Rechtsmissbrauch

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von Filippo Ranieri

1. Die Rechtsfigur des abus du droit

Die Rechtsfigur des abus du droit erscheint erstmals im Argumentationshaushalt der kontinentaleuropäischen Rechtswissenschaft in der französischen Rechtsprechung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei der Anwendung der deliktischen Generalklausel des Art. 1382 Code civil galt seit den ersten Kommentierungen zunächst der Grundsatz, dass eine deliktische Haftung ausgeschlossen ist, wenn jemand von seinem Recht Gebrauch macht. Die französische Rechtsprechung führte allerdings seit Mitte des 19. Jahrhunderts Ausnahmen dazu ein: Man sei dennoch schadensersatzpflichtig, wenn man zwar von seinem Recht Gebrauch gemacht, dieses jedoch missbraucht habe. Die französische und später auch die italienische Doktrin kennen seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine reichhaltige Literatur zu diesem Thema. Die dogmatische und rechtstheoretische Einordnung des Problems blieb trotz des Umfangs des vorhandenen Schrifttums im Ergebnis relativ unscharf. So wurde von einigen an die Rechtsfigur der aemulatio vicini in den römischen Quellen angeknüpft (Vittorio Scialoja [1856–1933]). Andere Autoren ordneten die neue Rechtsfigur im Rahmen des Konflikts zwischen Recht und Moral ein (René Savatier [1892–1984]), wieder andere knüpften an eine anomale Rechtsausübung an: Von einem „abus de droit“ sei zu sprechen, wenn ein subjektives Recht jenseits seines wirtschaftlichen und sozialen Zwecks ausgeübt werde (Raymond Saleilles [1855–1912]). Es fehlte auch nicht an kategorischen Ablehnungen dieser Rechtsfigur: Von einem Rechtsmissbrauch zu sprechen, sei eine logische Kontradiktion an sich; Recht und Unrecht könnten nicht koexistieren (so Marcel Planiol [1853–1931] in Frankreich und Mario Rotondi [1900–1984] in Italien). In der französischen Doktrin setzte sich vor allem die Lehre von Étienne-Louis Josserand (1868–1941) durch, der zwischen einer subjektiven und einer objektiven Seite des abus de droit unterscheidet. Subjektiv sei der Rechtsmissbrauch, wenn eine Rechtsposition aus einer subjektiv verwerflichen Absicht in Anspruch genommen wird. Von einem objektiven Rechtsmissbrauch sei dagegen – unabhängig von der psychologischen Seite des Rechtsinhabers – zu sprechen, wenn eine Rechtsposition zweckwidrig in Anspruch genommen wird. Derselbe Rechtsgedanke blieb und bleibt dagegen bis heute dem englischen common law an sich unbekannt. So gilt heute weiterhin das berühmte dictum von Lord Halsbury in The Mayor, Alderman and Burgesses of the Borough of Bradford v. Pickles [1895] AC 587 (ebenso bereits Chasemoze v. Richards [1859] 7 HL Cases 349): “If it was a lawful act, however ill the motive, he had a right to do it”. Auch im schottischen Privatrecht scheint die römische Lehre der aemulatio vicini damals bedeutungslos geworden zu sein (so Lord Watson in The Mayor, 598). Ob dieser Standpunkt das gegenwärtige englische Recht wiedergibt wird allerdings in der angloamerikanischen Doktrin heute zunehmend bezweifelt.

2. Die Lehre des Rechtsmissbrauchs

In der damaligen deutschen Doktrin erfuhren diese Lehren zunächst keinen Widerhall. Das Reichsgericht knüpfte in seiner Rechtsprechung auch nach der Kodifikation von 1900 an die gemeinrechtliche Anwendung der exceptio doli generalis an. Diese wurde zunächst auf § 826 BGB, später auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gestützt. Die deutsche Zivilrechtskodifikation von 1900 hatte zwar in § 226 BGB ein Schikaneverbot eingeführt. In ihrem subjektiven Tatbestand stellte diese Norm allerdings sehr hohe Hürden für deren Anwendung auf. Faktisch erlangte § 226 BGB deshalb in der deutschen Rechtsprechung kaum Bedeutung. Fallkonstellationen einer missbräuchlichen Rechtsausübung wurden in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor allem nach dem Ersten Weltkrieg unter dem allgemeinen Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB) eingeordnet. Exemplarisch war hier vor allem die Entwicklung der Lehre der Verwirkung. Ebenso exemplarisch ist die Judikatur des Reichsgerichts zum Missbrauch der Mehrheit im Kapitalgesellschaftsrecht oder im Wettbewerbsrecht. Mitte der 1930er Jahre wurde diese Judikatur in die Kategorie der „unzulässigen Rechtsausübung“ eingeordnet. Maßgebend war hier eine Monographie von Wolfgang Siebert (1905–1959), der im Wesentlichen die Ideen von Josserand in die deutsche Literatur rezipierte. Wesentliche Unterschiede trennen hier jedoch die französische von der deutschen Rechtsentwicklung. Die Theorie des „abus du droit“ wurde in den Rahmen der deliktischen Haftung (Deliktsrecht) eingeordnet. Dagegen stellte die Rechtsfigur der unzulässigen Rechtsausübung nach der deutschen Doktrin ein klassisches Anwendungsgebiet des Grundsatzes von Treu und Glauben dar. Anders als in der französischen Doktrin entwickelte Siebert zudem durch die Theorie der unzulässigen Rechtsausübung auch eine theoretische Rechtfertigung für eine richterliche Korrektur des Inhalts von subjektiven Rechtspositionen, was zu einer beträchtlichen Relativierung von gesetzlichen und vertraglichen Normen führen kann. Neuere rechtshistorische Forschungen haben die rechtspolitischen und rechtsideologischen Hintergründe dieser Theorie Mitte der 1930er Jahre und ihre Verbindungen zur nationalsozialistischen Ideologie deutlich herausgestellt.

3. Die kontinentale Rezeption

Die Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs wurde in zahlreichen Zivilrechtskodifikationen des 20. Jahrhunderts rezipiert. Die Väter des deutschen BGB lehnten die Kodifikation dieses Rechtsgedankens noch ab. Sie knüpften vielmehr an die aemulatio vicini der römischen Rechtsquellen an und kodifizierten sie, allerdings folgenlos, im Schikaneverbot des § 226 BGB. Das schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 bestimmte dagegen ausdrücklich in Art. 2 das Gebot der Ausübung eines Rechts nach den Grundsätzen von „Treu und Glauben“, aber auch, dass der „offenbare Missbrauch“ eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. Diese Norm war Vorbild für entsprechende Bestimmungen in einigen späteren kontinentalen Zivilrechtskodifikationen. Erwähnt sei hier Art. 74 des italo-französischen Obligationenrechtsentwurfs von 1927. Eine gleichlautende Norm war auch im letzten Entwurf zum Vierten Buch des neuen italienischen Zivilgesetzbuchs vorgesehen. Der italienische Gesetzgeber von 1942 verzichtete allerdings darauf, eine solche Bestimmung einzuführen. Der Codice civile enthält nur im Sachenrecht ein Verbot der schikanösen Rechtsausübung (Art. 833). Nach dem Vorbild des italo-französischen Obligationenrechtsentwurfs von 1927 wurde das Verbot des Rechtsmissbrauchs auch in Art. 135 des poln. Obligationenrechts von 1933 normiert. Dasselbe gilt für § 281 des griech. Zivilgesetzbuchs von 1941/‌46. Auch einige Zivilrechtskodifikationen nach dem Zweiten Weltkrieg kennen entsprechende Bestimmungen. Genannt sei Art. 5 des poln. Kodeks Zywilny (Polnisches Zivilgesetzbuch) von 1964, wobei diese Bestimmung im Jahre 1990 neu formuliert wurde. Ein Verbot einer treuwidrigen und missbräuchlichen Rechtsausübung wurde in Art. 334 des neuen portug. Código civil von 1966 ebenso wie in Art. 7 der neuen Fassung aus dem Jahre 1974 des „Titulo preliminar“ des span. Código civil kodifiziert. Erwähnt seien noch § 4 Abs. 1 des ungar. ZGB, eingefügt durch das Reformgesetz Nr. XIV im Jahre 1991 sowie zuletzt § 6 des estnischen Obligationenrechts von 2002. Zuletzt genannt seien § 1:6 (Verbot des Rechtsmissbrauchs) im ungarischen Vorentwurf vom Jahre 2006 und § 1465 des tschechischen Vorentwurfs von 2005 zu einem neuen Zivilgesetzbuch. Wichtig scheint hier die Beobachtung zu sein, dass die meisten dieser neueren Bestimmungen das Verbot eines Rechtsmissbrauchs nicht nach dem Vorbild des französischen Rechts in Verbindung mit der deliktischen Haftung definieren, sondern nach deutschem und schweizerischem Vorbild im Zusammenhang mit dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben normieren.

Im italienischen Recht sprach sich die ältere Doktrin entschieden gegen den Rechtsgedanken einer richterlichen Kontrolle der Rechtsausübung aus. Abgelehnt wurde hier insbesondere eine vergleichbare Entwicklung wie in der deutschen Rechtsprechung unter dem Vorzeichen von § 242 BGB. Auch unter der Geltung des neuen Codice civile von 1942 blieb bis vor etwa zwei Jahrzehnten diese Haltung im Wesentlichen unverändert. Die italienische Doktrin und ebenso die italienische Judikatur lehnten es also zunächst insbesondere ab, aus vereinzelten gesetzlichen Vorschriften der neuen Kodifikation ein allgemeines Prinzip abzuleiten. Seit den letzten Jahren kann man in der italienischen Doktrin eine entschieden neue Haltung zu dieser Frage feststellen. Insbesondere hat die Formel, nach der das Prinzip von Treu und Glauben eine allgemeine Grenze für die Rechtsausübung darstellt, hier einen einzigartigen Erfolg gehabt. Im Vordergrund steht Art. 1375 Codice civile. Dieser Neuorientierung ist in den letzten Jahren auch das italienische Kassationsgericht gefolgt. Man spricht insoweit im italienischen Recht heute nicht vom Verbot des Rechtsmissbrauchs, sondern vielmehr von einer Verletzung des Grundsatzes der buona fede und von einer Anwendung der exceptio doli generalis. Ähnlich ist die Entwicklung im niederländischen Recht, wo dieser Rechtsgedanke im Burgerlijk Wetboek von 1992 in Art. 3:2 kodifiziert wurde. Bezeichnenderweise lautet diese Bestimmung, dass eine für die Parteien an sich geltende Rechtsnorm nicht anwendbar sein soll, wenn dies nach den Maßstäben von Redlichkeit und Billigkeit unannehmbar wäre. Auch in der jüngeren Judikatur des Europäischen Gerichtshofes sind etliche Entscheidungen zu lesen, in denen ein offenkundiger Missbrauch einer gemeinschaftsrechtlichen Rechtsposition sanktioniert wird. So hat der EuGH bereits in der Rechtssache C-33/‌74 – Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 die missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht sanktioniert, wenn diese mit dem Ziel geschieht, sich der Anwendbarkeit des nationalen Rechts zu entziehen (ebenso EuGH Rs. C-115/‌78 – Knoors, Slg 1979, 399, Rn. 24; EuGH Rs. C-370/‌90 – Singh, Slg 1992, I-4265). Dasselbe gilt für die missbräuchliche oder betrügerische Ausübung von Rechten, die vom Gemeinschaftsrecht verliehen werden (erstmals in EuGH Rs. C-110/‌99 – Emsland-Stärke GmbH, Slg 2000, I-11569). In Anbetracht der beschriebenen gesamteuropäischen Entwicklung ist es mehr als konsequent, dass der Rechtsgedanke, dass der Grundsatz von Treu und Glauben als Grenze für die Rechtsausübung verstanden werden soll, auch Eingang in Art. 1:201 PECL gefunden hat.

Literatur

Virgilio Giorgianni, L’abuso del diritto nella teoria della norma giuridica, 1963; Mario Rotondi (Hg.), Inchieste di diritto comparato, Bd. 7: L’Abus de droit, 1979; Peter Mader, Rechtsmissbrauch und unzulässige Rechtsausübung, 1994; Hans-Peter Haferkamp, Die heutige Rechtsmissbrauchslehre: Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995; Anders Kjellgren, On the Border of Abuse: The Jurisprudence of the European Court of Justice on Circumvention, European Business Law Review 2000, 179 ff.; Michael Taggart, Private Property and Abuse of Rights in Victorian England, 2002, 145 ff.; Nicoletta Sarti, Inter vicinos praesumitur aemulatio: le dinamiche dei rapporti di vicinato nell’esperienza del diritto comune, 2003; Denis F. Waelbroeck, La notion d’abus de droit dans l’ordre juridique communautaire, in: Mélanges en hommage à Jean-Victor Louis 2003, 595 ff.; Elspeth Reid, The doctrine of Abuse of Rights: Perspectives from a Mixed Jurisdiction, Electronic Journal of Comparative Law Vol. 8.3 (2004); Stéphane Abbet, De l’exceptio doli à l’interdiction de l’abus de droit: étude de droit romain et de droit suisse, 2006; Laura Melusine Baudenbacher, Überlegungen zum Verbot des Rechtsmissbrauchs im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 2008, 205 ff.; Rita de la Feria, Stefan Vogenauer (Hg.), Prohibition of Abuse of Law, 2009.

Abgerufen von Rechtsmissbrauch – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

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