Gläubigerverzug: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Martin Schmidt-Kessel

1. Gegenstand, Funktion und Terminologie

Unter Gläubigerverzug (mora creditoris) fassen viele kontinental europäische Rechtsordnungen Regeln zusammen, die von Seiten des Gläubigers verursachte Leistungsstörungen behandeln. Dabei ist der Gläubigerverzug überwiegend Leistungsstörungstyp, so dass sowohl Verhaltensanforderungen als auch Rechtsbehelfe wegen Verstoßes dagegen – Gläubigerfehlverhalten – geregelt werden.

Die Funktionen des Regelungsmodells Gläubigerverzug lassen sich in zwei große Gruppen aufteilen: Einerseits dienen dessen Regeln der Verteidigung des Schuldners gegen die Haftung für eine gläubigerseits bewirkte Nichterfüllung von Pflichten und gegen zusätzliche Aufwendungen für die Erfüllung, andererseits ermöglichen sie – beim gegenseitigen Vertrag – die Durchsetzung des Anspruchs auf die Gegenleistung unabhängig von der Leistung des Schuldners durch Überwindung der auf das Synallagma gestützten Einwendungen und Einreden; dementsprechend ist die praktische Bedeutung des Gläubigerverzugs bei Rechtsverhältnissen mit synallagmatischen Pflichten erheblich höher als bei einseitig verpflichtenden. Ein besonderes Interesse des Schuldners an der Erbringung der eigenen Leistung wird hingegen – durch den Gläubigerverzug überhaupt und im Übrigen in aller Regel – nicht geschützt.

Bemerkenswert und rechtsvergleichend betrachtet keine Selbstverständlichkeit ist der Umstand, dass das Fehlverhalten des Gläubigers überhaupt mit einem eigenen Rechtsinstitut verknüpft wird. Die Gründe für die Existenz des Rechtsinstituts liegen einerseits im Verständnis der Obligation als Grundkategorie der kontinentalen Leistungsstörungs- und Vertragsrechte: Sie ist mit der Vorstellung einer Durchsetzung des Geschuldeten in Natur verbunden und eignet sich daher nicht dafür, die an den Gläubiger gerichteten Erwartungen zu beschreiben, deren Durchsetzung in Natur in der Regel nicht im berechtigten Interesse des Schuldners liegt. Auch soweit – moderner – nicht in den Kategorien eines einheitlichen Forderungsrechts gedacht wird, passt das Arsenal der Rechtsbehelfe wegen Vertragsbruchs regelmäßig nicht zu einem Fehlverhalten des Gläubigers: Den Schutzzwecken der gegen ihn gerichteten Erwartungen werden diese Rechtsbehelfe (insbesondere Erfüllungszwang, Vertragsaufhebung und Schadensersatz) nur begrenzt gerecht. Zu den Gründen der Existenz des Gläubigerverzugs als eigenes Rechtsinstitut gehört daneben vermutlich auch das historische Bedürfnis, dem Schuldnerverzug aus Gründen der Symmetrie ein konstruktives Gegenstück gegenüberzustellen.

Gläubigerverzug geht in den einschlägigen Rechtsordnungen vielfach mit einer Verletzung der Gegenleistungspflicht einher. Das Verhältnis beider Normgruppen zueinander bleibt freilich regelmäßig offen, weil praktisch freie Konkurrenz zwischen den Rechtsbehelfen wegen Nichtzahlung und wegen Kooperationsdefiziten herrscht. Die von Art. 345 ADHGB für die Nichtabnahme der Kaufsache vorgesehene strikte Trennung beider Regime durch Vorrang des Selbsthilfeverkaufs vor dem Deckungsverkauf hat sich später nicht wiederholt.

Die Begrifflichkeit zur Beschreibung des Rechtsinstituts ist nicht völlig einheitlich. Wegen des – vor allem am Kauf orientierten – gesetzlich vorgesehenen Standardfalls der Nichtannahme einer angebotenen Leistung ist im deutschen Sprachraum vielfach von Annahmeverzug die Rede. Dem tatsächlich erheblich breiteren Anwendungsfeld der Regeln entsprechen die auf den Gläubiger zielenden Begriffe mora creditoris oder mora credendi, schuldeiserverzuim oder Gläubigerverzug. Den moderneren, nicht an Störungstypen, sondern einheitlichem Vertragsverletzungstatbestand und Rechtsbehelfen anknüpfenden Gestaltungen von Leistungsstörungsrechten (remedy approach) entspräche eine Bezeichnung als Gläubigerfehlverhalten mehr; sie ist jedoch nicht etabliert.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Der Gläubigerverzug ist in seiner heute in Europa üblichen Ausgestaltung eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts und einer ganzen Reihe europäischer Rechtsordnungen als Rechtsinstitut unbekannt. Die römischen Quellen enthalten keine systematisch geordnete Figur der mora creditoris sondern lediglich verschiedene Verweise auf die Rechtsfolgen einer auf den Gläubiger zurückzuführenden (per creditorem steterit) Störung. Spätere Entwicklungen beruhen wohl vor allem auf Symmetriedenken und dem Bedürfnis, der mora debitoris ein entsprechendes Institut gegenüber zu stellen.

In seiner heute verbreiteten Form mit der Verneinung einer Pflicht des Gläubigers zur Kooperation geht der Gläubigerverzug auf Josef Kohler zurück. Zentrale Gründe gegen die Kooperationspflicht sind der fehlende Wille des Gläubigers zur Unterwerfung unter eine Pflicht („Ich mache mich doch nicht zum Sklaven meines Schneiders“) sowie die Kündbarkeit von Verträgen nach Art. 1794 frz. Code civil, der Ursprungsnorm der freien Kündigungsrechte des Bestellers beim Werkvertrag und allgemeiner des Kunden von Dienstleistungen.

Die Auffassungen Kohlers haben sich zunächst – abgesehen von § 433 Abs. 2 BGB – im deutschen Recht durchgesetzt (§§ 293–296 BGB) und sind von dort aus schnell in den übrigen deutschsprachigen Rechtsordnungen sowie den Niederlanden rezipiert worden (Art. 6:58-73 BW; Art. 91–96 OR; in Österreich ohne Grundlage im Text des ABGB). Eine Rezeption erfolgte noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf der iberischen Halbinsel, in Italien und Griechenland sowie in vielen Staaten Osteuropas (vgl. etwa Art. 1206–1217 Codice civile; Art. 813–816 portug. Código civil; Art. 349–360 griech. ZGB; §§ 119–126 estnischer Law of Obligations Act). Auch in Belgien wird das Institut heute trotz fehlender Grundlage in der Kodifikation vielfach anerkannt. Keine Rezeption des Rechtsinstituts erfolgte hingegen in Frankreich sowie in den Jurisdiktionen des Common Law und Schottland, wobei sich dort vereinzelt auch heute noch Spuren früherer Formen der mora creditoris finden.

Aus dieser Rezeptionslage ergeben sich nur in Teilen funktionale Unterschiede: Die Verteidigung des Schuldners unter Berufung auf ein Fehlverhalten des Gläubigers ist – bei unterschiedlicher Konstruktion und Divergenzen in den Erwartungen an den Gläubiger im Einzelnen – überall möglich. Auch Hinterlegungs- respective Einlagerungsrechte sowie Verkaufsrechte sind flächendeckend bekannt, wobei bei letztern die Übergänge zum Deckungsgeschäft fließend sind und die Anwendungsbereiche bei ersteren hinsichtlich der Hinterlegungs- oder Einlagerungsfähigkeit erheblich divergieren. Die große funktionale Divergenz besteht bei der Durchsetzung der Gegenleistung: Der Gläubigerverzug überwindet das Synallagma und erlaubt dem Schuldner eine – vorübergehend vollständige oder zumindest teilweise, d.h. das Erfüllungsinteresse vollständig erfassende – Durchsetzung der Gegenleistung. Ohne die Sonderregeln des Gläubigerfehlverhaltes ist dieses Interesse nur im Wege des Schadensersatzes durchsetzbar, der für den Schuldner jedenfalls bei der Beweislastverteilung hinsichtlich des Schadensumfangs ungünstiger ist. Die Beschränkung des Schuldners auf den Schadensersatz insbesondere unter dem englischen Recht hat ihren Grund in der Sorge vor den einem Zwangsgeld ähnlichen Wirkungen: der Gläubiger könnte auf diese Weise mittelbar zur Kooperation in Natur gezwungen werden.

Zur modernen Struktur des remedy approach im Leistungsstörungsrecht passt der Gläubigerverzug nicht. Allerdings lassen sich die mit ihm verbundenen Fragen ohne weiteres in der modernen Systematik unterbringen: Für die Verteidigung des Schuldners genügt ein allgemeiner Einwand nach dem Vorbild von Art. 80 CISG oder Art. III.-3:101(3) DCFR und für die Vermeidung von Belastungen die allgemeine Schadensersatzhaftung wegen Vertragsbruchs. Hinterlegung und Verkaufsrechte bedürfen wegen der mit ihnen vielfach verbundenen Eingriffe in dingliche Rechtspositionen der gesonderten Regelung. Vor allem aber ist über eine Verallgemeinerung der bislang vor allem bei Dienstleistungen bekannten freien Kündigungsrechte des Gläubigers (s. etwa Art. 1794 frz. Code civil; § 649 BGB; Art. IV.C.-2:111 DCFR) nachzudenken; der Gläubiger könnte sich der Vertragsdurchführung entziehen, der Gegenleistungsanspruch des Schuldners bliebe im schutzwürdigen Umfang erhalten.

3. Ausgestaltung im Einzelnen

a) Erwartungen and den Gläubiger

Die klassische Erwartung an den Gläubiger im Rahmen des Gläubigerverzugs ist, dass er die ordnungsgemäß angebotene Leistung des Schuldners annimmt. Die – vor allem am Kauf orientierten – Voraussetzungen für das Entstehen der Annahmeerwartung, das Angebot in seinen verschiedenen Formen, lassen sich letztlich alle auf die Frage reduzieren, wie weit der Schuldner zumutbarer Weise dem Gläubiger entgegen kommen muss. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich regelmäßig aus dem Vertrag. Die vielfältigen überkommenen Reglungen über tatsächliches Angebot (Realoblation) und mündliches Angebot (Verbaloblation) enthalten insoweit lediglich die klassischen Vorbilder.

Von Anfang an erfasst der Gläubigerverzug in seiner modernen Gestalt über die Annahmeerwartungen hinaus sämtliche Kooperationserwartungen an den Gläubiger. Für diese weiteren Erwartungen passt jedoch der überkommene Angebotsmechanismus nicht. Voraussetzung für den Gläubigerverzug ist – den überkommenen Mechanismus verallgemeinernd – vielmehr, dass der Schuldner die Vertragsdurchführung so weit vorantreiben muss, bis die Kooperation des Gläubigers erforderlich wird. Die Kooperation wird vom Gläubiger jedenfalls dann erwartet, wenn die weitere Vertragsdurchführung ohne Kooperation ausgeschlossen ist. Umgekehrt muss sich der Gläubiger der Obstruktion enthalten. Weitergehende Kooperationserwartungen können sich aus den allgemeinen Mechanismen der Vertragsergänzung ergeben.

Für die dogmatische Einordnung der Mitwirkungserwartungen hat sich weitgehend die Figur der Obliegenheit etabliert, die von der Pflicht im Sinne der allgemeinen Vertragsbruchstatbestände unterschieden wird. Die Unterscheidung erfolgt weitgehend rechtsfolgenbezogen und überzeugt daher nur eingeschränkt. Richtiger erscheint es, die Schutzzwecklehren fruchtbar zu machen und in den einschlägigen Erwartungen Pflichten mit einem auf Verteidigung, Kosten und Gegenleistung beschränkten Schutzzweck zu sehen.

Ob sich der Gläubiger bei Verletzung der Kooperationserwartung entlasten kann, ist regelmäßig fraglich. Teilweise wird begrifflich-dogmatisch argumentiert, ohne Pflicht könne es kein Verschulden geben; ein Sachgrund für eine strikte Haftung des Gläubigers ergibt sich daraus aber nicht. Richtigerweise wird man erwägen müssen, die bisweilen aufzufindenden Entlastungsgründe (insbesondere das überraschende Angebot) zu einem allgemeinen Konzept zu erweitern, woran es bislang freilich fehlt.

b) Verteidigung des Schuldners

Ein schlichtes Kooperationsdefizit des Gläubigers befreit den Schuldner regelmäßig nicht von seiner Verbindlichkeit. Befreiung kann aber dann eintreten, wenn als dessen Folge ein dauerhaftes Leistungshindernis eintritt. Insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen kann dies bereits allein durch Zeitablauf geschehen. Zusätzlich wird in einer Reihe von Rechtsordnungen die Leistungsgefahr auf den unkooperativen Gläubiger überwälzt, so dass auch Störungen während eines anhaltenden Kooperationsdefizits ebenfalls zur Befreiung des Schuldners führen.

Praktisch bedeutsamer ist eine Reihe befreiender Rechtsbehelfe, die im Anschluss an Kohler teilweise als Erfüllungssurrogate eingeordnet werden. Die in historischen Quellen noch angesprochene Preisgabe, spielt dabei heute kaum noch eine Rolle. Wichtiger sind Verkaufsrechte und Hinterlegungs- respective Einlagerungsrechte: Die Verkaufsrechte sind als Ermächtigung zum Verkauf für Rechnung des Gläubigers konstruiert und sind praktisch vor allem dort von Bedeutung, wo der Schuldner – wie beim Transportvertrag oder anderen Verwahrungssituationen – durch eine Vertragsbeendigung keine Berechtigung zum Deckungsverkauf begründen kann. Die Hinterlegungs- und Einlagerungsrechte sind sowohl hinsichtlich der erfassten Gegenstände, als auch hinsichtlich der Hinterlegungsvoraussetzungen, als auch hinsichtlich der Wirkungen sehr unterschiedlich konstruiert; funktional geben sie dem Schuldner jedoch alle ein Verteidigungsrecht. Die Vertragsaufhebung allein wegen mangelnder Kooperation steht dem Schuldner hingegen in vielen Rechtsordnungen nicht zur Verfügung. Allerdings wird regelmäßig die auf die Erbringung der Gegenleistung gerichtete Pflicht verletzt sein, so dass funktional kein schwerwiegender Unterschied besteht.

Hinzu kommt die Suspendierung einer Reihe von Gläubigerrechten aufgrund der fehlenden Kooperation: In aller Regel ist – auch ohne dass dies immer ausdrücklich angeordnet wäre – die Durchsetzung des Erfüllungsanspruchs im Vollstreckungswege und teilweise auch schon eine Verurteilung zur Erfüllung in Natur so lange ausgeschlossen, wie der Gläubiger nicht kooperiert. Ebenfalls ausgeschlossen sind der Verzug des Schuldners sowie das Entstehen von Vertragsstrafeansprüchen. Außerdem kann der Gläubiger in aller Regel nicht wegen des auf ihn zurückzuführenden Ausbleibens der schuldnerischen Leistung den Vertrag aufheben; letztere Regel ist freilich nur selten explizit festgeschrieben und wird teilweise auf den als allgemeinen Rechtsgrundsatz entwickelten tu quoque-Einwand gestützt.

c) Eigene Rechte des Schuldners

Eine Durchsetzung der Kooperation in Natur ist mit der Konzeption des Gläubigerverzugs gerade ausgeschlossen. Das hindert freilich nicht, dass die Durchsetzung im Einzelfall gleichwohl möglich ist, weil eine echte Rechtspflicht angenommen wird. In der Regel wird es dafür aber am berechtigten Interesse des Schuldners fehlen.

Der Gläubigerverzug ermöglicht zudem die Durchsetzung des Anspruchs auf die Gegenleistung. Das gilt vor allem für die Überwindung der verschiedenen zum Schutz des funktionellen Synallagma etablierten Einwendungen und Einreden. In den meisten einschlägigen Rechtsordnungen schließt der Gläubigerverzug bereits die Einrede des nichterfüllten Vertrags als solche aus; allein das deutsche Recht verschiebt diesen Ausschluss formal in die Zwangsvollstreckung, während funktional über die Feststellung des Gläubigerverzugs ebenfalls eine uneingeschränkte Verurteilung bereits im ursprünglichen Erkenntnisverfahren möglich ist. Vorleistungspflichten des Schuldners überwindet der Gläubigerverzug selbst hingegen grundsätzlich nicht; hier helfen die Rechtsordnungen teilweise mit anderen Mitteln. Der Übergang der Gegenleistungsgefahr gehört wiederum zu den typischen Rechtsfolgen des Gläubigerverzugs, ohne dass ihm allzu große praktische Bedeutung zukäme.

Wegen der Verneinung des Pflichtencharakters der an den Gläubiger gerichteten Verhaltenserwartungen steht dem Schuldner der allgemeine Schadensersatz wegen Vertragsverletzung in der Regel nicht zur Verfügung. Vorhandene Ansprüche zielen jedoch auf den Ausgleich etwaiger Mehraufwendungen. Eine Abrechnung des gesamten Vertrags im Wege des Schadensersatzes ist dem Schuldner nur dann möglich, wenn der Gläubiger außerdem die Pflicht zur Gegenleistung verletzt. Dieser Anspruch beruht dann aber nicht auf dem Gläubigerverzug.

4. Regelungsansätze im Gemeinschaftsrecht

Das Gemeinschaftsrecht behandelt den Gläubigerverzug und seine Funktionsäquivalente bislang stiefmütterlich und nur in wenigen Einzelaspekten. So enthält etwa die Zahlungsverzugs-RL (RL 2000/‌35) einen Ausschluss der Verzugsfolgen, wenn die Zahlungsverzögerung am Gläubiger gelegen hat. Auch in der Pauschalreise-RL (RL 90/‌314) finden sich entsprechende Haftungsausschlüsse. Praktische Fälle ließen sich im Übrigen wohl mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verbot des Rechtsmissbrauchs lösen, etwa auch die Verzögerung des Gefahrübergangs nach der Verbrauchsgüterkauf-RL (RL 1999/‌44), für die Art. 23(2) Vorschlag zur Horizontal-RL Verbraucherschutz (Verbraucher und Verbraucherschutz) nunmehr eine ausdrückliche Regelung vorsieht.

Während es sich bei diesen Punkten im Wesentlichen um Verteidigungsrechte des Schuldners handelt, fehlt es bislang – jenseits der genannten Gefahrtragungsregel – an Ansätzen für einen Schutz des Interesses des Schuldners an der Gegenleistung. Angesichts der divergierenden Auffassungen um deren Durchsetzbarkeit ist dies freilich auch nicht weiter verwunderlich.

5. Regelungsstrukturen des Einheitsrechts

Das Einheitsrecht kennt den Gläubigerverzug als eigene Rechtsfigur nicht, wohl aber eine Reihe von funktionsäquivalenten Regelungen. Insbesondere enthält Art. 80 CISG (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) eine den Schuldner schützende Generalklausel, über deren mögliche Offensivwirkungen (durch Ausschluss von Einwendungen und Einreden) bislang keine Klarheit besteht. Die Art. 85–88 CISG regeln zudem sowohl den Sorgfaltsstandard bei nicht abgenommener Ware als auch die Rechtsbehelfe der Einlagerung und des Selbsthilfeverkaufs. Art. 69 CISG begründet den Gefahrübergang bei nicht rechtzeitiger Übernahme der Kaufsache.

Wenig klar ist die Durchsetzbarkeit der Gegenleistung. Teilweise wird hier die Auffassung vertreten, Art. 28 CISG gelte auch für diese. Damit würden allerdings die Divergenzen der nationalen Rechtsordnungen in hohem Maße in die Konvention hineingespiegelt. Eine vielfach vertretene Gegenauffassung will daher Art. 28 CISG nicht auf den Entgeltanspruch anwenden und entnimmt der Konvention selbst eine – an den Regelungen zum Gläubigerverzug orientierte – eigene Lösung.

6. Vereinheitlichungsprojekte

Von den verschiedenen europäischen Projekten der Vertragsrechtsvereinheitlichung kennt allein der Code Européen des Contrats (Avant‑projet) Vorschriften über den Gläubigerverzug. Hingegen weisen die PECL und der Draft DCFR – wie das UN-Kaufrecht (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) – jeweils eine ganze Reihe von Elementen auf, die typischerweise mit dem Konzept des Gläubigerverzugs verbunden sind. Dazu zählen die Verteidigungsgeneralklausel, Art. 8:101(3) PECL und Art. III.-3:101(3) DCFR, und die Regeln zu Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf, Art. 7:109, 7:110 PECL und Art. III.-2:111, III.-2:112 DCFR. Der DCFR enthält zudem eine Regelung der Auswirkungen auf die Gefahrtragung in Art. IV.A.-5:103(2), IV.A.-5:201 DCFR sowie zum freien Kündigungsrecht des Empfängers einer Dienstleistung in Art. IV.C.-2:111 DCFR.

In der funktional entscheidenden Frage der Durchsetzbarkeit der Gegenleistung gehen Art. 9:101(2) PECL und Art. III.-3:301(2) DCFR freilich den der zentralen Funktion des Gläubigerverzugs genau entgegengesetzten Weg: Der Anspruch auf die Gegenleistung wird als ausgeschlossen vorausgesetzt und – abgesehen vom stillschweigend mitgedachten Fall der Gefahrtragung – nur gewährt, wenn der Schuldner seine Leistung gleichwohl erbringt und dies vor allem im Blick auf mögliche Deckungsgeschäfte nicht unvernünftig ist. Art. 7.2.1 UNIDROIT PICC enthält diese Einschränkung hingegen nicht.

Literatur

Josef Kohler, Annahme und Annahmeverzug, Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 17 (1879) 261 ff.; Josef Kohler, Der Gläubigerverzug, Archiv des Bürgerlichen Rechts 13 (1897) 149 ff.; Matthias E. Storme, De invloed van de goede trouw op de kontraktuele schuldvorderingen: Een onderzoek betreffende rechtsgrondslag, tekortkoming en rechtsverwerking bij overeenkomsten, 1990; Martin Schmidt-Kessel, Rechtsmißbrauch im Gemeinschaftsprivatrecht, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2000, 2001, 61 ff.; Antoni Vaquer, Tender of Performance, Mora Creditoris and the (Common?) Principles of European Contract Law, Tulane European and Civil Law Forum 2002, 83 ff.

Abgerufen von Gläubigerverzug – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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