Kartellverfahrensrecht
1. Gegenstand und Zweck
Das in Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht dient dem Schutz des Wettbewerbs auf dem gemeinsamen Markt (Kartellverbot und Freistellung; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung). Es wird öffentlichrechtlich durch die Europäische Kommission durchgesetzt (zur zivil- und strafrechtlichen Durchsetzung Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen; Kartellrecht, private Durchsetzung). Um die Wirksamkeit der Kartellrechtsdurchsetzung zu verbessern, sind die Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV seit Inkrafttreten der VO 1/2003 auch durch die Wettbewerbsbehörden aller Mitgliedstaaten anzuwenden. Zuvor waren dazu nur etwa die Hälfte der nationalen Kartellbehörden befugt. Bei Verstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nunmehr nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art. 3(1) VO 1/ 2003 auch alle nationalen Behörden die Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV (ggf. neben nationalem Kartellrecht) an. Die VO 1/2003 ist das Herzstück des sogenannten Modernisierungspaketes von 2004, durch das insbesondere die vorherige Verfahrens-VO 17/62 aufgehoben wurde (Kartellverbot und Freistellung).
Innerhalb der Kommission ist die Generaldirektion Wettbewerb mit der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV betraut. Das durch die Kommission anzuwendende Verfahrensrecht ergibt sich seit 2004 vor allem aus der VO 1/2003 und der VO 773/2004 sowie einigen Mitteilungen und Bekanntmachungen. Diese Instrumente sollen für die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftskartellrechts sorgen und die Achtung der grundlegenden Verteidigungsrechte gewährleisten.
Die nationalen Wettbewerbsbehörden wenden bei der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV und des nationalen Kartellrechts nationales Verfahrensrecht an, das im Falle der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV durch die VO 1/ 2003 und die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden ergänzt wird.
2. Kartellverfahren nach Gemeinschaftsrecht
a) Das Kommissionsverfahren im Überblick
Das Kartellverfahrensrecht enthält die bei der Sachverhaltsermittlung und dem Erlass von Entscheidungen zu beachtenden Vorschriften. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Entscheidungsarten und Sanktionen umfassen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, die Aufgabe von Abhilfemaßnahmen, den Erlass einstweiliger Maßnahmen, die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, die Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern (zu all diesen Entscheidungsarten und Sanktionen Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen) und die Feststellung der Nichtanwendbarkeit der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV (vgl. Art. 7–10, 23, 24 VO 1/2003). Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art. 81(1), 82 EG/101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art. 2 VO 1/2003 die Kommission (oder die nationale Behörde). Für die Voraussetzungen des Art. 81(3) EG/101(3) AEUV ist das Unternehmen beweisbelastet, das sich darauf beruft. Zu neuartigen Fragen kann die Kommission Unternehmen in Einzelfällen informell beraten.
Die Kommission kann ex officio oder auf eine Beschwerde hin Ermittlungen aufnehmen. Was Kartelle angeht, werden die meisten Untersuchungen durch Kronzeugenanträge (vgl. unten) ausgelöst. Die Kommission kann bereits vor Verfahrenseinleitung von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch machen. Leitet sie ein Verfahren zum Erlass einer der vorgenannten Entscheidungen ein, so entfällt gemäß Art. 11(6) VO 1/2003 die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden.
Beschwerden: Natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, können Beschwerden einreichen. Die Kommission muss ihr Vorbringen sorgfältig prüfen. Ihr steht jedoch ein Aufgreifermessen zu und Beschwerden können nicht nur wegen Unbegründetheit, sondern auch mangels Gemeinschaftsinteresses abgewiesen werden. Beschwerdeführer haben im Verfahren Anhörungs- und Akteneinsichtsrechte.
Ermittlungsbefugnisse: Die Ermittlungsbefugnisse nach Art. 17–22 VO 1/2003 sind Anwendungsfälle der Auskunfts- und Nachprüfungsrechte der Kommission nach Art. 284 EG/337 AEUV und dienen der Aufklärung des Sachverhalts und der Gewinnung von Beweismitteln.
Auskunftsverlangen: Die Kommission kann gemäß Art. 18 VO 1/2003 einfache sowie durch Entscheidung angeordnete Auskunftsverlangen an Unternehmen richten, mit Fragen z.B. zu Marktanteilen, Wettbewerberkontakten, Preisentwicklungen und Vertriebspraktiken. Schuldhaft unrichtige Antworten können mit einem Bußgeld bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Unternehmensgesamtumsatzes geahndet werden (Art. 23 VO 1/2003). Im Falle eines Auskunftsersuchens durch Entscheidung kann bei Nichtbeantwortung ein Zwangsgeld nach Art. 24 VO 1/2003 verhängt werden (Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen).
Nachprüfungen (Durchsuchungen): Unter den in Art. 20 VO 1/2003 niedergelegten Voraussetzungen kann die Kommission die Räumlichkeiten von Unternehmen durchsuchen, Kopien relevanter Unterlagen anfertigen, während der Durchsuchung Siegel anbringen und Tatsachenerläuterungen verlangen und protokollieren. Die Kommissionsbeamten werden durch Vertreter der nationalen Wettbewerbsbehörde unterstützt. Widerstand dürfen nur nationale Beamte brechen. Wenn dafür nach nationalem Recht eine richterliche Genehmigung erforderlich ist, kann diese bereits vorsorglich durch die nationale Behörde beantragt werden. Dem nationalen Gericht kommt dabei nach Art. 20(8) VO 1/2003 ein im Wesentlichen auf Willkürfreiheit und Verhältnismäßigkeit beschränkter Prüfungsumfang zu. Behinderungen durch das Unternehmen können ein Bußgeld nach Art. 23 VO 1/2003 nach sich ziehen (vgl. die Buße von EUR 38 Mio. im Fall E.ON – Siegelbruch, Entscheidung vom 30.1.2008, COMP/B-1/39.326).
Nur auf der Grundlage einer Entscheidung und nach vorheriger Genehmigung durch ein nationales Gericht können unter den strengeren Voraussetzungen des Art. 21 VO 1/2003 auch andere als Unternehmensräumlichkeiten durchsucht werden.
Gemäß Art. 22 VO 1/2003 kann die Kommission auch nationale Behörden ersuchen, für sie Ermittlungen vorzunehmen. Anders als bei der Unterstützung einer Durchsuchung der Kommission üben die nationalen Bediensteten in einem solchen Fall die ihnen nach innerstaatlichem Recht gewährten Befugnisse aus. Entsprechende Ermittlungshilfe können auch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten untereinander beantragen.
Befugnis zur Befragung: Gemäß Art. 19 VO 1/ 2003 darf die Kommission natürliche und juristische Personen zum Gegenstand einer Untersuchung befragen, sofern diese der Befragung zustimmen.
Sektoruntersuchungen: Die Kommission kann gemäß Art. 17 VO 1/2003 ganze Wirtschaftssektoren auf Wettbewerbsbeschränkungen untersuchen und sich zu diesem Zweck der dargestellten Ermittlungsbefugnisse bedienen, mit Ausnahme der Durchsuchung von Privaträumen. Die Ergebnisse werden in einem Bericht veröffentlicht. Sektoruntersuchungen wurden etwa in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und Pharmazeutika durchgeführt und ziehen in der Praxis häufig die Einleitung von Verfahren nach sich.
Vergleichsverfahren in Kartellfällen: Um Kartellfälle effizienter bearbeiten zu können, hat die Kommission 2008 durch eine Verordnung und eine Mitteilung ein Vergleichsverfahren eingeführt. Hiernach können die Parteien nach Einsichtnahme in die Kommissionsakte Vergleichsausführungen einreichen und die Beschwerdepunkte anerkennen. Diese Ausführungen werden dann in die Mitteilung der Beschwerdepunkte übernommen, die dadurch deutlich kürzer ausfallen dürfte als in einem Verfahren ohne vorherige Zusammenarbeit. Im Gegenzug kann die Kommission die zu verhängende Geldbuße um 10 % reduzieren. Das Recht, die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anzufechten (s.u.), bleibt unberührt.
Kronzeugenregelung: Um geheime Kartelle (Kartellverbot und Freistellung) effektiver aufdecken zu können, hat die Kommission durch eine Mitteilung eine Kronzeugenregelung eingeführt (zuerst 1996, überarbeitet 2002 und 2006 [Abl. 2006 C 298/17]), die Kartellbeteiligte dazu veranlassen soll, das Kartell der Kommission offenzulegen, die Zuwiderhandlung einzustellen und an der Kommissionsuntersuchung aktiv mitzuwirken. Dem Unternehmen, das als erstes Angaben macht, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen durchzuführen oder eine Zuwiderhandlung festzustellen, wird die Geldbuße erlassen, sofern die Kommission die notwendigen Nachweise ohne seine Angaben nicht hätte führen können und das Unternehmen weiteren Voraussetzungen genügt. Insbesondere muss es während der gesamten Untersuchung mit der Kommission zusammenarbeiten und darf kein anderes Unternehmen zur Beteiligung an dem Kartell gezwungen haben. Einem Unternehmen, das sich zwar nicht als erstes als Kronzeuge zur Verfügung stellt, der Kommission aber dennoch Beweismittel mit einem erheblichen Mehrwert vorlegt, wird eine Bußgeldermäßigung von bis zu 50 % gewährt, je nachdem wieviele Kronzeugen sich schon vor ihm gemeldet haben. Zur Feststellung der Reihenfolge ist ein Markersystem vorgesehen.
Rechtsschutz: Entscheidungen der Kommission können vor dem EuG (EuGH) angefochten werden.
b) Verfahrensgarantien
Die Wahl der Ermittlungshandlungen liegt grundsätzlich im Ermessen der Kommission, die die Verhältnismäßigkeit wahren muss. Ein Stufenverhältnis zwischen den verschiedenen Befugnissen gibt es nicht. Durch die Kommission zu achtende Verfahrensgarantien ergeben sich unstreitig aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (s.u.). Kontrovers diskutiert wird, ob sich darüberhinaus unmittelbar auch aus der EMRK Verfahrensgarantien ergeben.
Art. 6 EMRK (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) enthält eine Reihe von Verfahrensrechten des Angeklagten. In Anfechtungsverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten (EuGH) und in der Literatur wird häufig die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf das gemeinschaftsrechliche Wettbewerbsverfahren postuliert. Da die EG nicht Vertragspartei der EMRK ist (vgl. aber Art. 6(2) AEUV und 14. Zusatzprotokoll zur EMRK), gilt die EMRK nicht unmittelbar für die Gemeinschaft. Die Grundrechte gehören jedoch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der EuGH, der deren Wahrung zu sichern hat, hebt in ständiger Rechtsprechung die besondere Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze hervor und folgert, „dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“ (EuGH Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41). Die Gemeinschaftsgerichte weisen in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass diese besondere Bedeutung der EMRK durch Art. 6(2) EU (1992) sowie den fünften Erwägungsgrund, Art. 52(3) und Art. 53 der GRCh bestätigt bzw. bekräftigt wurde (zu Verbindlichkeit und Tragweite der Charta Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK). Die Verpflichtung der Union aus Art. 6(2) EU (1992), die Grundrechte, wie sie durch die EMRK gewährleistet sind, zu achten, verlangt nach der Rechtsprechung jedoch keine unmittelbare Geltung der EMRK. Vielmehr wird nach Auffassung der Gemeinschaftsgerichte auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Wettbewerbssachen ein Schutz gewährt, der dem durch Art. 6 EMRK gleichwertig ist. Der Rechtsprechung des EGMR sei bei der Auslegung von Grundrechten aber Rechnung zu tragen (zum Ganzen EuGH verb. Rs. C-238/99 P – PVC (LVM), Slg. 2002, I-8375, Rn. 274 ff.; EuG Rs. T-112/98 – Mannesmann, Slg. 2001, II-729, Rn. 59; EuG verb. Rs. T-236/01 – Tokai, Slg. 2004, II-1181, Rn. 403 ff.). In der Literatur und in Anfechtungsklagen wird bisweilen argumentiert, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung von Bußgeldern führen können, weitere Verteidungsrechte gewährt als die Gemeinschaftsgerichte in Wettbewerbssachen.
Nach der Rechtsprechung der Gescheinschaftsgerichte garantieren die allgemeinen Rechtsgrundsätze u.a. die Wahrung der Verteidigungsrechte. Danach kann ein Unternehmen nicht gezwungen werden, seine Beteiligung an einer Zuwiderhandlung zuzugeben. Zwang wird nur angenommen, wenn im Falle einer Verweigerung eine Sanktion droht (vgl. auch Erwägungsgrund 23 der VO 1/2003). Die Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung bei Auskunftsverlangen und Nachprüfungen ist dementsprechend eingeschränkt. Es besteht jedoch kein umfassendes Aussageverweigerungsrecht.
Die Wahrung der Verteidigungsrechte umfasst auch den Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Entsprechende Schriftstücke dürfen nicht herausverlangt und bei Nachprüfungen nicht eingesehen werden. Um festzustellen, ob ein Schriftstück tatsächlich unter das Anwaltsprivileg fällt, ist ein besonderes Verfahren anzuwenden (EuG Rs. T-125/03 – Akzo, Slg. 2007, II-3523, Rn. 79 ff.). Nicht geschützt ist der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und angestellten Mitarbeitern seiner Rechtsabteilung, auch wenn diese als Anwälte zugelassen sind (EuG Rs. T-125/03 – Akzo, Slg. 2007, II-3523, Rn. 165 ff.).
Vor Erlass einer der oben genannten Sanktionsentscheidungen hat die Kommission dem Adressaten ihre Beschwerdepunkte schriftlich mitzuteilen. Spätestens vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte muss die Kommission die Verfahrenseinleitung beschließen. Das betroffene Unternehmen kann zu den Beschwerdepunkten Stellung nehmen. Es hat auch ein Recht auf Akteneinsicht, von dem Geschäftsgeheimnisse Dritter und verwaltungsinterne Unterlagen ausgenommen sind. Informationen, auf die der Nachweis eines Verstoßes gestützt wird, müssen jedoch offengelegt werden. Die Kommission muss zwischen dem Bedürfnis, ein Schriftstück offenzulegen, und dem durch Offenlegung entstehenden Schaden abwägen.
Über die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, das Recht auf Akteneinsicht und ein faires Verfahren wacht der Anhörungsbeauftragte, der direkt dem für Wettbewerb verantwortlichen Kommissionsmitglied berichtet.
3. Kartellverfahren nach nationalem Recht
Alle Mitgliedstaaten verfügen über Wettbewerbsbehörden. Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaats grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. In den meisten Mitgliedstaaten führt eine Wettbewerbsbehörde das Ermittlungsverfahren und verhängt Sanktionen. Bisweilen sind diese Befugnisse jedoch auf zwei Behörden verteilt (z.B. Frankreich – Reform geplant). In anderen Mitgliedstaaten kann die Wettbewerbsbehörde bestimmte Sanktionen, insbesondere Geldbußen, nicht selbst verhängen, sondern muss sie bei einem Gericht beantragen (z.B. Österreich, Schweden). Bisweilen ist die Zuständigkeit für bestimmte Sektoren abgespalten.
Die Ermittlungsbefugnisse der nationalen Behörden entsprechen in erheblichem Umfang denen der Kommission. Einige Unterschiede bestehen jedoch. So dürfen nicht alle Wettbewerbsbehörde Privaträume durchsuchen (nicht in Bulgarien, Dänemark, Italien, Portugal), Personen befragen (z.B. nicht in Rumänien, Spanien) oder Siegel anbringen (nicht in Finnland, Irland, Luxemburg, Österreich). Anders als nach der VO 1/2003 dürfen viele nationale Behörden Originale und nicht nur Kopien an sich nehmen. In einigen Mitgliedstaaten stehen anders als nach der VO 1/2003 gegen Unternehmen, die nicht selbst im Verdacht stehen, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, nur eingeschränkte Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung (z.B. Frankreich, Polen, Niederlande).
Was die Verteidigungsrechte angeht, bestehen Unterschiede vor allem in der Behandlung von Anwaltskorrespondenz (insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite des Anwaltsprivilegs). Nicht überall werden Entscheidungsadressaten vor der Entscheidung Beschwerdepunkte mit den wesentlichen Vorwürfen (z.B. nicht in Ungarn, Polen) übermittelt. Der Anhörungsbeauftragte ist ein Spezifikum des Kommissionsverfahrens.
4. Das System paralleler Zuständigkeiten
Seit der Umsetzung des Modernisierungspakets bilden die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden gemeinsam ein Netz von Behörden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden (European Competition Network – ECN). Es wurden Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt, die von einem gemeinsamen Computernetzwerk unterstützt werden, um eine optimale Verteilung der Fälle innerhalb des Netzwerks und eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.
Jeder Fall soll grundsätzlich nur von einer Behörde bearbeitet werden. Wenn bei einer nationalen Behörde eine Beschwerde eingeht oder sie ex officio ein Verfahren einleitet, dann soll diese Behörde in der Regel für den Fall zuständig bleiben. Hält sich die Behörde aber für die Bearbeitung des Falles nicht für gut geeignet oder halten sich andere Netzwerkmitglieder auch für gut geeignet, kann eine Umverteilung vorgenommen werden, was in der Praxis jedoch sehr selten ist.
Im Interesse der Kohärenz der Anwendung der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV übermitteln die nationalen Wettbewerbsbehörden der Kommission vor Erlass einer Sanktionsentscheidung den Entscheidungsentwurf. Theoretisch kann die Kommission nach Konsultation der betroffenen Behörde als ultima ratio selbst ein Verfahren eröffnen, wodurch die Zuständigkeit der nationalen Behörden gemäß Art. 11(6) VO 1/2003 entfiele. Die nationalen Wettbewerbsbehörden wirken insbesondere über den Beratenden Ausschuss an der Kartellrechtsdurchsetzung durch die Kommission mit. Der Beratende Ausschuss ist unter anderem vor Sanktionsentscheidungen zu hören.
Allein die Kommission kann eine Positiventscheidung nach Art. 10 VO 1/2003 treffen, in der, soweit aus Gründen des öffentliches Interesses der Gemeinschaft erforderlich, festgestellt wird, dass die Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV auf ein bestimmtes Marktverhalten keine Anwendung finden.
Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden können nach Art. 12 VO 1/2003 unter bestimmten Voraussetzungen auch Informationen, einschließlich vertraulicher Angaben, zum Zweck der Anwendung der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV austauschen und als Beweismittel verwenden.
Zu ne bis in idem Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen.
5. Tendenzen der Rechtsentwicklung
Im Rahmen des ECN gibt es Arbeitsgruppen zu sektorspezifischen sowie sektorübergreifenden Aspekten der Kartellrechtsdurchsetzung (z.B. Themen Kronzeugen; Zusammenarbeit; Sanktionen). Die wohl markanteste kartellverfahrensrechtliche Konvergenz (zur Aufgabe des Notifizierungssystems bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen Kartellverbot und Freistellung) ist beim Einsatz von Kronzeugenprogrammen zu beobachten. 2002 gab es nur in vier Mitgliedstaaten Kronzeugenprogramme, 2008 verfügten nur noch Slowenien und Malta nicht über ein solches Programm. Die Programme divergieren jedoch bisweilen in ihren Anforderungen, insbesondere in Bezug auf Ausschlusskriterien (Rolle des Antragstellers im Kartell), die Art der offenzulegenden Informationen und die weiteren Anforderungen für einen Erlass. Diese Unterschiede können potentielle Kandidaten von der Offenlegung eines mehrere Mitgliedstaaten betreffenden Kartells abhalten, da sie ggf. befürchten müssen, nicht in allen diesen Staaten Immunität oder eine Bußgeldermäßigung zu erreichen. Um diese Abschreckungswirkung zu vermeiden, hat das ECN im September 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell veröffentlicht, das detaillierte Vorschläge zur Regelung der genannten Aspekte von Kronzeugenprogrammen enthält. So soll eine weiche Mindestharmonisierung erreicht werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Kommission haben ihre Kronzeugenprogramme bereits angepasst. Das Modellkronzeugenprogramm hat auch ein System geschaffen, nach dem Kronzeugen, die ein Kartell aufdecken wollen, wegen dessen noch keine Durchsuchung durchgeführt wurde und das sich auf mehr als drei Mitgliedstaaten erstreckt, ihren Antrag an die Kommission richten und gleichzeitig rangwahrende Antragszusammenfassungen bei den betroffenen mitgliedstaatlichen Kartellbehörden einreichen können. Mehr als die Hälfte der nationalen Behörden akzeptiert solche Anträge.
Konvergenz ist auch im Bereich der Ermittlungsbefugnisse zu verzeichnen. In den letzten Jahren haben mehr und mehr mitgliedstaatliche Behörden das Recht erhalten, Privatwohnungen zu durchsuchen, bei Nachprüfungen Siegel anzubringen und Sektoruntersuchungen durchzuführen. Das ECN veröffentlicht regelmäßig tabellarische Konvergenzberichte, die der Struktur der VO 1/2003 folgen.
Literatur
Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, Kap. 5; Dorothe Dalheimer, Christoph T. Feddersen, Gerald Miersch, EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zu VO 1/2003, Sonderausgabe aus Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art. 83 EGV, 2005; Christina Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz – Die Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden nach der Reform des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2006; Anke Johanns, Behörden, Verfahren, Rechtsschutz, in: Thorsten Mäger (Hg.), Europäisches Kartellrecht, 2006; Wouter P.J. Wils, Powers of Investigation and Procedural Rights and Guarantees in EU Antitrust Enforcement: The Interplay between European and National Legislation and Case-law, World Competition 29 (2006) 3 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Dezentralisierung im europäischen Wettbewerbsrecht, in: Michael Stolleis, Wolfgang Streeck (Hg.), Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, 2111 ff.; Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Teil 2 – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 4. Aufl. 2007, Abschn. VI; Kris Dekeyser, Maria Jaspers, A New Era of ECN Cooperation, World Competition 30 (2007) 3 ff.; Céline Gauer, Maria Jaspers, ECN Model Leniency Programme: A first step towards a harmonised leniency policy in the EU, Competition Policy Newsletter 2007, 35 ff.; ECN Working Group on Cooperation Issues, Results of the questionnaire on the reform of Member States (MS) national competition laws after EC Regulation No. 1/2003 (Stand 14.4.2008), http://ec.europa.eu/comm/competition/ecn/index_en.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2009).