Vergaberecht: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:08 Uhr

von Heike Schweitzer

1. Begriff und Funktion

Das Vergaberecht regelt das Verhalten des Staates und anderer öffentlicher Auftraggeber, die sich Güter und Dienstleistungen auf Märkten beschaffen. Das Nachfrageverhalten der öffentlichen Hand weist gegenüber dem Nachfrageverhalten privater Unternehmen Besonderheiten auf, die sich aus ihrer allgemeinen Verpflichtung auf öffentliche Ziele sowie aus dem marktunabhängigen Zugang zu Finanzmitteln ergeben.

Das mitgliedstaatliche Recht hat herkömmlich die Verfolgung öffentlicher Ziele in der Auftragsvergabe respektiert und Regeln über die Durchführung eines Vergabewettbewerbs allein zur Gewährleistung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Verwaltungshandelns und zur Verhinderung von Korruption entwickelt. Erhebliche Unterschiede bestehen in der einzelstaatlichen Ausgestaltung des Vergabewesens. Einige Mitgliedstaaten (z.B. Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal) ordnen das Vergabeverfahren samt Vertragsschluss traditionell dem öffentlichen Recht zu. Hieraus folgte die Bindung an die Grundrechte einschließlich des Gleichbehandlungsgebots. In anderen Mitgliedstaaten (u.a. Deutschland, Niederlande, Großbritannien, Irland, skandinavische Länder) wird die Auftragsvergabe, soweit die Außenbeziehungen betroffen sind, als Teil des Privatrechts gesehen (siehe für das deutsche Recht BVerwG 2.5.2007, NJW 2007, 2275, Rn. 6 f.). Der Zuschlag gilt als privatrechtliche Willenserklärung zum Abschluss eines privatrechtlichen Vertrags. Die herkömmlichen Regeln zum Vergabeverfahren waren als Teil des Haushaltsrechts zwar öffentliches Recht; als reines Binnenrecht ohne Wirkung im Außenverhältnis gegenüber den Bietern hatten sie nach st. Rspr. jedoch keine individualschützende Funktion (für Auftragsvergaben unterhalb der im EG-Vergaberecht vorgeschriebenen Schwellenwerte weiterhin in diesem Sinne: BVerfG, 13.6.2006, NJW 2006, 3701, Rn. 57; BVerwG 2.5.2007, NJW 2007, 2275, Rn. 11 f.).

Das Gemeinschaftsrecht erfasst das Beschaffungsverhalten der öffentlichen Hand dagegen primär unter dem Gesichtspunkt der Grundfreiheiten. Den aus diesen folgenden subjektiven Rechten der Einzelnen entspricht ein öffentliches Interesse an der Verwirklichung des Binnenmarkts: EG-Vergaberecht ist primär Marktöffnungsrecht. Es soll der verbreiteten Bevorzugung heimischer Bieter und den damit einhergehenden protektionistischen Tendenzen der Auftragsvergabe entgegentreten und unverfälschten Wettbewerb herstellen.

Neben den Grundfreiheiten können auch die EG-Wettbewerbsregeln (Wettbewerbsrecht, internationales) einschlägig sein: in bestimmten Märkten – etwa im Bausektor oder bei infrastrukturellen Einrichtungen – verfügt der Staat regelmäßig über Nachfragemacht. Allerdings wird der Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln auf den Staat unter diesem Gesichtspunkt durch das FENIN-Urteil (EuG Rs. T-319/99, Slg. 2003, II-357, insb. Rn. 37; bestätigt durch EuGH Rs. C-205/03 P – FENIN, Slg. 2006, I-6295) erheblich eingeschränkt.

2. Das Vergaberecht der EG

a) Die Grundfreiheiten als Grundlage des EG-Vergaberechts

Unmittelbar aus den Grundfreiheiten folgt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge von potentiell grenzüberschreitendem Interesse jegliche Diskriminierung zu vermeiden, alle Regeln oder Praktiken der öffentlichen Beschaffung, die den grenzüberschreitenden Verkehr beschränken, zu beseitigen und echten, unverfälschten Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu ermöglichen. Hieraus ergeben sich nach st. Rspr. des EuGH auch verbindliche Vorgaben für die Gestaltung von Vergabeverfahren, insbesondere ein Gleichbehandlungs- und ein Transparenzgebot (EuGH Rs. C-324/98 – Telaustria, Slg. 2000, I-10745, Rn 60 f.; EuGH Rs. C-231/03 – Coname, Slg. 2005, I-7287, Rn. 17 ff.; EuGH 17.7.2008 Rs. C-347/06 – ASM Brescia SpA, Rn. 57 ff., EWS 2008, 383).

Die primärrechtlichen Vorgaben belassen den öffentlichen Auftraggebern weite Ermessensspielräume. Um eine wirksamere Marktöffnung zu erreichen, hat die Gemeinschaft deshalb auf der Grundlage von Art. 95 EG/114 AEUV die Vergaberichtlinien erlassen, welche die Verhaltenspflichten öffentlicher Auftraggeber für Aufträge, die oberhalb bestimmter Schwellenwerte liegen, konkretisieren und ausgestalten (s.u.). Die Grundfreiheiten bleiben aber unmittelbar erheblich für die Vergabe von Aufträgen, die nicht in den Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien fallen, etwa weil sie unterhalb der einschlägigen Schwellenwerte liegen oder weil sie nicht von der Definition eines „öffentlichen Auftrags“ erfasst sind (z.B. Dienstleistungskonzessionen). Die für die Vergabe solcher Aufträge maßgeblichen Grundsätze hat die Kommission in einer Mitteilung zusammengefasst (ABl. 2006 C 179/2).

b) Die materiellen Vergaberichtlinien

Die erste Vergaberichtlinie betreffend das Vergabeverfahren für öffentliche Bauaufträge hat die EG bereits 1971 erlassen, gefolgt von einer Richtlinie für öffentliche Lieferaufträge im Jahr 1976. Da eine wirksame Öffnung nationaler Vergabemärkte ausblieb, wurden die Vergaberichtlinien mehrfach reformiert. Heute ist das sekundäre Vergaberecht der Gemeinschaft in zwei Richtlinien zusammengefasst:

(1) RL 2004/18 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge, Dienstleistungsaufträge und Bauaufträge

(2) RL 2004/17 zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (sog. Sektoren-RL), welche das Vergaberegime in den genannten Sektoren in modifizierter Form auch auf private Auftraggeber erstreckt, sofern diese Tätigkeiten auf der Grundlage besonderer oder ausschließlicher Rechte ausüben.

Um die Chancengleichheit aller Bieter herzustellen und eine Bevorzugung heimischer Bieter auszuschließen, verpflichten diese Richtlinien Auftraggeber innerhalb ihres Anwendungsbereichs auf das Wirtschaftlichkeitsprinzip. Die Kontrolle privater Auftraggeber durch Markt und Wettbewerb wird für öffentliche Auftraggeber und Sektoren-Auftraggeber durch ein stark reguliertes Verfahren mit weitreichenden Publizitäts- und Transparenzpflichten ersetzt.

Die Beachtung der Vorgaben der Vergaberichtlinien ist mit erheblichen Kosten verbunden und beschränkt die Flexibilität und das Ermessen, welche private Unternehmen in ihrem Beschaffungsverhalten für sich in Anspruch nehmen können. Der Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien ist daher sowohl in persönlicher als auch sachlicher Hinsicht auf diejenigen Fallkonstellationen begrenzt, in denen eine regulatorische Verhaltenskontrolle zur Herstellung eines offenen, unverfälschten grenzüberschreitenden Vergabewettbewerbs in besonderem Maße geboten erscheint. Der persönliche Anwendungsbereich der Vergaberichtlinie für Liefer-, Dienstleistungs- und Bauaufträge ist auf „öffentliche Auftraggeber“ beschränkt, d.h. auf den Staat, Gebietskörperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts, und damit auf Auftraggeber, deren Beschaffungsverhalten angesichts einer besonderen Verpflichtung auf das öffentliche Interesse und des Zugangs zu staatlichen Mitteln nicht den Gesetzmäßigkeiten des Marktes unterliegt. Der Anwendungsbereich der Sektoren-RL wird unter diesem Gesichtspunkt auf staatsnahe, wenngleich ggfs. private Auftraggeber erstreckt, denen besondere oder ausschließliche Rechte eingeräumt sind. Der sachliche Anwendungsbereich der Sektoren-RL ist tätigkeitsbezogen definiert: erfasst werden Aufträge, die der Durchführung einer der in Art. 3-7 aufgeführten Tätigkeiten dienen. Der sachliche Anwendungsbereich der Vergaberichtlinie für Liefer-, Dienstleistungs- und Bauaufträge erstreckt sich auf alle schriftlichen entgeltlichen Verträge zwischen einem öffentlichen Auftraggeber und einem Unternehmen, die einem der genannten Vertragstypen zuzuordnen sind und oberhalb der in der Richtlinie angegebenen Schwellenwerte liegen. Unterhalb dieser Schwellenwerte erscheinen die mit der intensiven Verhaltensregulierung verbundenen Kosten nicht gerechtfertigt. Vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind ferner Leistungen, die der Auftraggeber selbst mit eigenen Mitteln erbringt. Die Entscheidung über die Reichweite vertikaler Integration ist mithin der öffentlichen Hand vorbehalten. Der EuGH hat diese Fallgruppe auf Leistungen erstreckt, die der Auftraggeber unter Einschaltung einer weiteren Rechtsperson erbringt, wenn der Auftraggeber über diese eine Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle ausübt und wenn die Rechtsperson zugleich ihre Tätigkeit im wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber erbringt (sog. in-House-Verträge – siehe EuGH Rs. C-107/98 – Teckal, Slg. 1999, I-8121, Rn. 50; EuGH Rs. C-26/03 – Stadt Halle, Slg. 2005, I-1, Rn. 49; EuGH Rs. C-295/05 – Asemfo/Tragsa, Slg. 2007, I-2999, Rn. 55 u.a.).

Für alle in den Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien fallenden Aufträge gilt das dort normierte Vergabeverfahren, welches in drei je gesondert geregelte Phasen gegliedert ist: die öffentliche Ausschreibung des Auftrags, die potentiellen Bietern alle Informationen übermitteln soll, die für die Erstellung eines Angebots notwendig sind; die Eignungsprüfung bzw. gegebenenfalls Auswahl der Bewerber, mit der die fachliche Eignung und Leistungsfähigkeit der Bewerber ermittelt werden soll; und die Zuschlagsentscheidung. In allen Phasen geht es im Ergebnis darum sicherzustellen, dass Vergabeverfahren auf der Grundlage transparenter, objektiver und nachprüfbarer Kriterien durchgeführt werden.

c) Zuschlagskriterien und die Berücksichtigung von Sekundärzielen

Die praktisch wichtigste Entscheidung des Vergabeverfahrens ist der Zuschlag, mit welchem der öffentliche Auftraggeber die Entscheidung für ein bestimmtes Angebot trifft. Die Willkür- und Diskriminierungsfreiheit dieser Entscheidung zu gewährleisten, ist ein zentrales Anliegen des EG-Vergaberechts. Unter diesem Gesichtspunkt verpflichten die Vergaberichtlinien den öffentlichen Auftraggeber konsequent auf ein Wirtschaftlichkeitskriterium, welches in zwei verschiedenen Ausprägungen Maßstab der Zuschlagsentscheidung sein kann (Art. 53 RL 2004/18): Der Auftraggeber kann sich alternativ für einen Zuschlag nach dem Kriterium des niedrigsten Preises oder nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots entscheiden. Im ersten Fall ist der Bieterwettbewerb auf einen Preiswettbewerb reduziert. Im zweiten Fall kann der Auftraggeber auch andere durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigte Kriterien berücksichtigen, deren Inhalt und Gewichtung er allerdings vorab offenzulegen hat. Art. 53 nennt in einer nicht abschließenden Aufzählung unter anderem Qualität, Ästhetik, Zweckmäßigkeit, Umwelteigenschaften und Kundendienst. Im Ergebnis muss es aber stets um die Ermittlung des „wirtschaftlich günstigsten“ Angebots gehen. Die Kriterien müssen ferner einen Angebotsvergleich auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte ermöglichen.

Zu den besonders umstrittenen Fragen des EG-Vergaberechts zählt, unter welchen Voraussetzungen ein öffentlicher Auftraggeber bei der Vergabeentscheidung auch andere, ihrer Art nach gesamtwirtschaftliche bzw. gesamtgesellschaftliche Gesichtspunkte – etwa einen besonderen Beitrag zu Umweltschutz oder Sozialpolitik oder besondere Verpflichtungen auf die Einhaltung von Menschenrechten – berücksichtigen darf (sog. vergabefremde Zwecke). Der EuGH hat sich mit dieser Frage in mehreren Einzelfällen befasst (insbes. EuGH Rs. 31/87 – Beentjes, Slg. 1988, 4635; EuGH Rs. C-225/98 – Nord-Pas-de-Calais, Slg. 2000, I-7445; EuGH Rs. C-513/99 – Concordia Bus, Slg. 2002, I-7213). In zwei Mitteilungen hat die Kommission versucht, aus dieser Rspr. allgemeine Handlungsanweisungen zu entnehmen (Mitteilung zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Auftragsvergabe, KOM (2001) 566 endg.; und Mitteilung zur Berücksichtigung von Umweltbelangen, ABl. 2001 C 333/13). Ihre Ansicht, dass die Phase der Auftragsausführung nicht mehr in den Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien falle, hat sich nunmehr in Art. 26 RL 2004/18 niedergeschlagen, derzufolge ein öffentlicher Auftraggeber „zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrages“ vorschreiben kann, sofern sie mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und in der Bekanntmachung oder den Bedingungsunterlagen angegeben sind. Die Bedingungen für die Ausführung des Auftrags können „insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte“ betreffen. Wann derartige Bedingungen mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, nämlich weder diskriminierend noch marktzugangsbeschränkend sind, ist damit allerdings nicht beantwortet.

d) Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für Rechtsdurchsetzung und Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten

Die aus dem EG-Vergaberecht folgenden Pflichten der Auftraggeber blieben wirkungslos, wenn nicht eine wirksame Durchsetzung gewährleistet wäre. Zu unterscheiden sind die öffentliche Durchsetzung (public enforcement) im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens und die private Durchsetzung durch die in ihren Interessen negativ betroffenen Bieter und Bewerber (private enforcement). Beide Dimensionen der Rechtsdurchsetzung sind in jüngerer Zeit konkretisiert worden und haben dabei an Schärfe gewonnen.

Mit Blick auf die öffentliche Durchsetzung hat der EuGH festgestellt, dass ein Mitgliedstaat, der entgegen den Vorgaben der Vergaberichtlinien einen öffentlichen Auftrag nicht ausgeschrieben hat, bei Feststellung eines solchen Verstoßes in einem Vertragsverletzungsverfahren einen in der Folge des Gemeinschaftsrechtsverstoßes geschlossenen und noch nicht vollständig erfüllten Vertrag kündigen muss; denn die Vertragsverletzung besteht während der gesamten Dauer der Erfüllung eines solchen Vertrages fort (EuGH Rs. C-503/04 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6153, Rn. 29). Gegenüber dieser Kündigungspflicht können sich die Mitgliedstaaten nicht auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie auf den Grundsatz pacta sunt servanda berufen (ebenda, Rn. 36, 38).

Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der privaten Rechtsdurchsetzung und des dazugehörigen Sanktionensystems obliegt grds. den Mitgliedstaaten, die allerdings auch insoweit an den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz gebunden sind: Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht müssen in grds. vergleichbarer Weise geahndet werden wie Verstöße gegen nationales Recht; und die Mitgliedstaaten müssen tatsächlich abschreckende und angemessene Sanktionen bereitstellen, die eine effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gewährleisten. Die Rechtsmittelrichtlinien RL 89/665 und RL 92/13, beide geändert und verschärft durch RL 2007/66, konkretisieren diese allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und formulieren Mindestanforderungen an den mitgliedstaatlichen Rechtsschutz für die in ihren Interessen negativ betroffenen Bieter bzw. Bewerber. Sie verleihen damit der individualschützenden Zielsetzung der Vergaberichtlinien praktische Durchschlagskraft. Kern der Rechtsmittelrichtlinien ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verstöße gegen die Vergaberichtlinien bzw. gegen das diese umsetzende einzelstaatliche Recht wirksam und rasch nachgeprüft werden können. Ein Nachprüfungsverfahren muss jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Zu den Verstößen, gegen die in einem Nachprüfungsverfahren vorgegangen werden kann, zählen z.B. diskriminierende technische, wirtschaftliche oder finanzielle Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten oder Verdingungsunterlagen. Besondere Bedeutung kommt der Nachprüfung von Zuschlagsentscheidungen des öffentlichen Auftraggebers zu. Die RL 2007/ 66 schließt es in Übereinstimmung mit dem EuGH aus, die Zuschlagsentscheidung mit dem Vertragsschluss zu verbinden: Ein Vertragsschluss darf nunmehr nicht vor Ablauf einer Frist von mindestens zehn Kalendertagen erfolgen, gerechnet ab dem auf die Absendung der Zuschlagsentscheidung an Bieter und Bewerber folgenden Tag. Wird ein Nachprüfungsverfahren gegen eine Zuschlagsentscheidung eingeleitet, wird die Stillhaltefrist im Regelfall ausgedehnt, bis die Nachprüfungsstelle über den Antrag entschieden hat. Für die folgenden Fälle müssen die Mitgliedstaaten wirksame und abschreckende Sanktionen vorsehen: für den Verstoß gegen die Stillhaltegebote; und für den Fall einer rechtswidrig freihändigen Vergabe eines Auftrags ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der EU. Die RL 2007/66 schreibt in diesen Fällen nunmehr als Regelsanktion die Unwirksamkeit des Vertrages vor. Die Folgen der Unwirksamkeit richten sich nach einzelstaatlichem Recht. Im Einzelfall kommen alternative Sanktionen wie Geldbußen oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrages in Betracht. Die Zuerkennung von Schadensersatz genügt nicht.

3. Rückwirkungen in den Mitgliedstaaten

Das EG-Vergaberecht hat die Mitgliedstaaten zu einschneidenden Änderungen ihrer Vergaberechtsordnungen gezwungen. In Deutschland hat man insbesondere das aus den Rechtsmittelrichtlinien folgende Gebot der Gewährleistung eines wirksamen Individualrechtsschutzes nachhaltig bekämpft, weil es mit dem traditionellen haushaltsrechtlichen Verständnis des Vergaberechts unvereinbar war. Erst durch das zum 1.1.1999 in Kraft getretene Vergaberechtsänderungsgesetz und nach zwei Vertragsverletzungsverfahren wurde das deutsche Vergaberecht für Auftragsvergaben oberhalb der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Schwellenwerte den aus den Vergabe- und Rechtsmittelrichtlinien folgenden Anforderungen angepasst (nunmehr geregelt im 4. Teil des GWB). Weitere detaillierte Verfahrensvorschriften enthalten die Vergabeverordnung (VgV) und die Verdingungsverordnungen für Bauleistungen (VOB), für Leistungen (VOL) sowie für freiberufliche Leistungen (VOF).

Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte unterfallen nach deutschem Recht weiterhin nicht dem Anwendungsbereich des GWB-Vergaberechts und dem dort geregelten System des Individualrechtsschutzes. Hier besteht das haushaltsrechtliche Verständnis des Vergabeverfahrensrechts als Binnenrecht fort. Das BVerfG hat in einem Beschluss vom 13.6.2006 (BVerfGE 116, 135) zwar ein subjektives Recht jeden Bieters auf eine faire Chance bejaht, nach Maßgabe der für den spezifischen Auftrag wesentlichen Kriterien berücksichtigt zu werden. Gleichwohl hat es ein verfassungsrechtliches Gebot, besondere Vorkehrungen für einen wirksamen Primärrechtsschutz zu schaffen, verneint. Angesichts der potentiell gegenläufigen Interessen des Auftraggebers an einer zügigen Auftragsdurchführung und des erfolgreichen Bewerbers an alsbaldiger Rechtssicherheit sei der Gesetzgeber befugt, den erfolglosen Bieter regelmäßig auf einen Schadensersatzanspruch zu verweisen. Eine aus dem Verfassungsrecht folgende Pflicht, analog § 13 VgV erfolglose Bieter rechtzeitig vor Vertragsschluss über die Vergabeentscheidung zu informieren, gebe es nicht.

Demgegenüber hat die Europäische Kommission den Grundfreiheiten ein Gebot effektiven Primärrechtsschutzes für erfolglose Bieter entnommen, das auch unterhalb der Schwellenwerte gilt (Mitteilung zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschafts-Vergaberecht vom 1.8.2007, ABl. 2006 C 179/02). Deutschland hat gegen diese Mitteilung vor dem EuG Klage eingereicht (Rs. T-258/06; Klage der dt. Bundesregierung vom 14.9.2006, ABl. 2006 C 294/52).

Literatur

Gerhard Kunnert, WTO-Vergaberecht, 1998; Fritz Rittner, Öffentliches Auftragswesen und Privatrecht, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 152 (1988) 318 ff.; Sue Arrowsmith, Martin Trybus, Public Procurement: The Continuing Revolution, 2003; Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, Kap. 9; Jan Byok, Wolfgang Jäger, Kommentar zum Vergaberecht, 2. Aufl. 2005; Christopher Bovis, EC Public Procurement, 2006; Marc Bungenberg, Vergaberecht im Wettbewerb der Systeme, 2007; Martin Burgi, Von der Zweistufenlehre zur Dreiteilung des Rechtsschutzes im Vergaberecht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2007, 737 ff.; Meinrad Dreher, §§ 97 ff. GWB, in: Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2007.; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), Gutachten „Öffentliches Beschaffungswesen“ vom 12.5.2007; Alexander Egger, Europäisches Vergaberecht, 2008; Uwe Blaurock (Hg.), Der Staat als Nachfrager, 2008; Sue Arrowsmith, The Law of Public and Utilities Procurement, 2. Aufl. 2009; Sue Arrowsmith, Peter Kunzlik, Social and Environmental Policies in Public Procurement Law, 2009.

Abgerufen von Vergaberecht – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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