Entsendung von Arbeitnehmern

Aus HWB-EuP 2009
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von Abbo Junker

1. Gegenstand und Zweck der RL 96/71

Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bietet einen dynamischen Rahmen für die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen. Dabei veranlassen der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 49 ff. EG/56 ff. AEUV; Dienstleistungsfreiheit) zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch die drei weiteren Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes zahlreiche Unternehmen, grenzüberschreitend tätig zu werden und Arbeitnehmer für eine zeitlich begrenzte Arbeitsleistung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu entsenden.

Mit der Transnationalisierung der Arbeitsverhältnisse geht aufgrund erheblicher Unterschiede in den arbeits- und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten allerdings auch die Frage einher, nach welchem Recht sich die Arbeitsbedingungen richten. Auch besteht – legt man das Herkunftslandprinzip zu Grunde – bei grenzüberschreitendem Einsatz von Arbeitnehmern die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen, wenn aus „Niedriglohnländern“ stammende Arbeitnehmer in „Hochlohnländern“ zu günstigeren Lohn- und Arbeitsbedingungen eingesetzt werden.

Zur Sicherung und Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs und zum Schutz der grenzüberschreitend eingesetzten Arbeitnehmer wurde im Jahre 1996 die auf Art. 47(2), 55 EG/53(2), 62 AEUV gestützte RL 96/71 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern erlassen, die seit Dezember 1996 in Kraft ist. Die Richtlinie soll für mehr Rechtssicherheit und Transparenz auf dem Markt der internationalen Auftragsvergabe an Subunternehmer sorgen und die Feststellung erlauben, welche Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer gelten, die vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat als dem arbeiten, dessen Rechtsvorschriften ihr Arbeitsverhältnis unterliegt. Die RL 96/71 schreibt dafür in Art. 3 vor, dass den Arbeitnehmern während ihrer Entsendung seitens der entsendenden Unternehmen dieselben Mindestarbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantiert werden müssen, wie die, die im Mitgliedstaat ihrer Entsendung festgelegt sind.

2. Anwendungsbereich der RL 96/71

a) Persönlicher Anwendungsbereich

Nach Art. 1 RL 96/71 gilt die Richtlinie für Unternehmen mit Sitz in einem EG-Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer vorübergehend in einen anderen EG-Mitgliedstaat entsenden; Unternehmen mit Sitz in einem Nichtmitgliedstaat darf allerdings demgegenüber keine günstigere Behandlung zuteil werden (Art. 1(4) RL 96/71). Auswirkungen hat diese Regelung auf den projektbezogenen Einsatz von Arbeitnehmern aus den Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Richtlinie erfasst alle Branchen – ausgenommen sind nur Schiffsbesatzungen von Unternehmen der Handelsmarine (Art. 1(2) RL 96/71) – und enthält Sonderregelungen für die Baubranche.

Als entsandter Arbeitnehmer gilt nach Art. 2(1) RL 96/71 jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet. Für den Begriff des Arbeitnehmers ist nach Art. 2(2) RL 96/71 das Recht des Mitgliedstaates maßgeblich, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

b) Sachlicher Anwendungsbereich

Die RL 96/71 erfasst nach Art. 1(3) drei länderübergreifende Entsendungsfälle. Den Hauptfall bildet die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrages (Art. 1(3)(a) RL 96/71); dabei handelt es sich typischerweise um den projekt- bzw. vertragsbezogenen Einsatz von Arbeitnehmern, bei dem das Ende voraussehbar ist. Eine Regelung über die Dauer der Entsendung enthält die Richtlinie nicht; aus Art. 2 ergibt sich jedoch, dass es sich um einen begrenzten Zeitraum handeln muss. Einen weiteren Fall stellt die Entsendung von Arbeitnehmern in eine Niederlassung oder ein der Unternehmensgruppe angehörendes Unternehmen dar (Art. 1(3)(b) RL 96/71), die so genannte konzerninterne Entsendung; der Kreis der entsandten Arbeitnehmer betrifft dabei hauptsächlich Spezialkräfte sowie Arbeitnehmer des mittleren und gehobenen Managements. Die Entsendung von Arbeitnehmern durch Leiharbeitsunternehmen bildet den dritten Entsendungsfall, bei dem die Arbeitnehmer einem verwendenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, das in einem anderen Land tätig ist als dem, in dem das zur Verfügung stellende Unternehmen niedergelassen ist (Art. 1(3)(c) RL 97/ 71).

Bei allen drei Entsendungsfällen muss für die Dauer der Entsendung stets ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer bestehen.

3. Regelungsgehalt der RL 96/71

a) Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen

Die RL 96/71 schreibt in Art. 3(1)(a) bis (g) einen „harten Kern“ von klar definierten Schutzbestimmungen vor, die während der Entsendung von Arbeitnehmern zwingend einzuhalten sind; dies gelten unabhängig davon, welches nationale Recht auf das Arbeitsverhältnis des entsandten Arbeitnehmers anwendbar ist. Die Kernregelungen werden damit zu Vorschriften des ordre public i.S.v. Art. 7 des Europäischen Schuldvertragsübereinkommens von Rom vom 19.6.1980, von denen nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer abgewichen werden kann. Der europäische Gesetzgeber hat sich mit dieser Regelung für das Arbeitsortsprinzip entschieden.

Nach dem Katalog des Art. 3(1)(a) bis (g) RL 96/71 gehören zu den zwingend anzuwendenden Regelungen über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten (lit. a), bezahlter Mindestjahresurlaub (lit. b), Mindestlohnsätze einschließlich Überstundensätzen (lit. c), Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen (lit. d), Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz (lit. e), Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen (lit. f), Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen (lit. g).

Da Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit einem individualrechtlich begrenzten Geltungsbereich gegen Art. 49 EG/56 AEUV verstoßen würden, müssen sie durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Aufnahmestaates geregelt sein, dann gelten sie in allen Branchen. Eine Festlegung durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche ist ebenfalls möglich, in diesem Fall gelten die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nur für die im Anhang der Richtlinie aufgeführten Arbeiten in der Baubranche. Gibt es kein System zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung, so können die Mitgliedstaaten beschließen, die Art. 3(8) RL 96/71 entsprechenden Tarifverträge zugrunde zu legen.

Die Mindestarbeits- und Beschäftigungsbedingungen müssen auf Arbeitnehmer grundsätzlich ab dem ersten Tag ihrer Entsendung in den Mitgliedstaat angewandt werden. Für Erstmontage- und/oder Einbauarbeiten, die nicht solche im Anhang der Richtlinie aufgeführten Bauarbeiten darstellen und Bestandteil eines Liefervertrages sind, muss nach Art. 3(2) RL 96/71 für die Anwendung der Vorschriften über die Mindestlohnsätze und den bezahlten Mindestjahresurlaub die Entsendung mindestens neun Tagen betragen. Beträgt die Dauer der Entsendung nicht mehr als einen Monat, so können die Mitgliedstaaten bei der Entsendung im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrages und der konzerninternen Arbeitnehmerentsendung von den Bestimmungen über die Mindestlohnsätze abweichen (Art. 3(3) RL 96/71) oder die Möglichkeiten von Abweichungen im Rahmen von Tarifverträgen vorsehen (vgl. Art. 3(4) RL 96/71). Eine Ausnahme von den Vorschriften über die Mindestlohnsätze und den Mindestjahresurlaub kann weiter vorgesehen werden, wenn der Umfang der zu verrichtenden Tätigkeit gering ist, die Definitionsmacht obliegt dabei den Mitgliedstaaten (Art. 3(5) RL 96/71).

Soweit die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des entsendenden Staates, denen der mit dem entsendenden Unternehmen regelmäßig bestehende Arbeitsvertrag unterliegt, günstiger sind als diejenigen des Einsatzstaates, steht die RL 96/71 nach Art. 3(7) ihrer Anwendung nicht entgegen.

b) Soziale Sicherheit

Die RL 96/71 regelt nicht die sozialrechtliche Seite der Entsendung von Arbeitnehmern. Die auf der Grundlage des Art. 42 EG/48 AEUV erlassenen Vorschriften über den Bezug von Leistungen der sozialen Sicherheit und Beitragszahlungen finden sich in der VO 1408/71 des Rates vom 14.7.1971, die die bestehenden Sozialversicherungssysteme materiellrechtlich koordiniert.

c) Betriebliche Alters­vor­sorge

Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge gilt die Regelung des Art. 6 der RL 98/49 des Rates vom 29.6.1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern.

d) Prozessuale Regelung

In prozessualer Hinsicht regelt Art. 6 RL 96/71 für die Durchsetzung der von der Richtlinie in Art. 3 RL 96/71 gewährleisteten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen einen eigenen, zusätzlichen Gerichtsstand. Die Vorschrift ergänzt als Spezialvorschrift die Brüssel I-VO (VO 44/2001).

4. Umsetzung in nationales Recht/ Arbeitnehmer-Entsendegesetz

Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) von 1996, erlassen im Wege der Vorwegnahme der RL 96/71/EG, ist umfangreich zum 1.1.1999 geändert worden, um das Gesetz an die RL 96/ 71/EG anzupassen. Ziel des AEntG ist die Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer sowie die Gewährleistung fairer und funktionierender Wettbewerbsbedingungen.

Das AEntG enthält in §§ 1-6 AEntG Sonderregelungen für die Baubranche, die mit Gesetz vom 25.4.2007 auf das Gebäudereinigerhandwerk und mit Gesetz vom 21.12.2007 auf Briefdienstleistungen ausgedehnt wurden. Deutschland hat damit von der in Art. 3(10) RL 96/71 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die in Tarifverträgen festgelegt sind, auch für andere Branchen anzuordnen. §§ 7 und 8 AEntG enthalten Vorschriften, die für alle Branchen gelten.

Nach § 1 AEntG finden auf ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem aus dem Ausland oder innerhalb Deutschlands entsandten Arbeitnehmer Rechtsnormen in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Baugewerbes, des Gebäudereinigerhandwerkes und für Briefdienstleistungen Anwendung. Die Rechtsnormen müssen Regelungen über den Mindestlohn oder die Dauer des Erholungsurlaubs, das Urlaubsentgelt oder ein zusätzliches Urlaubsgeld zum Gegenstand haben. Weitere Voraussetzung ist, dass der Tarifvertrag das Arbeitsortsprinzip festlegt (§ 1 Abs. 1 S. 1 AEntG). Die Anwendung der Rechtsnormen in den Tarifverträgen setzt eine dreistufige Regelung voraus: Im ersten Schritt legen die Tarifvertragsparteien Mindestarbeitsbedingungen fest (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 2 S. 1 TVG). Nachdem der Bundesminister für Arbeit in einem zweiten Schritt diesen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt hat (§ 5 Abs. 1-3 TVG oder § 1 Abs. 3a AEntG), ordnet auf der dritten Stufe § 1 Abs. 1 AEntG an, dass die Mindestarbeitsbedingungen auch auf Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebern mit Sitz im Ausland und ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmern zwingend anzuwenden sind.

§ 7 AEntG regelt die Anwendung der in Rechts- und Verwaltungsvorschriften enthaltenen Regelungen über Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die dem Katalog des Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG entsprechen, auf das Arbeitsverhältnis ausländischer Arbeitgeber und ihrer im Inland beschäftigten Arbeitnehmer für alle Branchen.

§§ 2 bis 6 AEntG enthalten daneben Vorschriften, wie Prüfungs- und Kontrollbefugnisse (§ 2 AEntG) und Anmeldungspflichten für ausländische Arbeitgeber (§§ 3, 4 AEntG), die eine behördliche Kontrolle der Einhaltung der Arbeitgeberpflichten ermöglichen und nach denen bei Verstößen Sanktionen verhängt werden (§§ 5 und 6 AEntG).

Literatur

Abbo Junker, Arbeitnehmerentsendung aus deutscher und europäischer Sicht, Juristenzeitung 2005, 481; Gregor Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, München 2008; Martin Franzen, Internationales Arbeitskollisionsrecht, in: Arbeitsrecht-Blattei, SD 920 (Loseblatt); Andreas Feuerborn, Grenzüberschreitender Einsatz von Fremdfirmenpersonal, Teil B 2500, in: Hartmut Oetker, Ulrich Preis (Hg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS) (Loseblatt).

Abgerufen von Entsendung von Arbeitnehmern – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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