.
In Deutschland geht man davon aus, dass folgende Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung erfüllt sein müssen: (i) Es muss eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit oder einen größeren Personenkreis bestehen. (ii) Bei einem erheblichen Teil der Schadenfälle muss die Gefahr bestehen, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Betroffenen nicht ausreicht, um die Vermögensnachteile auszugleichen, die er selbst oder ein geschädigter Dritter (auch die Umwelt) infolge einer Handlung erlitten hat, die den Dritten zum Schadensersatz berechtigt. (iii) Die Einhaltung einer gesetzlichen Pflichtversicherung muss kontrollierbar sein. (iv) Es muss gewährleistet sein, dass der erforderliche Versicherungsschutz auf dem Markt angeboten wird. (v) Die Versicherungspflicht muss zu wirtschaftlich tragbaren Prämien verfügbar sein.
2. Tendenzen der Rechtsentwicklung
Der Pflichtversicherung kommt in den europäischen Staaten unterschiedliche Bedeutung zu. In Frankreich besteht in rund 100 Fällen die gesetzliche Pflicht, sich gegen ein bestimmtes Risiko zu versichern. In Portugal beläuft sich die Zahl der Pflichtversicherungen auf mehr als 70. Belgien kennt mehrere Dutzend verschiedener Versicherungspflichten, und in Deutschland beläuft sich die Zahl der bundesgesetzlichen Pflichtversicherungen nach einer Aufstellung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mittlerweile auf über 30 Fälle. In anderen Ländern ist nur die Kfz-Haftpflichtversicherung obligatorisch. Einige Mitgliedstaaten der EU haben sich auf die Einführung der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Pflichtversicherungen (s.u. 4.) beschränkt.
Nur in Ausnahmefällen steht der Versicherungspflicht ein Annahmezwang des Versicherers gegenüber. Einige Länder sehen einen Kontrahierungszwang in der Kfz-Haftpflichtversicherung vor. In Dänemark besteht darüber hinaus ein Kontrahierungszwang in der Hundehalterhaftpflichtversicherung, soweit sich der Versicherungsnehmer den AGB des Versicherers unterwirft. Vereinzelt besteht ein Annahmezwang auch für die obligatorische Gebäudefeuerversicherung. In Deutschland existiert ein Kontrahierungszwang in der obligatorischen privaten Pflegeversicherung und zukünftig auch in der obligatorischen privaten Krankenversicherung. In Schweden kann sich ein Annahmezwang des Versicherers gegenüber Verbrauchern ergeben, wenn es sich um eine Massenversicherung handelt.
Die unterschiedliche Verbreitung der Pflichtversicherung dürfte im Wesentlichen darauf zurückzuführen sein, dass es vor allem sozial- und wirtschaftspolitische Erwägungen sind, die die nationalen Gesetzgeber dazu bewegen, für die Abdeckung eines bestimmten Risikos eine Versicherungspflicht einzuführen. Der insoweit den Gesetzgebern zukommende Gestaltungsspielraum wird praktisch nur dadurch begrenzt, dass der erforderliche Versicherungsschutz auf dem Markt verfügbar sein muss. Dies ist in der Regel unproblematisch, wenn die notwendige Deckung bereits im Rahmen freiwilliger Versicherungen angeboten wird. Anderenfalls bedarf es der Mitwirkung der Versicherungswirtschaft. Ist diese nicht bereit, die gewünschte Deckung zur Verfügung zu stellen, weil sie das Risiko etwa von Elementarschäden, Schäden infolge von Terrorakten oder des Einsatzes der Gentechnik oder Nanotechnologie für nicht versicherbar hält, kann eine Pflichtversicherung nicht eingeführt werden.
Gemessen an der Zahl der bestehenden Pflichtversicherungen kommt der obligatorischen Haftpflichtversicherung die größte Bedeutung zu. Sie begegnet einem sowohl in Bereichen, in denen eine Gefährdungshaftung besteht, als auch in Fällen reiner Verschuldenshaftung. Neben den gemeinschaftsrechtlich vorgegeben Haftpflichtversicherungen (s.u. 4.) kennen die meisten europäischen Versicherungsrechtsordnungen obligatorische Haftpflichtversicherungen im Hinblick auf besonders gefahrgeneigte Tätigkeiten (z.B. die Jagd), das Halten von Tieren (z.B. Hunden), bestimmte berufliche Tätigkeiten (z.B. der Rechtsanwälte, Notare, Architekten, Wirtschaftsprüfer; Berufshaftung), den Betrieb gefährlicher/umweltgefährdender Anlagen (Umwelthaftung), den gewerblichen Güterverkehr (Binnenschifffahrt; Eisenbahnverkehr; Luftverkehr (Deliktische Haftung); Straßengüterverkehr), die Herstellung und/oder den Vertrieb medizinischer Produkte (Produkthaftung).
Obligatorische Sachversicherungen bestehen für den Eigentümer von Gebäuden oder Objekten von Bedeutung für die Allgemeinheit (z.B. Kunstwerke). Obligatorische Personenversicherungen betreffen das (Arbeits‑)Unfall-, Pflege- und Krankheitsrisiko.
In der Tendenz dürfte die Zahl der Pflichtversicherungen vor allem zur Absicherung von Haftpflichtrisiken aus gewerblicher und selbständig beruflicher Tätigkeit als Reaktion auf die Verschärfung bestehender und die Einführung neuer Haftungstatbestände weiter zunehmen (Berufshaftung). Nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass die Versicherungswirtschaft der Pflichtversicherung kritisch bis ablehnend gegenübersteht, ist jedoch zu erwarten, dass die nationalen Gesetzgeber eine „alternative“ Versicherungspflicht einführen, d.h. den Betroffenen die Möglichkeit geben, das Gebot der Deckungsvorsorge auch anders als durch Haftpflichtversicherung zu erfüllen, z.B. durch Stellung finanzieller Sicherheiten Dritter (z.B. Bankgarantien [Garantie ]), Gründung einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit oder die/durch Beteiligung an kollektiven Entschädigungsfonds.
3. Ausgestaltung der obligatorischen Versicherung
Eine Pflichtversicherung kann ihren Zweck nur dann erfüllen, wenn erstens ein Mindestinhalt vorgeschrieben wird, der den versicherten Schaden (Sach-, Personen- oder Vermögensschaden), die versicherte Gefahr (z.B. Feuer, Inanspruchnahme auf Schadensersatz, medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen) und den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers (Deckungssumme, Ersatzwertregelungen) umfasst. Zweitens muss sichergestellt sein, dass der Zweck der Pflichtversicherung nicht durch die Versicherungsbedingungen gefährdet wird. Dies bedeutet, dass es dem Versicherer verwehrt sein muss, dem Geschädigten (obligatorische Haftpflichtversicherung) oder dem Begünstigten (obligatorische Sachversicherung) bis zur Höhe der Versicherungssumme Einwendungen aus dem Versicherungsvertrag entgegenzuhalten, die an das persönliche Verhalten des Versicherungsnehmers anknüpfen (Ausschlüsse, Obliegenheitsverletzungen). Dies gilt grundsätzlich auch hinsichtlich eines zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer vereinbarten Selbstbehalts. Drittens muss ein Überwachungssystem geschaffen werden, das sicherstellt, dass die Versicherungspflichtigen auch tatsächlich versichert sind.
Diesen Vorgaben tragen die europäischen Länder im Wesentlichen Rechnung. Ganz überwiegend wird in der obligatorischen Haftpflichtversicherung eine Mindestdeckungssumme vorgegeben. In der obligatorischen Gebäudeversicherung bestimmt sich der Ersatzwert nach den Wiederherstellungskosten. In Deutschland ist der obligatorische Haftpflichtversicherer dem Geschädigten gegenüber nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer den subjektiven Risikoausschluss der vorsätzlichen Schadenzufügung verwirklicht. Diese Deckungslücke wird in der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung durch „Entschädigungsfonds für Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen“ kompensiert, bei Notarhaftungsfällen durch eine von der Notarkammer zusätzlich abgeschlossene Vertrauensschadenversicherung. Auch in anderen Staaten gibt es Entschädigungsfonds, zumeist für Verkehrsschäden. In Italien gibt es einen Fonds für die Opfer von Jagdunfällen, der dann in Anspruch genommen werden kann, wenn sich der „Täter“ nicht identifizieren lässt, sowie den Fonds für Versicherungsmakler. In dem Umfang, in dem der Versicherer leistet, kann er üblicherweise gegen seinen Versicherungsnehmer Rückgriff nehmen, soweit er nach dem Versicherungsvertrag oder nach den Regeln des Versicherungsvertragsrechts zur Ablehnung oder Kürzung seiner Leistung berechtigt wäre.
Unterschiede bestehen in Bezug auf die Möglichkeit der direkten Inanspruchnahme des Versicherers in der obligatorischen Haftpflichtversicherung. Während in manchen europäischen Staaten (z.B. Griechenland, Spanien, Belgien, Luxemburg, Frankreich) der Geschädigte stets einen direkten Anspruch gegen den Versicherer des Haftpflichtigen geltend machen kann, ist er in anderen Staaten auf den Bereich der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung beschränkt. In Deutschland hat der Geschädigte außerhalb der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung einen Direktanspruch gegen Versicherer nur im Falle der Insolvenz oder bei unbekanntem Aufenthalt des versicherungspflichtigen Schädigers.
Zur Sicherstellung des gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungsschutzes werden dem Versicherer bei obligatorischen Haftpflichtversicherungen in der Regel besondere Pflichten auferlegt. Er muss dem Versicherungsnehmer eine Versicherungsbestätigung aushändigen. Vielfach ist der Versicherer darüber hinaus verpflichtet, den zuständigen Behörden den Abschluss des Versicherungsvertrages und den Versicherungsbeginn mitzuteilen. In diesem Fall trifft ihn zumeist auch die Pflicht, den Behörden Unterbrechungen und die Beendigung, zum Teil auch Veränderungen des Versicherungsvertrages anzuzeigen.
4. Einheitsrecht
Auf der Ebene völkerrechtlicher Konventionen sieht das Straßburger Übereinkommen des Europarats über die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung von 1959 die Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung und eines Direktanspruchs des Geschädigten gegen den Versicherer vor. Das Montrealer Übereinkommen von 1999 über die Beförderung im internationalen Luftverkehr hat die Einführung einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Luftfrachtführer zum Gegenstand. Eine „alternative“ Versicherungspflicht in dem Sinne, dass die Betroffenen „eine Versicherung oder sonstige finanzielle Sicherheit, wie etwa die Bürgschaft einer Bank oder eines ähnlichen Finanzinstituts, aufrechtzuerhalten“ haben, sehen u.a. vor das Übereinkommen von 1996 über Haftung und Entschädigung für Schäden bei der Beförderung gefährlicher und schädlicher Stoffe auf See (HNS-Übereinkommen), das Übereinkommen von 1969 über die zivilrechtliche Haftung für Ölverschmutzungsschäden, das Übereinkommen von 2001 über die zivilrechtliche Haftung für Bunkerölverschmutzungsschäden (Bunkeröl-Übereinkommen) sowie das Protokoll von 2002 zum Athener Übereinkommen von 1974 über die Beförderung von Reisenden und ihrem Gepäck auf See.
Die Europäische Gemeinschaft griff 1972 den Gedanken einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge mit der 1. Kfz-Haftpflicht-RL (RL 72/166) auf. Mittlerweile sieht das Gemeinschaftsrecht durch Verordnung eine obligatorische Haftpflichtversicherung für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber hinsichtlich ihrer luftverkehrsspezifischen Haftung in Bezug auf Fluggäste, Reisegepäck, Güter und Dritte vor (VO 785/2004). Die versicherten Risiken müssen Kriegshandlungen, Terrorakte, Entführungen, Sabotage, die unrechtmäßige Inbesitznahme von Luftfahrzeugen und Aufruhr einschließen. Des Weiteren sind Eisenbahnunternehmen (Eisenbahnverkehr) nach der Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (VO 1371/2007) verpflichtet, ihre Unfallhaftpflicht insbesondere für Fahrgäste, Gepäck, Fracht, Post und Dritte durch eine ausreichende Versicherung zu decken oder gleichwertige Vorkehrungen zu treffen.
Auf Richtlinienebene sind die 2.-5. Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL (2.: RL 84/5; 3.: RL 90/232; 4.: RL 2000/26; 5.: RL 205/14) zu nennen. Die Versicherungsvermittler-RL (RL 2002/92) sieht die Einführung einer Berufshaftpflichtversicherung für Versicherungsvermittler vor. Nach der Zulassungs-RL (RL 2004/114) über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst müssen Drittstaatsangehörige, die die Zulassung zu einem Studium in der EU beantragen, über eine Krankenversicherung verfügen, die sich auf alle Risiken erstreckt, die normalerweise in dem betreffenden Mitgliedstaaten versichert sind.
Ursprüngliche Pläne der Europäischen Kommission, eine obligatorische Haftpflichtversicherung zur Abdeckung der Umwelthaftungsrisiken in der Umwelthaftungs-RL (RL 2004/35) vorzusehen, sind auf Druck der Versicherungswirtschaft nicht verwirklicht worden (Umwelthaftung). Gleiches gilt für die Futtermittelhygiene-VO (VO 183/2005). In der Dienstleistungs-RL (RL 2006/123) hat die EU es zwar für wünschenswert gehalten, dass jeder Marktteilnehmer, dessen Dienstleistungen ein unmittelbares und besonderes Risiko für die Gesundheit, Sicherheit oder die finanzielle Lage des Dienstleistungsempfängers oder eines Dritten darstellen, grundsätzlich über eine angemessene Berufshaftpflichtversicherung oder eine andere gleichwertige oder vergleichbare Sicherheit verfügt. Sie hat sich im Ergebnis jedoch gegen detaillierte Vorschriften für die Versicherungsdeckung ausgesprochen, um den Dienstleistungserbringern und Versicherern Spielraum für die Aushandlung auf Art und Ausmaß des Risikos abgestimmter Versicherungspolicen zu geben.
Konkrete Vorgaben zur Mindestversicherungssumme enthalten die VO 785/2004 für Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber hinsichtlich ihrer luftverkehrsspezifischen Haftung, die Versicherungsvermittler-RL und die 2. und 5. Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL. Die Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr beschränkt sich auf die Aussage, dass sich ein Eisenbahnunternehmen ausreichend gegen die Unfallhaftpflicht zu versichern hat. Über die Festlegung der Mindestversicherungssumme hinausgehende Regelungen enthalten die Kfz-Haftpflichtversicherungs-RL’en. Festgelegt werden die versicherten Schäden und die versicherten Personen. Klauseln, nach denen bei einem bestimmten Verhalten des Versicherungsnehmers der Versicherungsschutz ausgeschlossen ist, können den geschädigten Dritten nicht entgegengehalten werden. Für nicht versicherte oder nicht ermittelte Kfz muss eine Entschädigungsstelle aufkommen.
Auf der Ebene des Kollisionsrechts gestattet die 2. RL Schaden (RL 88/357) den Mitgliedstaaten die Einführung einer Versicherungspflicht. Macht ein Mitgliedstaat hiervon Gebrauch, muss der Versicherungsvertrag nach der 2. RL Schaden den von diesem Mitgliedstaat vorgeschriebenen spezifischen Bestimmungen für diese Versicherung entsprechen. Im Falle des Widerspruchs zwischen dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Risiko belegen ist, und demjenigen des Mitgliedstaats, der die Versicherungspflicht vorschreibt, gilt nach der 2. RL Schaden das letztere. Schließlich gestattet Art. 8(4)(c) der 2. RL Schaden den Mitgliedstaaten auf den Vertrag betreffend eine Pflichtversicherung das Recht des Staates anzuwenden, der die Versicherungspflicht vorschreibt. Die Rom I-VO (VO 593/2008), die für alle Verträge gilt, die nach dem 17.12.2009 geschlossen werden, enthält in Art. 7(4)(a) und (b) inhaltsgleiche Regelungen. Nach den Vorstellungen des Gemeinschaftsrechtsgesetzgebers liegt kollisionsrechtlich eine Pflichtversicherung somit nur dann vor, wenn der Betroffene zum Abschluss nach dem Gesetz verpflichtet ist und außerdem gesetzliche Mindestanforderungen an Umfang und Ausgestaltung des Versicherungsschutzes bestehen (s.o. 3.). Nur wenn solche Mindestanforderungen aufgestellt werden, scheint es gerechtfertigt, Pflichtversicherungsverträge dem Recht desjenigen Staates zu unterwerfen, der die Versicherungspflicht vorschreibt.
Die von der Projektgruppe Restatement of European Insurance Contract Law Ende 2007 vorgelegten Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) enthalten noch keine speziellen Regelungen zur obligatorischen Haftpflichtversicherung.
Literatur
Manfred Deiters, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch privatrechtliche Pflichtversicherungen, in: Festschrift für Reimer Schmidt, 1976, 379 ff.; Géza v. Puskás, in: Alfred Manes (Hg.), Handwörterbuch der Versicherung, 1988, 513 ff.; Jürgen Basedow, Till Fock (Hg.), Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Bde. I-III, 2002/2003; Ulrich Magnus, Ökonomische Analyse des Rechts, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung – Segnung oder Sündenfall –, 2005, 101 ff.; Robert Pohlhausen, Pflichtversicherungen – aus Sicht der Versicherer, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung – Segnung oder Sündenfall, 2005, 75 ff.; Wulf-Henning Roth, Verfassungsrecht, Wettbewerbsrecht, Europarecht, in: Hamburger Gesellschaft zur Förderung des Versicherungswesens (Hg.), Pflichtversicherung: Segnung oder Sündenfall, 2005, 141 ff.; Peter Reiff, Sinn und Bedeutung von Pflichthaftpflichtversicherungen, Transportrecht 2006, 15 ff.; Martin Fricke, Das Versicherungs-IPR im Entwurf der Rom-I-Verordnung: Ein kurzer Überblick über die Änderungen, Versicherungsrecht 2006, 745 ff.; Jürgen Basedow, Der Gemeinsame Referenzrahmen und das Versicherungsvertragsrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 280 ff.