Marktmanipulation: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
von Harald Baum
1. Phänomen
Die Versuchung, die Kurse oder Preise von Wertpapieren, Waren oder deren jeweiligen Derivaten, die an einer Börse oder einem sonstigen Marktplatz gehandelt werden, gezielt zum eigenen Vorteil zu beeinflussen, ist so alt wie diese Institutionen selber. Das Gleiche gilt für das Bemühen, derartige „missbräuchliche“ Praktiken zu unterbinden. Ungeachtet dessen sind jedoch durch die Jahrhunderte einschlägige Täuschungsmanöver an allen internationalen Börsenplätzen von London über Paris bis nach New York, Wien oder Frankfurt dokumentiert. Begrifflich spricht man modern von „Marktmanipulation“ (market manipulation); zuvor war meist von „Einwirken auf Börsen- oder Marktpreise“ oder „Kurs- und Marktpreismanipulation“ die Rede. Zusammen mit den verwandten und ebenfalls unerwünschten (dysfunktionalen) Insidergeschäften (insider dealing) stellt die Marktmanipulation in der Terminologie des Gemeinschaftsrechts einen „Marktmissbrauch“ (market abuse) dar. Präzise Legaldefinitionen fehlen indes; stattdessen verwenden moderne Gesetze meist beispielhafte Aufzählungen und Kriterienkataloge, um zwischen verbotenem und erlaubtem Verhalten mit Kursbeeinflussungspotential zu differenzieren.
a) Erscheinungsformen
Die Schwierigkeit, das Phänomen in den Griff zu bekommen, liegt in der Vielfalt seiner möglichen Erscheinungsformen. Phänomenologisch und systematisierend wird allgemein zwischen drei Arten von Aktivitäten unterschieden, mittels derer sich Marktpreise zum Vorteil des oder der Handelnden direkt oder indirekt verfälschen lassen. Dies sind zunächst die verschiedenen Formen der „informationsgestützten“ (information based) Manipulation. Hierzu zählt vor allem die Verbreitung falscher Informationen in Bezug auf den Emittenten, wie etwa die Veröffentlichung unrichtiger oder irreführender Bilanzen, Geschäftsberichte oder ad hoc-Mitteilungen. Auch die Streuung von Gerüchten, die geeignet sind, die Anlageentscheidungen zu beeinflussen, fällt in diese Kategorie. Eine weitere Variante ist der Missbrauch privilegierter Informationen, der juristisch jedoch teilweise auch als Insider-Handel qualifiziert wird. Ein Beispiel hierfür ist das sog. scalping, bei dem der Akteur, etwa ein Finanzjournalist, eine unzutreffende, aber kurssteigernde öffentliche Kaufempfehlung abgibt, nachdem er sich zuvor selber günstig mit den entsprechenden Werte eingedeckt hat.
Als zweites sind die unterschiedlichen Formen der „handelsgestützten“ (trade based) Manipulation zu nennen. Hierunter fallen sowohl sog. fiktive wie auch effektive Geschäfte. Die klassische Form der Manipulation sind für den oder die Beteiligten wirtschaftlich neutrale („fiktive“) Transaktionen, die dem Ziel dienen, künstlich Handelsaktivitäten, Liquidität und Trends zwecks Steigerung des Kurses oder Marktpreises vorzutäuschen. Dabei können Käufer und Verkäufer wirtschaftlich identisch sein (wash sales), oder zwei (oder auch mehrere) verschiedene Marktteilnehmer haben sich dergestalt abgesprochen, dass zwar der wirtschaftliche Eigentümer wechselt, aber durch korrespondierende gegenläufige, eventuell auch zeitversetzte Orders das wirtschaftliche Ergebnis gleich bleibt (matched orders/circular trade). Bei der handelsgestützten Manipulation in Form effektiver Geschäfte findet hingegen eine wirtschaftlich relevante Transaktion statt, die sich objektiv nicht von normalen Geschäften unterscheidet. Dies wirft erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber solchen Erwerbsgeschäften auf, die im Rahmen einer erlaubten Kurspflege oder ‑stabilisierung und/oder eines Rückerwerbs eigener Aktien erfolgen und auf die Kurse einwirken. Mangels objektiver Unterscheidbarkeit kommt es für die Differenzierung auf subjektive Kriterien, namentlich eine Manipulationsabsicht an. Ein umstrittenes, in der Praxis insbesondere bei Hedgefonds verbreitetes Beispiel sind Leerverkäufe, die auf fallende Kurse oder Preise spekulieren. Hier besitzt der Verkäufer die verkauften Werte zum Verkaufszeitpunkt nicht, sondern muss diese erst noch bis zum Erfüllungszeitpunkt – in der Hoffnung auf günstigere Konditionen – erwerben oder leihen. Da Leerverkäufe zur Informationseffizienz des Kapitalmarktes beitragen können, sind sie international in der Regel zumindest nicht prinzipiell verboten, werden aber im Zuge von Finanzkrisen oftmals temporär untersagt.
Das dritte sind „handlungsgestützte“ (action based) Manipulationen. Hierunter werden über die Verbreitung falscher Informationen hinausgehende sonstige Aktionen verstanden, die darauf abzielen, den inneren Wert der Finanzinstrumente zu beeinflussen. Dadurch hofft der Akteur, zu verfälschten Kursen oder Preisen für ihn vorteilhafte Geschäfte tätigen zu können. Ein Beispiel sind Sabotageakte mit entsprechender Zielsetzung.
b) Abgrenzungen
Manipulationen sind von Spekulationen und Insiderhandel abzugrenzen. Von letzterem unterscheiden sie sich dadurch, dass der Manipulant, anders als der Insider, nicht lediglich bereits bestehende Informationsasymmetrien ausnutzt, sondern die für den Kapitalmarkt nachteilige Fehlbildung des Kurses oder Preises erst selber herbeiführt. Der Spekulant verursacht hingegen – ebensowenig wie ein Insider – keine Fehlbildung der Kurse oder Preise am Markt, sondern nutzt nur vorhandene Informationen aus. In Erwartung einer zeitnahen Preisänderung erwirbt er – allerdings ohne privilegiertes Insiderwissen – Finanzinstrumente, von denen er hofft, sie kurzfristig wieder mit Gewinn veräußern zu können. Spekulationen tragen zur Effizienz der Kapitalmärkte bei und sind deshalb international meist nicht untersagt.
2. Zur Regulierung aus vergleichender Perspektive
Die auf Verfälschung der Kurs- und Preisentwicklung gerichteten Marktmanipulationen liefern – weitgehend unstreitig – keinen Beitrag zur Steigerung der Informationseffizienz des Kapitalmarktes, sondern tragen im Gegenteil in aller Regel zur deren Verschlechterung bei und haben insoweit lediglich nachteilige Folgen für die Marktteilnehmer und für den Markt als solchen. Denn eine Verringerung der Informationseffizienz führt zu einer Beeinträchtigung der Allokationsfunktion wie auch der Kapitalaufbringungs- und Kapitalbewertungsfunktion des Kapitalmarktes. Entsprechend besteht (inzwischen) international zumindest überwiegend Einigkeit darüber, dass Marktmanipulationen durch Verbote unterbunden werden sollten, um so das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Kurs-/preisbildung und damit die Integrität und Leistungsfähigkeit des Marktes zu schützen. Vordringliches Ziel ist mithin der überindividuelle Funktionsschutz und weniger der Anlegerschutz im engeren Sinne. Hinsichtlich der Reichweite und Ausgestaltung des Verbotes sind allerdings international erhebliche Unterschiede zu beobachten.
a) Ausländische Rechte
Dies gilt namentlich für die Sanktionen. Teilweise sind diese rein strafrechtlicher Natur. Dies war früher für Deutschland mit dem strafbewehrten, aber wenig praxisrelevanten Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation in § 88 BörsG a.F. der Fall. Seit 1997 verfügt die Schweiz mit Art. 161bis StGB über einen eigenen Straftatbestand für Kursmanipulationen, der in zwei eng gefassten Tatbestandsalternativen zum einen das Verbreiten irreführender Informationen zwecks Kursbeeinflussung zum eigenen Vorteil unter Strafe stellt und zum anderen handelsgestützte Manipulationen in Form direkter oder indirekter fiktiver Geschäfte (wash sales oder matched orders) verbietet. Die Marktverhaltensregeln der Eidgenössischen Bankenkommission vom März 2008 präzisieren diese Verbote durch eine beispielhafte Auflistung von zulässigen und unzulässigen Wertpapiertransaktionen und Verhaltensweisen am Markt.
Teilweise wird jedoch auch auf eine Kriminalisierung verzichtet. So ahndet etwa Österreich die nach § 48a BörseG verbotenen Marktmanipulationen lediglich als eine Verwaltungsübertretung, die nach § 48c BörseG nur mit einer Geldstrafe und dem Verfall des Vermögensvorteils sanktioniert wird. Nach § 48q BörseG kann zudem ein (zeitlich befristetes) Berufsverbot verhängt werden.
Am weitesten verbreitet sind indes Mischsysteme. Im Jahr 2008 verfügten 25 von 29 untersuchten europäischen Staaten über eine Kombination von unterschiedlichen Sanktionen. Eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Marktmanipulation kommt den britischen Gerichten zu. Die älteste einschlägige Entscheidung stammt aus dem Jahr 1814 (Rex v. De Berenger (1814) 105 ER 536), in der das Gericht eine informationsgestützte Manipulation unter Anwendung des common law als conspiracy to rig the market verurteilte. Inzwischen ist die Marktmanipulation in Part VIII (sec. 118 ff.) des Financial Services and Markets Act 2000 geregelt. Zur Konkretisierung der Tatbestands der Marktmanipulation hat die Financial Services Authority einen Code of conduct, das FSA’s Market Conduct Handbook, veröffentlicht, das zwischen informations-, handelsgestützten und sonstigen Formen der Manipulation unterscheidet. Als Sanktionen sind alternativ ein Bußgeld oder die öffentliche Bekanntgabe eines Verstoßes gegen das Manipulationsverbot vorgesehen; daneben sind eine Gewinnabschöpfung und zivilrechtliche Ansprüche möglich. Zusätzlich greift das in Part XXVII (sec. 397) konstituierte allgemeine Verbot täuschender Verlautbarungen und Praktiken.
Das ausgereifte US-amerikanische Kapitalmarktrecht kennt einen besonders differenzierteren und flexiblen Katalog von abgestuften Sanktionen, der von aufsichtsrechtlichen (disziplinarischen) Maßnahmen, wie Untersagungsverfügungen oder Berufsverboten, über Gewinnherausgabe und Bußgelder (civil penalities) bis zu Kriminalstrafen (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren) reicht. Daneben werden geschädigten Anlegern ausdrücklich gesetzliche Schadensersatzansprüche zuerkannt. Die wichtigsten einschlägigen Regelungen finden sich seit den 1930er Jahren in den beiden zentralen bundesrechtlichen Kapitalmarkgesetzen, dem Securities Act (SA) von 1933 und dem Securities and Exchange Act (SEA) von 1934. Sec. 9 SEA enthält ein spezifisches Verbot der handels- wie auch der informationsgestützten Kurs-/Preismanipulationen beim Handel mit börsennotierten Wertpapieren. Wegen der hohen Beweisanforderungen für die nach dieser Norm erforderliche Manipulationsabsicht hat das allgemeine, weiter gefasste kapitalmarktrechtliche Betrugsverbot in sec. 10 lit. b SEA i.V.m. Rule 10b-5 allerdings für die Praxis zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ferner sieht sec. 17 lit. a SA ein Verbot betrügerischer Machenschaften und irreführender Informationen beim Verkauf von Wertpapieren vor, das auch Manipulationen umfasst. Spezielle Regelungen sehen Ausnahmen von den Verboten für zulässige Aktivitäten wie Rückkäufe eigener Wertpapiere vor (sog. safe harbours).
b) Deutsches Recht
Das deutsche Recht hat sich im Jahr 2002 mit Einführung des „Verbots der Kurs- und Marktpreismanipulation“ – seit 2004 im Zuge der Umsetzung der Marktmissbrauchsrichtlinie (dazu unten 3.) als „Verbot der Marktmanipulation“ bezeichnet – in § 20a i.V.m. §§ 38, 39 WpHG für eine Kombination von Kriminalstrafen und Bußgeldern entschieden. Der Tatbestand des § 20a WpHG, der das Verbot der Kurs- und Marktpreismanipulation in § 88 BörsG a.F. abgelöst hat, unterscheidet in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der vorstehend erwähnten Dreiteilung zwischen (i) informations- und (ii) handelsgestützten Marktmanipulationen sowie (iii) sonstigen Täuschungshandlungen. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen safe harbours stellen zulässige Marktpraktiken, der Handel mit eigenen Wertpapieren im Rahmen von Rückkaufprogrammen und Maßnahmen zur Stabilisierung der Preise von Finanzinstrumenten keine Verstöße gegen das Manipulationsverbot dar, soweit sie sich im Rahmen der gemeinschaftsrechtlich gezogenen Grenzen halten. Die Marktmanipulations-Konkretisierungs-Verordnung vom 1.3.2005 verdeutlicht und ergänzt den Tatbestand des § 20a WpHG. In Gegensatz zum US-amerikanischen Recht lassen sich aus einem Verstoß gegen das kapitalmarkrechtliche Manipulationsverbot als solchem keine zivilrechtliche Ansprüche ableiten, da die Vorschrift nach herrschender, wenn auch umstrittener Ansicht kein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB ist, sondern lediglich einen allgemeinen Funktionsschutz bezweckt. Geschädigte Anleger bleiben für Schadensersatzansprüche auf § 826 BGB verwiesen, und müssen dafür das Vorliegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch den Manipulanten nachweisen.
c) IOSCO
Wie der knappe rechtsvergleichende Überblick zeigt, kennen die nationalen Rechte zwar durchweg Verbote der Marktmanipulation, diese sind jedoch hinsichtlich ihrer Reichweite und Sanktionierung unterschiedlich ausgestaltet. Eine international vereinheitlichte Praxis hat sich diesbezüglich bislang nicht herausgebildet. Allenfalls einen ersten, wenn auch wichtigen Schritt in diese Richtung stellt der Bericht des Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions (IOSCO), “Investigating and Prosecuting Market Manipulation”, vom Mai 2000 dar, der auf umfassender rechtsvergleichender Grundlage eine Analyse der international verbreiteten Manipulationstechniken erstellt und einige allgemein gehaltene Empfehlungen zu deren Bekämpfung ausspricht. Von besonderem Interesse war dabei die Etablierung von Mindeststandards und Verfahren, die eine internationale Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Marktmanipulationen ermöglichen sollen. Mit den Aktivitäten der IOSCO korrespondierten Bemühungen auf europäischer Ebene.
3. Genese und zentrale Elemente des Regelwerkes „Marktmissbrauch/ Marktmanipulation“
a) Genese
Die Europäische Kommission hat das Thema Marktmanipulation erstmals gezielt in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung des Finanzmarktrahmens (Financial Services Action Plan) aus dem Jahr 1999 aufgegriffen. Im Zusammenhang damit setzte das Forum of European Securities Commissions (FESCO) eine Expertengruppe ein, die im Sommer 2000 einen ersten Bericht vorlegte, der angesichts der bis dahin zersplitterten und wenig effektiven Bekämpfung der Marktmanipulation in den einzelnen Mitgliedstaaten ein gemeinsames Vorgehen auf der Grundlage übereinstimmender Standards innerhalb der EU als zwingend erforderlich empfahl. In einer Reihe weiterer Berichte zunächst der FESCO und dann des Committee of European Securities Regulators (CESR), das als unabhängiger Ausschuss der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörden im Jahr 2002 die Aufgaben der FESCO übernommen hatte, wurden die Vorarbeiten für die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauchs-RL) vom 28.1. 2003 (RL 2003/6) geleistet.
b) Regulierungsarchitektur
Die Marktmissbrauchs-RL, die eines der zentralen Anliegen des Aktionsplanes war, hat sowohl eine (Neu‑)Regelung der Insidergeschäfte (einschließlich der ad hoc-Publizität) als auch der Marktmanipulation zum Gegenstand. Sie ist eine der ersten Richtlinien, die nach den Vorgaben des im Jahr 2002 eingeführten vereinfachten Rechtsetzungsverfahrens, des sog. Komitologieverfahrens – auch, nach dem Vorsitzenden der Expertengruppe, die das Verfahren vorgeschlagen hatte, „Lamfalussy-Verfahren“ genannt –, zustande kam. Gemäß ihrem Charakter als Rahmenrichtlinie legt sie lediglich Grundprinzipien fest, während die technischen Einzelheiten auf der zweiten Stufe des Komitologieverfahrens in Form von Durchführungsmaßnahmen geregelt werden. Die Kommission hat in den Jahren 2003 und 2004 drei derartige Durchführungsrichtlinien (RL 2003/124, RL 2003/125, RL 2004/72) erlassen, denen jeweils wiederum Vorarbeiten des CESR zugrunde lagen. Die drei Durchführungsrichtlinien werden durch die Verordnung der Kommission vom 22.12.2003 zur Durchführung der Marktmissbrauchs-RL (VO 2273/2003) ergänzt, welche in Auslegung des Art. 8 der Richtline die für die Praxis wichtigen Ausnahmeregelungen vom Manipulationsverbot für Rückkaufprogramme für eigene Wertpapiere und Kursstabilisierungsmaßnahmen festlegt (safe harbours). Auf der dritten Ebene des Komitologieverfahrens interpretieren (bislang) drei Ausgaben von Leitlinien der CESR aus den Jahren 2004 (zur Marktmanipulation, CESR/04-505b), 2007 (zu Insider-Geschäften) und 2008 (zur Umsetzung der Richtlinie) das vorstehende Regelwerk.
c) Zentrale Regelungselemente
Das komplexe Regulierungsregime „Marktmissbrauch/Markmanipulation“ zielt auf die Schaffung eines gemeinschaftlichen Rechtsrahmens zum Schutz der Marktintegrität und der Sicherung des Anlegervertrauens (Erwägungsgründe 11 u. 12 Marktmissbrauchs-RL. Gemäß Art. 5 Marktmissbrauchs-RL haben die Mitgliedstaaten „jedermann [zu untersagen], Marktmanipulation zu betreiben“. Weitere Vorschriften geben den Mitgliedstaaten auf, für die Einrichtung der erforderlichen institutionellen Vorgaben Sorge zu tragen. Auf die zentrale Frage, was der europäische Normsetzer unter „Marktmanipulation“ versteht, findet sich in dem Regelwerk eine komplizierte, auf die drei Regulierungsebenen verteilte Antwort. Im Rahmen der allgemeinen Begriffsdefinitionen in Art. 1 Marktmissbrauchs-RL werden in dessen Abs. 2 zunächst drei unterschiedliche Verhaltensweisen in Form von „Basisdefinitionen“ als manipulativ qualifiziert: (i) Geschäfte (oder Aufträge), die potentiell falsche oder irreführende Signale für Angebot, Nachfrage oder die Kurse von Finanzinstrumenten geben oder ein anormales oder künstliches Kursniveau herbeiführen, soweit nicht im Einzelfall ein legitimes Interesse besteht und kein Verstoß gegen die am jeweiligen Markt zulässige Marktpraxis vorliegt; (ii) Geschäfte (oder Aufträge), die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder sonstiger Formen der Täuschung erfolgen; (iii) bewusste oder fahrlässige Verbreitung von Informationen, die falsche oder irreführende Signale geben (können). Es folgt ein knapper Beispielskatalog. Art. 4 und Art. 5 der RL 2003/124) enthält in Form eines weiteren, nicht abschließenden Beispielskatalogs zusätzliche Erläuterungen zu den Basisdefinitionen der Marktmanipulation in Art. 1(2) Marktmissbrauchs-RL. Der Vereinheitlichung der Aufsichtspraxis innerhalb der Gemeinschaft dient ferner ein nicht abschließender Katalog von Kriterien zur Beurteilung von Marktpraktiken in Art. 2 der RL 2004/72, die von den nationalen Behörden zu beachten sind. Zusätzlich liefern die Leitlinien der CESR von 2004 – wiederum in Form von Beispielen – Erläuterungen zur Veranschaulichung, welches einerseits zulässige Marktpraktiken und andererseits typischerweise unzulässige Manipulationspraktiken sind (CESR/04-505b).
In einem gewissen Gegensatz zu diesen Bemühungen, die tatbestandliche Seite der Marktmanipulation möglichst präzise zu erfassen, steht die knappe Regelung der Sanktionen in Art. 14 Marktmissbrauchs-RL. Danach haben die Mitgliedstaaten lediglich dafür zu sorgen, dass bei Verstößen gegen das Manipulationsverbot verhältnismäßige, aber ausreichend abschreckende Verwaltungsmaßnahmen ergriffen werden können, während es ihnen überlassen bleibt, zusätzlich Kriminalstrafen zu verhängen. Zur Frage eines zivilrechtlichen Schadensersatzes schweigt die Marktmissbrauchs-RL.
Insgesamt beeindrucken einerseits die Ausdifferenziertheit des Regelwerkes „Marktmissbrauch/Marktmanipulation“, dessen Flexibilität wie auch die Rückkoppelung an die Praxis, andererseits ist die Gefahr einer wachsenden Übernahme von Gesetzgebungstätigkeit durch die Exekutive und der damit verbundene Verlust demokratischer Kontrolle nicht zu übersehen, was auch im Zentrum der Diskussion um die Einführung des Lamfalussy-Verfahrens stand.
Literatur
Louis Loss, Fundamentals of Securities Regulation, 2. Aufl. 1988; Klaus J. Hopt, Bernd Rudolph, Harald Baum (Hg.), Börsenreform, 1997; Christian Altendorfer, Kursmanipulationen am Wertpapiermarkt, in: Joseph Aicher, Susanne Kalss, Martin Oppitz (Hg.), Grundfragen des neuen Börserechts, 1998, 207 ff.; Technical Committee of the International Organization of Securities Commissions, Investigating and Prosecuting Market Manipulation, 2000; Holger Fleischer, Empfiehlt es sich, im Interesse des Anlegerschutzes und zur Förderung des Finanzplatzes Deutschland das Kapitalmarkt- und Börsenrecht neu zu regeln, Kapitalmarktrechtliches Teilgutachten, Gutachten F., in: Deutscher Juristentag (Hg.), Gutachten F + G zum 64. Deutschen Juristentag Berlin 2002, 2002, F 1 ff.; Guido A. Ferrarini, The European Market Abuse Directive, Common Market Law Review 41 (2004) 711 ff.; Emilios E. Avgouleas, The Mechanics and Regulation of Market Abuse, 2005; Martin Oppitz, Kurspflege und Kursmanipulation, BankArchiv 53 (2005) 169 ff.; Jan Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation, 2006; Joachim Vogel, Vor § 20a, in: Heinz-Dieter Assmann, Uwe H. Schneider (Hg.), Wertpapierhandelsgesetz, 4. Aufl. 2006; Indre Waschkeit, Marktmanipulation am Kapitalmarkt, 2007.